Ungarn
„Ungarn ist ein beachtenswertes positives Beispiel für multivektorielle Außenpolitik.“ Auf dem Foto: Außenminister Péter Szijjártó zusammen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow im September am Rande der UNO-Vollversammlung in New York. Foto: Außenministerium

Analyse: Der Ukraine-Krieg und der Übergang zur multipolaren Weltordnung

Ungarn hat die Zeichen der Zeit erkannt!

Russland empfindet sich, und dabei handelt es sich zumindest um eine psychologische Tatsache, durch seine Mittellage zwischen China und dem Westen als eingedämmt und eingekreist.

Seine aggressive Vorwärtsverteidigung in Georgien und der Ukraine verstärkt wiederum die historisch begründeten Ängste der Balten und Polen und hat wiederum die Eindämmungspolitik des Westens weiter verstärkt, insbesondere mit dem geplanten Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands.

Es soll keineswegs bestritten werden, dass es sich in Russland um einen oli­garchischen Staat handelt mit teils verbrecherischen Zügen. Nur dürfte dies für einen erheblichen Teile der Regime auf der Welt gelten, mit denen wir dennoch zumindest in Koexistenz leben und oft auch kooperieren müssen.

Nur 37 Staaten haben sich der westlichen Sanktionspolitik angeschlossen. Selbst als westlich orientierte Mächte geltende Länder wie Indien und Brasilien beteiligen sich nicht an den Sanktionen. Im Gegenteil signalisiert der Zustrom zu dem bisherigen Staatenbündnis BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) eine Abkehr vom Westen, die das Ende der westlichen Welthegemonie und das Entstehen einer multipolaren Welt anzeigt. Es ist ungewiss, ob es letztlich gelingt, die bisherige Weltordnung möglichst friedlich in eine multipolare zu überführen.

Der Westen – bald alleine zu Hause?

Gemäß der universellen Werte des Westens gelten Einflusssphären als völkerrechtswidrig, vorgestrig und unmoralisch – allein, weder Russland noch China teilen diese Werte. Wie auch die islamische Welt sehen sie im Universalismus des Westens den Anspruch, die ganze Welt als westliche Einflusssphäre zu betrachten.

Die Hoffnung auf ein globales Gemeinwohl – die nur im Westen existiert – lässt sich leicht durch den Verweis auf die so genannte „Tragödie der Allmende“ widerlegen. Die freien Güter werden diesem historischen Narrativ zufolge schon deshalb übernutzt, weil es sonst andere täten und die Konkurrenznachteile ruinös würden.

Bei der Gleichheit der Staaten und der Gültigkeit von Recht und Verträgen handelt es sich um regulative Ideen, die mit den realen Machtverhältnissen abgeglichen werden müssen. Schon im innerwestlichen Verhältnis – etwa zwischen den USA und Deutschland – entsprechen sie nicht der Realität. Verstöße gegen völkerrechtliche Verträge können von niemand sanktioniert werden, auch nicht vom Sicherheitsrat der UN, in dem die Großmächte jede Verurteilung ihrer selbst blockieren.

Paradoxerweise isoliert sein Universalismus und Globalismus den Westen immer mehr. Seine woken Werte stoßen ab und seine Interventionen haben vor allem Zerstörung hinterlassen. Statt für eine weltweite „Allianz der Demokratien“, die die Biden-Regierung auf den Weg bringen wollte, sowie den alten Systemkonflikt und den moralisch-militärischen Konflikt gegenüber Russland, scheinen sich die meisten Länder der nichtwestlichen und selbst der halbwestlichen Welt eher für ihre Energie- und Handelsinteressen zu interessieren und zu engagieren.

Für andere Staaten scheint es aus ihrer Nähe zu Russland und China geboten, sich enger an die USA zu binden. Nicht umsonst drängen so unterschiedliche Staaten wie Finnland und Schweden, die Ukraine und Georgien, Vietnam und die Philippinen an die Seite der USA.

Gemäß der regelbasierten Weltordnung hat die Ukraine das Recht auf souveräne Bündniszugehörigkeit, gemäß der Geopolitik in einer multipolaren Welt hätte sie sich jedoch neutral verhalten müssen. Es ist verständlich, dass kleine Mächte in Nachbarschaft zu Großmächten Schutzgarantien von anderen großen Mächten anstreben. Washington sollte dabei im Sinne einer multipolaren Weltordnung Zurückhaltung walten lassen und sicherlich nicht – wie in der Ukraine und Georgien – auch noch gezielt anwerben und Druck ausüben. Auf deutscher Seite werden in einem Akt der Unterwerfung selbst die Terroranschläge des Verbündeten auf die deutsch-russische Pipeline übergangen.

