Ministerpräsident Viktor Orbán am 5. Juli bei seinem Sondierungsgespräch mit Präsident Wladimir Putin in Moskau. Foto: Ministerpräsidentenamt/ Vivien Cher Benko

Analyse: Die Friedensmission von Premier Orbán

Kiew, Moskau, Peking und Washington

Der ungarische Ministerpräsident verhandelte in den ersten Tagen der ungarischen Ratspräsidentschaft mit globalen Akteuren für den Frieden.

Der Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft erfolgte mit großem Elan und voller Überraschungen. Das Zepter gerade vom belgischen Ministerpräsidenten Alexander De Croo übernommen, begab sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sodann auf eine Friedensmission nach Kiew, Moskau und Peking.

Selenskyj, Putin, Erdoğan, Xi, Biden und Trump

Mit Selenskyj sprach der ungarische Premier mehrere Stunden unter vier Augen in englischer Sprache. Dem Vernehmen nach arrangierten die beiden erst vier Tage zuvor diese spontane Visite. Nach seinem wöchentlichen Radio­interview am Freitagmorgen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk flog Viktor Orbán dann in die russische Hauptstadt, wo er eine etwa dreistündige bilaterale Unterredung mit Wladimir Putin hatte. Dieser mit NATO-Generalsekretär Stoltenberg vorab abgestimmte Besuch wurde gerade einmal 48 Stunden vorher arrangiert – auf direktes Ersuchen der ungarischen Seite.

Nach einem Abstecher zum Rat der Turkvölker mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan landete der ungarische Ministerpräsident am 8. Juli in Peking, wo er mit dem chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping zusammentraf. Danach ging es unmittelbar zum Spitzentreffen der NATO-Länder nach Washington, dem sich noch ein Treffen mit dem ehemaligen und wohl auch zukünftigen US-Präsidenten Donald Trump auf dessen Anwesen in Florida anschloss.

Globale Handlungsfähigkeit zurückerlangen

Immer wieder unterstrich der ungarische Ministerpräsident, dass der Krieg in der Ukraine mit einem Waffenstillstand und einem Verhandlungsfrieden zu beenden sei. Europa müsse die Initiative ergreifen, um seine globale Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen. Der alte Kontinent dürfe nicht zum Spielball von anderen globalen Akteuren werden.

Außerdem verlören die Europäer bei diesem kriegerischen Konflikt sehr viel und würden den Preis des Krieges unter anderem durch Waffenlieferungen, die Aufnahme von Flüchtlingen und eine grassierende Inflation bezahlen. Europäische Spitzenpolitiker würden wenig für den Frieden tun und kaum die Initiative ergreifen. Der Frieden komme nicht von selbst, man müsse dafür große Anstrengungen unternehmen, die aber notwendig seien. Von nichts kommt nichts, so die ungarische Devise.

Die Europäer würden hingegen durch ständige Waffenlieferungen an die Ukraine auf eine weitere Verlängerung des kriegerischen Konflikts hinarbeiten und gebetsmühlenartig das Wunschdenken verbreiten, die Ukraine könne gewinnen. In Wahrheit könne jedoch keine Seite den Krieg für sich entscheiden, daher seien Verhandlungen der einzige Weg für eine Beendigung des Krieges, so die Argumentation der Ungarn.

Günstiges Zeitfenster

Die ungarische Einschätzung sei, dass Moskau noch mindestens vier bis fünf Jahre den Krieg weiterführen könne, da es über größere Ressourcen verfüge, die Wirtschaft schneller in eine Kriegswirtschaft überführen konnte sowie auf chinesische, iranische und nordkoreanische Unterstützung setzen kann. Das Bruttoinlandsprodukt Russlands sei nicht gleichzusetzen mit den Rüstungsproduktionskapazitäten. Trotz des kleineren nominalen Bruttoinlandsprodukts sei die Rüstungsproduktion in Russland und den hinter dem Land stehenden Verbündeten wesentlich größer als im Westen.

Zudem sei das Zeitfenster für ein souveränes Auftreten der Europäer im Sinne des Friedens gerade äußerst günstig. Wenn im November Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten gewählt würde, dann hätten die Europäer nichts mehr zu sagen, da der Neugewählte dem Vernehmen nach über die Köpfe der Ukrainer und Europäer hinweg direkt mit Wladimir Putin verhandeln werde.

Anders als die meisten europäischen Staatenlenker unterhält Viktor Orbán besonders gute Beziehungen zu Donald Trump, so dass dessen Präsidentschaft aus ungarischer Sicht keine Nachteile bringen würde. Daher gelte es für die Europäer unmittelbar jetzt, Verhandlungen zu führen und das Heft des Handels in die Hand zu nehmen. Der ungarische Ministerpräsident will dafür die notwendigen Impulse geben und Anreize setzen.

