Gastkommentar
Die Medien und der Antisemitismus
Der Kollege wunderte sich, weil so etwas mit deutschen Augen betrachtet schlichtweg unmöglich scheint: Ein rechter Jobbik-Politiker, der sich in der jüngeren Vergangenheit durch krasse Ausbrüche in Sachen Antisemitismus in den Sozialen Medien hervorgetan hat, wird unterstützt von Linken, Grünen und Liberalen. „Das ginge bei uns nicht”, meinte der Berliner Journalist. „Das ist ja, als würden Grüne, Die Linke und die SPD einen AfD-Kandidaten vom rechten Flügel unterstützen, der auch noch Nazi-Sprüche ins Netz stellt.” Bíró hatte unter anderem Budapest „Judapest“ genannt – eine auch von den Nazis gern gebrauchte Wortschöpfung des österreichischen Antisemiten und Wiener Bürgermeisters Karl Lueger (1844-1910).
Moralische Probleme?
Der deutsche Kollege wollte wissen, warum das den ungarischen Linken und Liberalen nicht ähnliche moralische Probleme bereitet wie linken, grünen und liberalen Politikern in Deutschland. Immerhin richten sie alle, in Ungarn wie in Deutschland, den Vorwurf an Ministerpräsident Viktor Orbán, er trete „europäische Werte” mit Füßen. Und Bíró? Wieso ist ein Mann, der sich zu antisemitischen Sprüchen hinreißen lässt, für die Vorkämpfer der „europäischen Werte” als ihr ganz eigener Kandidat akzeptabel?
Die Antwort ist einfach und realpolitisch. Bíró schaffte im Wahlkreis bei den letzten Wahlen 2018 eigenhändig 31,6 Prozent. Er ist der Kandidat mit den besten Erfolgschancen.
Sieger war 2018 Ferenc Koncz, ein in der Region beliebter Politiker der Regierungspartei Fidesz, der aber am 10. Juli bei einem Motorrad-Unfall tragisch ums Leben kam. Daher die Nachwahl. Für den Fidesz kandidiert nun seine Tochter Zsófia Koncz.
Antisemitische und antiziganistische Entgleisungen waren bekannt
Als Bíró nominiert wurde, waren seine antisemitischen und antiziganistischen Entgleisungen nur seinen Anhängern auf Facebook bekannt. Und vermutlich den diversen Parteiführungen – man darf annehmen, dass sie professionell genug sind, um alles über alle relevanten Politiker des Landes wissen zu wollen, und oft auch zu wissen.
Als dann ab dem 18. August das Thema in den Medien hochgespielt wurde, war es rein wahlkampf-logistisch wohl zu spät, um sich nach einem neuen Kandidaten umzusehen. Und so entschuldigte sich Bíró für seine rassistische Hetze und hoffte, wie auch die versammelte Opposition, die Krise aussitzen zu können. Momentum-Chef András Fekete-Győr sagte, er würde Bíró nicht in seine Partei aufnehmen, aber ansonsten befinde man sich in einer dringlichen „Wahlsituation”. Ferenc Gyurcsány, Chef der linken Demokratischen Koalition (DK), sprach diffus vom „langen Schatten“ der antisemitischen Vergangenheit von Jobbik, nicht aber davon, Bíró seine Unterstützung entziehen zu wollen.
Denkbar, dass man sich bei den Oppositionsparteien jetzt immerhin intensiv Gedanken darüber macht, solche peinlichen Situationen bei der Aufstellung der Kandidatenlisten für die Parlamentswahl 2022 zu vermeiden.
Zwei-Drittel-Mehrheit steht auf dem Spiel
Für den Fidesz geht es bei dieser Nachwahl um die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Die ist weg, wenn der Wahlkreis verloren geht. Für die Opposition geht es um sehr viel mehr: Um ihre moralische Glaubwürdigkeit.
Sollte man zumindest meinen. Ihre gesamte politische Kommunikation ist auf moralische Unbeflecktheit und „europäische Werte” ausgerichtet. Riskiert die Opposition nun nicht ein verheerendes Medienecho?
Bislang nicht. Abgesehen von der regierungsnahen Presse. Ungarns „regierungskritische, unabhängige“ Medien haben nur verhalten von dem Fall berichtet, und die internationale Presse so gut wie gar nicht. Hätte ein Fidesz-Kandidat Juden so wie Bíró „verlaust“ genannt, wäre wohl europaweit ein medialer Donnerhall die Folge gewesen.
Relativierung von Antisemitismus
Das wirft die Frage auf: Wie halten es Europas Medien mit dem Antisemitismus? Zu Recht wurde die Jobbik seit ihrer Gründung meist als rassistisch gefärbte Partei beschrieben. In der Regel wurde dies nebenbei als Keule gegen den Fidesz genutzt: Die Regierungspartei distanziere sich nicht hinreichend und mache rassistische Ansichten damit salonfähig.
Und wie ist es, wenn man sich nicht nur nicht distanziert, sondern mit der Jobbik koaliert? Zugegeben, die Partei beschreibt sich als geläutert. Aber der Geist ist offensichtlich noch da, den die Partei einst aus der Flasche rief. Der Fall Bíró ist ein Beleg dafür.
Sichtbar wird das aber nur, wenn darüber berichtet wird. Denn in mancherlei Hinsicht sind es die Medien, die entscheiden, was Antisemitismus ist. Etwa Orbáns Anti-Soros-Kampagne: Weltweit wurde darüber negativ berichtet. Der Fall Bíró ist hingegen international unsichtbar. Und so muss die Opposition vorerst nicht um ihren guten Ruf fürchten und kann, laut moralisierend, unmoralische Politik machen.
Auf dem linken Auge blind
Doch nicht das ist das Problem. In der Politik geht es selten um „Werte“, aber immer um Macht und Interessen. Das gilt für moralisierende Politiker ebenso wie für solche, die auf den gehobenen Zeigefinger als Mittel der Politik verzichten. Die Oppositionsparteien tun hier also nur das, was Politiker immer tun.
Die Medien hingegen erfüllen in der Demokratie eine Funktion als unabhängige Kontrollinstanz der Politik, und gefallen sich in dieser Rolle. Wenn dabei aber nur die eine Seite des politischen Spektrums „kontrolliert“ wird – wenn die Medien nur rechts genau hinschauen, nicht aber links –, dann ist es wie mit einer kaputten Waagschale: Sie erfüllt ihre Funktion nicht mehr.
Der Autor ist Journalist, Korrespondent für deutschsprachige Zeitungen und Leiter der Budapester MCC Media School.