Die amerikanischen Beweggründe für eine imperiale Hegemonie werden auf den Kampf für die Freiheit reduziert, was doch allenfalls die halbe Wahrheit sein dürfte. Mit der Verabsolutierung von Freiheit und Menschenrechten übersehen die Atlantiker, dass andere Kulturen andere Menschenbilder und ein anderes Freiheitsverständnis hegen und etwa auch das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ anders bewerten.

Damit werden, zumal in multiethnischen Gebieten wie eben der Ukraine, differenzierte Dritte Wege wie Autonomie der Regionen und Neutralität übersehen. Finnland konnte seine militärische Neutralität im Kalten Krieg noch mit politischer Freiheit verbinden. Grundsätzlich steht der westliche Universalismus heutzutage jedoch einer multipolaren Ordnung im Wege.

Die von der EU und den USA verhängten Sanktionen werden von den meisten Staaten des globalen Südens nicht mitgetragen. Ob in Asien, Afrika oder Lateinamerika: viele Staaten, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine zwar verurteilt haben, weigern sich, die Sanktionen umzusetzen. Dazu gehören unter anderem Mexiko, die Staaten am Persischen Golf und die Türkei. Die Sanktionen haben eine globale Verknappungskrise hervorgerufen, die sich ganz einfach aus der zentralen Rolle Russlands als Rohstofflieferant erklärt.

Die Gegensanktionen der russischen Regierung haben besonders die Staaten der EU geschädigt. Das spiegelt die Rolle wieder, die Russland als Exporteur von Rohstoffen und fossilen Brennstoffen spielt. Wenn die Schockwirkung der Gegensanktionen auf die Wirtschaft der EU noch mehr spürbar wird, dürften auch politische Fragen nach der Zweckmäßigkeit der Politik gegenüber Russland aufkommen.

Unwillentlich scheinen die USA mit dem Ausgreifen auf die Ukraine eine geopolitische Zeitenwende eingeleitet zu haben. Für sie offensichtlich unerwartet haben sich die meisten Mächte des globalen Südens einer Kriegsbeteiligung enthalten, und schließen sich trotz der Mitgliedschaft Russlands der BRICS an.

BRICS als Bündnis gegen westliche Hegemonie

Statt des alten West-Ost-Konfliktes ist die Welt heute von den Beziehungen zwischen Westeuropa und Nordamerika auf der einen Seite und den Schwellenländern mit hohem Wirtschaftswachstum auf der anderen Seite geprägt. Dabei teilt sich die Welt nicht mehr einheitlich in Blöcke. Vielmehr sind gerade in den Schwellenländern die wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Unterschiede so groß, dass sie keine einheitliche Gruppe bilden.

Die in der neuen BRICS vertretene Systemvielfalt, in der sich autoritäre, demokratische und halbdemokratische Staaten sammeln, steht der alten Zweiteilung der Welt in Demokratien und Diktaturen entgegen. Die Abwendung von der westlichen Hegemonie gilt unabhängig davon, ob es sich um autoritäre, halb- oder teildemokratische Regime handelt.

Mit der beschlossenen Erweiterung um sechs Staaten wird knapp die Hälfte der Weltbevölkerung in der BRICS (oder wie sich die Gruppe künftig nennen wird) leben. Der Anteil der Mitgliedsstaaten am kaufkraftbereinigten globalen Bruttoinlandsprodukt erhöht sich auf 37 Prozent und liegt damit höher als jener der G-7-Industrienationen (rund 30 Prozent). Zahlreiche weitere Staaten, darunter selbst die Nato-Mitglieder Türkei und Griechenland, lieb­äugeln mit einer Mitgliedschaft in dem neuen Staatenbündnis.

Das Hauptmotiv der bunten Systemmischung in der BRICS scheint die Unabhängigkeit vom amerikanischen Hegemon zu sein. Der Westen hatte nach dem russischen Angriffskrieg alle russischen Guthaben konfisziert, ein Schicksal, welches sich andere Oligarchen ersparen möchten.