Kiew

In Kiew lotete der ungarische Ministerpräsident nach eigenem Bekunden aus, welche rote Linien es für die ukrainische Führung gebe. Er wollte den Präsidenten nicht überreden, sondern ihn bitten, seinen Standpunkt zu überdenken. Vielleicht müsse man die Reihenfolge verändern, nämlich erst Feuerpause und dann Friedensverhandlungen.

Das Auftreten der EU nach außen hänge von den großen Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien ab, so Orbán. Aus diesem Grunde habe er in diesen Ländern in den letzten Tagen von den Regierungschefs deren Standpunkte eingeholt. Orbán gestand ein, dass der ukrainische Präsident etwas reserviert auf die vorgeschlagene Waffenruhe reagiert hätte. Die bilateralen Unterredungen waren aber erfolgreich in der Hinsicht, dass sich die ukrainisch-ungarischen Beziehungen nun zum Besseren wenden.

Unter anderem sagte Orbán auf der gemeinsamen Pressekonferenz zu, eine oder sogar mehrere ukrainische Schulen für Flüchtlingskinder in Ungarn zu finanzieren – je nach Bedürfnissen der Ukrainer. Auch auf ukrainischer Seite gab es Bewegung in den strittigen Minderheitenfragen. Beide Seiten äußerten sich über die Begegnung sehr positiv.

Moskau

Viktor Orbán erklärte, dass heute nur noch wenige Staatsmänner in der Lage seien, sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine zu sprechen. Zweifelsohne gehört er zu ebenjenen Führungspersönlichkeiten. Auch Putin lehnte zwar eine Feuerpause erstmal ab, weil diese in seinen Augen die Ukraine für weitere Aufrüstung missbrauchen würde.

Er wertete die Reise von Viktor Orbán aber nicht nur als bilateralen Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten, sondern auch als Reise des Landes, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Noch unmittelbar vor dem Besuch wurde von ungarischer Seite ein Kommuniqué herausgegeben, das den bilateralen Charakter der Visite unterstrich. Orbán vermittelte gegenüber Putin den Standpunkt der Europäer und der Ukrainer sowie deren Bedingungen.

Besonders wichtig war es für den ungarischen Ministerpräsidenten, klar herauszufinden, wie rational der russische Präsident in diesen Angelegenheiten denke und handele. Der ungarischen Einschätzung zufolge sei Putin höchst rational, auch nach europäischen Maßstäben.

Peking

Der Besuch in Peking war auch deshalb enorm wichtig, da China einen großen Einfluss auf Russland ausüben kann und das Land ein relevanter globaler Player ist. In einer derart explosiven weltpolitischen Lage müsse auch mit denen, mit denen man nicht auf einer Plattform stünde, genauso viel, wenn nicht sogar mehr gesprochen werden als mit den eigentlichen Verbündeten.

Auch mit China ist es notwendig, den ständigen Dialog aufrechtzuerhalten und die Verbindungen nicht zu kappen, wie mit Russland. Es besteht die Gefahr, dass der chinesisch-taiwanesische Konflikt eskalieren könnte. Die Wirtschaftsbeziehungen mit China sind ungleich gewichtiger als die mit Russland. Viele globale Fragen wie Klimawandel, Mittlerer Osten, Afrika sind ohne China nicht zu lösen. Ohne China kann es in der Ukraine keinen Frieden geben.

Fazit

Unmittelbar nach Peking ging es dann zum NATO-Spitzentreffen in Washington. Auf dieser Sitzung gab es einen einzigen Staatsmann, der innerhalb einer Woche mit Selenskyj, Putin, Erdoğan und Xi gesprochen hatte. Dieser eine war Viktor Orbán. Nach eigenem Bekunden müssten eigentlich die großen Staaten die Rolle der Friedensmission einnehmen.

Der Ministerpräsident bekundete immer wieder seinen Willen, die europäischen Partner von seiner Mission nach Kiew, Moskau und Peking unterrichten zu wollen. Auch in Washington würde er gerne seine Erfahrungen mitteilen. Mit völligem Unverständnis wurden in Ungarn die Reaktionen der europäi­schen Spitzenpolitiker aufgenommen. Diese seien eigentlich die bezahlten Angestellten der europäischen Nationen, die Staats- und Regierungschefs die eigentlichen Entscheider. Schon allein aus diesem Grund müsse sich Viktor Orbán keine Erlaubnis für seine Verhandlungen einholen.

Der Autor ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium in Budapest. Er ist Mitherausgeber von „Hungarian Conservative“ und publiziert zu zeitgeschichtlichen und europapolitischen Themen in verschiedensten Medien in deutscher, englischer und ungarischer Sprache. Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete Version eines Artikels, der am 11. Juli 2024 in der Preußischen Allgemeinen Zeitung erschien.

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