Die linke Seite: Kommentar zu den Lohnerhöhungen im Gesundheitswesen
Orbáns Masterplan und die getäuschten Ärzte
Ja, Sie haben richtig gelesen. Wie ein Verdurstender das Wasser braucht Viktor Orbán die nächste Bevölkerungsgruppe, die er ins Fadenkreuz nehmen kann, um die Aufmerksamkeit vom Zusammenbruch des Gesundheitswesens und von der Epidemie abzulenken. Mit Sicherheit steht dies kurz bevor. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den auch in ungarischen Kinos gezeigten Film „Knight and Day“ mit Tom Cruise. Darin erklärt der Hauptdarsteller seiner Partnerin Cameron Diaz, dass sie lieber flüchten solle, wenn sie jemanden sagen hört, sie sei in Sicherheit.
Schockierende Realität im Gesundheitswesen
In Bezug auf die Coronavirus-Situation hierzulande hat sich dieser Instinkt bei mir verstärkt, als Viktor Orbán erklärte, wir hätten genug Beatmungsgeräte, genug Intensivbetten, genug Ärzte, genug Fachkräfte und wir würden alle heilen. Leider ist die Realität indes viel schockierender: Wir haben nicht genug Ärzte oder Pflegekräfte und wir haben auch nicht genug Ausrüstung. Während die ersten beiden Punkte bekannt und gut belegt sind, wurde letzterer erst jetzt vom staatlichen Zentrum für Gesundheitsversorgung (Állami Egészségügyi Ellátó Központ) selbst mit der Bekanntgabe der ärztlichen Ausrüstungsausschreibung veröffentlicht. Dessen Bewertungsteil beginnt wie folgt: „In Anbetracht der entstandenen Mangelsituation bitten wir, Angebote mit Lieferzeit und Liefermenge in diesem Zeitraum einzureichen.”
„Wenn wir nicht das Glück haben, dass eines der entwickelteren Länder einen Impfstoff oder eine spezielle Coronavirus-Behandlung entwickelt, dann sehen wir stürmischen Zeiten entgegen.“
Neben dem Mangel an Personal und Ressourcen ist ein weiterer Grund zur Sorge, dass es rund um den Ministerpräsidenten keine wirklichen Experten mehr gibt. Einige üben mittlerweile sogar öffentlich Kritik. Wenn wir also nicht das Glück haben, dass eines der entwickelteren Länder einen Impfstoff oder eine spezielle Coronavirus-Behandlung entwickelt, dann sehen wir stürmischen Zeiten entgegen. Zeiten, die schwerwiegende politische Konsequenzen haben könnten, sogar die schlimmsten.
Der Ministerpräsident will dies mit seinem bereits bewährten Patentrezept verhindern: Man nehme sich eine Bevölkerungsgruppe, die sich durch irgendetwas von der Durchschnittsbevölkerung unterscheidet – eine andere Hautfarbe, eine abweichende Geschlechtsidentität oder eben ein höheres Einkommen – und schiebe dieser einfach alles in die Schuhe.
Orbán gereicht eine Ärzteschaft zum Vorteil, die gerade aus eigener Kraft versucht, ihr jahrhundertealtes feudales Joch abzuwerfen und für die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung im Land zu kämpfen. Hinzu kommen eine Reihe von Vorurteilen, die sie in Kombination mit vermeintlichen oder auch realen Missständen im Gesundheitswesen leicht zum Gegenstand der Ablehnung macht.
Frustration in Hass verwandeln
Der Premierminister wollte jedoch nichts dem Zufall überlassen. Die Erinnerung an den allseitigen Applaus im Frühjahr ist nach wie vor im kollektiven Gedächtnis verankert. Er weiß daher genau, dass Gesundheitsmitarbeiter in einer Krisensituation schnell zu Helden werden können. Daher brauchte er etwas Besonderes, um den Durchschnittsbürger neidisch oder wütend auf diese Gruppe zu machen. Etwas, das Frustration in Hass zu wandeln vermag. Nichts ist für diesen Zweck besser geeignet, als die für Januar angesetzte Änderung der Lohntabelle der ungarischen Ärztekammer, die neben der Abschaffung des Dankesgeldes auch ein beachtliches Gehalt für Ärzte vorsehen würde. Beachtlich genug, um für Neid zu sorgen.
Die Ereignisse nahmen an Fahrt auf und sind mittlerweile Geschichte. Am 3. Oktober lud Viktor Orbán eine Delegation der Ungarischen Ärztekammer zu seinem Amtssitz im Karmeliterkloster ein. Bei dem Treffen akzeptierte Orbán die Lohntabelle der MOK praktisch ohne Einwände. Er selbst berichtete davon noch am selben Nachmittag auf seiner Facebook-Seite.