Die neue Welt wird nicht mehr vom Westen, sie wird aber auch nicht von China beherrscht werden. Wir treten in eine neue Welt ein, in der viele verschiedene Länder eine Rolle spielen, manche vielleicht als Regionalmacht, manche nur auf bestimmten Gebieten. Die neue Welt wird komplexer und instabiler sein als die alte Ordnung, aber möglicherweise friedlicher.

Gegenseitigkeit und Gleichgewicht

Es ist zwischen einer symmetrischen und asymmetrischen multipolaren Weltordnung zu unterscheiden. Während der Kalte Krieg eine symmetrische Weltordnung darstellte, befinden wir uns heute in einer asymmetrischen Welt, die hochgradig instabil und konfliktträchtig ist.

Ein apolares Chaos steht als Drohung an der Wand. Daher ist neben der Koexistenz auch eine bereichsspezifische Kooperation der Mächte angesichts globaler Gefahren geboten. Schließlich stehen die Großmächte heute auch gemeinsam globalen Problemen gegenüber. Pandemien, Klimawandel, asymmetrisch kämpfende Terroristen, Schlepper, Drogen- und Menschenhandel, global agierendes Kapital, um nur einige der Herausforderungen zu nennen. Ziel der Koexistenz muss daher der Übergang zu einer bereichsspezifischen Kooperation sein.

Eine multipolare Weltordnung, in der jeder seinen angemessenen Platz sucht, wäre ein Mittelweg zwischen utopischem Globalismus und regressivem Nationalismus. In ihr müssten die mächtigsten Player ihre Einflusssphären gegenseitig respektieren und ihre Beziehungen multivektoriell gestalten. Statt der Träumereien vom globalen Regenbogen oder Regressionen zu Nullsummenspielen sollte das Prinzip Gegenseitigkeit Geltung erlangen.

Ein beachtenswertes positives Beispiel für multivektorielle Außenpolitik ist übrigens Ungarn, das mit allen Machtpolen gegenseitig vorteilhafte Beziehungen anstrebt und dem ein primitives Gut- und Böse-Schema fremd ist. Trotz Nato- und EU-Mitgliedschaft setzt die ungarische Regierung etwa bei der Waffen- und Sanktionspolitik im Ukraine-Krieg konsequent eigene Akzente.

Ungarn verbindet die kulturelle und politische Koexistenz mit wirtschaftlicher Konnektivität zu anderen Mächten. Auf diese Weise ließe sich eine bipolare Ordnung, auf die China und die USA zusteuern, verhindern. Genau das läge im Interesse der Europäer! Schließlich ist absehbar, dass die europäischen Länder in einer bipolaren Weltordnung zu rein peripheren Objekten degradiert würden.

Koexistenz und Dezentralität

Die globalistischen Einmischungen sind unweigerlich mit zunehmendem Zentra­lismus, der Abnahme von Demokratie und zugleich mit zunehmenden Konflikten verbunden. Sie vermindern die Verantwortungsbereitschaft der Staaten und Menschen und überdehnen zugleich die Möglichkeiten des weltweit agierenden Westens, der sich darüber nach innen bis zur drohenden Selbstauflösung geschwächt hat.

In einer multipolaren Weltordnung wäre nicht mehr die Universalität des Westens, sondern die Koexistenz der Kulturen und Mächte das vorrangige Paradigma. In den Absprachen müssten – wie beim Wiener Kongress oder auch in der Zeit des Kalten Krieges – klare Grenzen gezogen und Neutralitätsräume definiert werden.

Realistischerweise müssten die Einflusssphären von Russland und China eine ähnliche Berücksichtigung finden, wie sie die USA im mittelamerikanischen Raum wie selbstverständlich erwarten. In einer neuen Weltordnung ginge es im Kern nicht um Nationen, sondern um Dezentralität, die nach den Prinzipien der Subsidiarität und je nach Thema ausgestaltet werden muss.

Eine neue Strategie der „Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung“ erfordert mehr Selbstbegrenzung gegenüber außen, während umgekehrt die eigene Selbstbehauptung nach innen gestärkt muss.

Die mit der Hegemonialpolitik verbundenen Kosten sind auch in den USA zunehmend umstritten, neuerdings auch in der Demokratischen Partei. Robert F. Kennedy jr. unterscheidet sich außenpolitisch nicht wesentlich von Trump. Es könnte sich bereits nach den nächsten Wahlen eine Haltung durchsetzen, die sich in der Präsidentschaft von Donald Trump ankündigte: Verzicht auf weitere Interventionen und die Konfrontation mit Russland.