Dabei erklärte er, dass sich die Epidemie auf dem Vormarsch befindet und sich das auch nicht ändern wird, solange es keinen Impfstoff gibt, und dass das Gesundheitssystem in den nächsten sieben bis acht Monaten einer enormen Belastung ausgesetzt sein wird. Sowohl Ärzte als auch Krankenschwestern werden unter übermenschlichem Druck stehen, daher habe er der Ärztekammer zugestimmt, dass diese Mehrbelastung nicht mehr mit dem aktuellen Lohnniveau vereinbar sei. Deswegen habe er die Lohntabelle der MOK akzeptiert und damit gleichzeitig auch das Dankesgeld aus dem System verabschiedet.
Hier wird Geschichte geschrieben, dachten wir, als wir die Nachricht hörten.
Überraschender Gesetzentwurf
Die Freude hielt jedoch nicht lange an. Am Nachmittag des 5. Oktober wurde ohne vorherige Ankündigung ein Gesetzentwurf veröffentlicht, der das Ende des Dankesgeldes und die Lohnentwicklungen im Gesundheitswesen regeln sollte. Allerdings handelte es sich nicht länger um den Gesetzentwurf, von dem im Vorfeld die Rede war.
Denn es wurde ein Gesetz an die Kammer geschickt, das nicht nur die Frage der Gehälter und des Dankesgeldes regelt, sondern auch den Status der Ärzte zum Nachteil selbiger ändern sollte. Darüber hinaus respektierte er nicht einmal die vorher angekündigte Lohntabelle, da man um 20 Prozent sowohl nach oben als auch nach unten davon abweichen konnte (dies wurde später korrigiert). Die Ungarische Ärztekammer hatte nur etwa vier Stunden Zeit, die an sie gesendete Version zu lesen und zu kommentieren – das Material ist ein 38 Seiten langer, komplizierter Rechtstext.
Bei genauerem Hinsehen stellte sich eine große Überraschung ein, denn das Gesetz entsprach keineswegs der mit dem Premierminister getroffenen Vereinbarung. Das traf auch den Vorstand der MOK äußerst unerwartet. Trotzdem versuchte dieser, fair und aufrecht voranzugehen und auf die Möglichkeit des Dialogs zu vertrauen: Die MOK fertigte einen eigenen, bei Weitem nicht vollständigen Vorschlag an, signalisierte aber gleichzeitig auch, dass dieser aufgrund der Kürze der Zeit noch weiterer Ausbesserungen und Korrekturen bedürfe.
Ihnen gegenüber stand jedoch ein politischer Macher der höchsten Ebene. Kanzleramtsminister Gergely Gulyás kündigte an, dass die Regierung alle vorgeschlagenen Änderungen der MOK akzeptiert habe. Mehr noch, er behauptete sogar, dass die MOK mit allem einverstanden sei und Schulter an Schulter mit der Regierung die Einführung des Gesetzes fordere. Dieses wurde dann am nächsten Tag tatsächlich im Eiltempo verabschiedet.
Mehr Geld und weniger Rechte im Gesundheitswesen
Nun stehen die Ärzte also vor der Situation, dass sie zwar wirklich eine ordentliche Lohnerhöhung bekommen können, ihnen dafür aber ohne Mitspracherecht alle möglichen anderen Rechte enorm beschnitten wurden.
Demnach können sie auch in Friedenszeiten zu Bildungszwecken ins „Gulag“ delegiert werden, während Zweitjobs nur noch mit Genehmigung ihrer Vorgesetzten erledigt werden können. Niemandem gefällt dieses System oder die Art und Weise, wie es eingeführt wurde: mit Kriegsrecht und nach außen kommunizierend, dass sie Unmengen Geld bekommen würden, während zu den schweren Rechtsbeschneidungen geschwiegen wird.
Aber dagegen zu rebellieren wird schwierig sein – und genau das ist der Kern dieser gut vorbereiteten Falle. Die Kommunikation der Regierung über die Löhne war nämlich so erfolgreich, dass das Gesetz sogar mit 100-prozentiger Zustimmung des Parlaments verabschiedet wurde, also auch mit den Stimmen der Abgeordneten der Opposition, die entweder den Gesetzestext nicht gelesen hatten oder von den Beträgen, die den Ärzten gegeben werden, berauscht waren.
Der Punkt ist: Wenn schon die Abgeordneten im Parlament der Propaganda der Regierung auf den Leim gegangen sind, was wird dann erst das Volk glauben?
Natürlich wird es beim bevorstehenden Kollaps im Gesundheitswesen eben jene Ärzte in der Verantwortung sehen, die ihrem Glauben nach von der Regierung mit Millionen ausstaffiert wurden. Ungeachtet dessen, dass diese Menschen gezwungen werden, ohne angemessene Schutzausrüstung und unter quasi militärischem Kommando zu arbeiten. Das Volk wird nur die Dollarzeichen in den Augen der Ärzte sehen.
Und genau das war das Ziel. Die Schaffung eines neuen Feindbildes, das von langer Hand aufgebaut wurde und nun einsatzbereit ist.
Der Autor ist Facharzt und Experte für die Analyse und Organisationsentwicklung im Gesundheitswesen.
Der hier wiedergegebene Kommentar erschien am 7. Oktober auf dem Onlineportal des linksliberalen Wochenmagazins hvg.