Die multivektorielle Politik von Ungarn

Es ist längst offenkundig, dass in Europa Staaten wie die Schweiz, aber auch Ungarn nicht zuletzt mit Blick auf die Geopolitik und die geopolitischen Veränderungen besser regiert werden als Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Generell nutzen insbesondere kleine Staaten die außenpolitischen Entfaltungsmöglichkeiten jenseits des Denkens in Blöcken. Sie haben auf diese Weise die Chance, durch eine kluge Außenpolitik die Multipolarität zu nutzen, und sich sowohl aus der zu großen Abhängigkeit einer Macht zu befreien und anderseits auf deren Konflikte mäßigend einzuwirken.

So verdient etwa Ungarns Rolle im Ukraine-Krieg eine Würdigung. Da Ungarn nicht die Macht habe, den Krieg zu beenden, möchte es – so Ministerpräsident Orbán – sich selbst beschützen. Ukrainische Interessen stünden nicht über ungarischen Interessen. An Waffenlieferungen und Sanktionen im Energiebereich beteiligt sich Ungarn daher nicht. Zumal eine Beteiligung an den Energiesanktionen angesichts der Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland einem wirtschaftlichen Selbstmord gleichkäme.

Deutschland könnte wiederum einmal den Keil inmitten des Kontinents durchbrechen und Mitteleuropa mit den zerschnittenen Lebensadern nach Osten zu verbinden versuchen. Die Staaten Mitteleuropas könnten zu einem eurasischen Bindeglied werden. Polen sieht sich dagegen eher als regionaler Stellvertreter der USA und treibt damit Europa in deren weitere Abhängigkeit.

Nach dem Ende des Krieges in der Ukraine wird Ungarn eine sehr wichtige Rolle als Bindeglied zwischen West- und Osteuropa zukommen. Seine multivektorielle Außenpolitik einschließlich der Kontaktpflege zu Russland ist umso bemerkenswerter, als die Ungarn mit Russland ähnlich schreckliche Erfahrungen gemacht haben wie Polen und Balten. Dennoch sahen sie sich in der Lage, die geopolitischen Zeichen und energiepolitischen Notwendigkeiten der Zeit zu lesen, und pragmatisch eher in die Zukunft zu blicken, als sich von den Schmerzen der Vergangenheit die Außenpolitik der Gegenwart diktieren zu lassen.

Realpolitik ist nicht per se „zynisch“. Bei Stabilität, Ordnung und Frieden handelt es sich fraglos um hohe Werte. Sie sind oft genug die Voraussetzung für die Verwirklichung von hohen Werten wie Freiheit und Menschenrechte. So konnte im Gleichgewicht des Schreckens während des Kalten Krieges die Befreiung Osteuropas reifen. Zu einer Realpolitik gehört die Kooperation mit allen Machtpolen. Sie schließt die Zugehörigkeit zu einem der Blöcke nicht aus, behält sich aber – wie im Falle Ungarns – die Entscheidungsfreiheit gegenüber Entscheidungen dieses Blockes vor.

Fazit: Vom Moralismus zum Realismus

Die so genannte „Realistische Schule“ der Politikwissenschaft hält am Sinn für unabänderliche Gegebenheiten wie der Natur des Menschen und dem sich daraus auch bei Staaten ergebenden stetigen Drang nach einer Ausdehnung der Macht fest.

Dies sei schon deshalb nötig, um sich vor der Macht anderer zu schützen. Angesichts des nicht verrechtlichten, sondern im Kern anarchischen internationalen Systems ist Vorsicht und Umsicht geboten. Zur Realität gehören auch die geografische Lage eines Landes sowie die Sicherheitsinteressen benachbarter Großmächte. Diese Vorgaben angesichts des Völkerrechts oder der Lockungen anderer Mächte zu übersehen, hat sich für die Ukraine als katastrophaler strategischer Fehler erweisen.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft und war bis Ende April Gastprofessor beim Mathias Corvinus Collegium in Budapest. Er ist Autor des 2022 erschienenen Buches „Selbstbehauptung, Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen“.

Hier kommen Sie zum Aufsatz „Europas Illusionismus gegen Ungarns Realismus“, der im Juni im Magazin der Budapester Zeitung veröffentlicht wurde.

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