„Als ich dieses Konzept zum ersten Mal anwandte, bin ich fast vom Stuhl gefallen. Plötzlich habe ich Zusammenhänge verstanden, die mir vorher unerklärlich waren.“

Interview mit dem Wirtschaftsprofessor Christian Kreiß

Wenn Mephistopheles freie Hand hätte …

Seit kurzem gibt es das Buch „Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft“ auch auf Ungarisch. Aus diesem Anlass unterhielten wir uns mit seinem Autor, dem deutschen Wirtschaftsprofessor Christian Kreiß.

Wie kam es dazu, dass das Buch auf Ungarisch veröffentlicht wurde?

István Marek, der über 20 Jahre als renommierter Trainer und Coach sowie als Dolmetscher international arbeitet, hörte Ausführungen von mir zu dem Buch auf YouTube. Er fand hier, wie er mir später berichtete, „Erklärungen für Abläufe in unserem Wirtschaftsleben, die sonst nur schwer erklärlich wären“. Dies veranlasste ihn, das Buch aus Idealismus kostenlos zu übersetzen und so auch ungarischen Lesern zugänglich zu machen.

Was sind die Kernaussagen des Buches?

Die Fragestellung lautet: Wie würde Mephistopheles, die bekannte Figur aus Goethes „Faust“, unsere Wirtschaftsgesetze machen, wenn er freie Hand hätte? Also es wird untersucht, wie die Welt aussehen würde, wenn kein guter, sondern ein böser Wille unserer Wirtschafts- und Sozialordnung zugrundeliegen würde. Als ich dieses Konzept zum ersten Mal anwandte, bin ich fast vom Stuhl gefallen. Plötzlich habe ich Zusammenhänge verstanden, die mir vorher unerklärlich waren. Plötzlich machten Vorgänge Sinn, die mir vorher vollkommen sinnlos erschienen. Sie machten Sinn, allerdings einen diabolischen Sinn.

Beispielsweise welche Vorgänge?

Die Ungleichverteilung auf der Erde nimmt seit vielen Jahrzehnten zu. Immer mehr Menschen rutschen in Armut, in den letzten beiden Jahren ist die Zahl der verhungernden Menschen und vor allem von verhungernden Kindern dramatisch angestiegen. Warum? Wenn wir die normalen Zeitungen und die normalen ökonomischen Theorien lesen, erfahren wir, dass das „leider“ die unbeabsichtigte Nebenwirkung unseres Wirtschaftssystems sei. Aber im Übrigen schaffe dieses Wirtschaftssystem riesigen Wohlstand für sehr viele Menschen weltweit. Also man unterstellt, dass das System viel Wohlstand schaffen und Armut beseitigen will.

Aus Sicht von Mephisto ist es aber genau umgekehrt. Er möchte so viel Leid, Elend, Not und Entwürdigung der Menschen in die Welt bringen wie möglich („Staub soll er fressen und mit Lust“). Also aus Sicht von Mephisto ist die zunehmende Armut das gewollte Ziel, nicht die unbeabsichtigte Nebenwirkung, die „leider“ mit in Kauf genommen werden muss.

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962. Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Unterrichtet seit 2002 als Professor an der Hochschule Aalen Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Profitwahn – Warum sich eine menschgerechtere Wirtschaft lohnt (2013), Geplanter Verschleiß – Wie die Industrie uns zu immer mehr und immer schnellerem Konsum antreibt – und wie wir uns dagegen wehren können (2014), Gekaufte Forschung – Wissenschaft im Dienst der Konzerne (2015), Werbung nein danke – Warum wir ohne Werbung viel besser leben könnten (2016), BWL Blenden Wuchern Lamentieren – Wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (durch drei verschiedene politische Parteien, politisch unabhängig). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen.

www.menschengerechtewirtschaft.de

Wie erreicht er das?

Er versucht, uns weiszumachen, dass unsere Gesetze unbegrenzten Reichtum sowie Zinseszins ermöglichen und dass das gut, richtig und wichtig ist. Aber das ist eine Lüge. Unbegrenzter Zinseszins führt rein mathematisch zu exponentiell steigendem Vermögen bei einer immer kleiner werdenden Oberschicht. Die Ungleichverteilung muss dadurch immer weiter zunehmen, bis zuletzt Überschuldung und ein Zusammenbruch kommen – das zeigt die Weltgeschichte beeindruckend. Das Wort Mephis-topheles heißt ja übersetzt „Verderber-Lügner“. Also er lügt uns an („tophel“) – fast alle Ökonomie-Lehrbücher predigen Zinseszins und unbegrenzte Vermögensakkumulation – und führt uns dadurch ins Verderben („mephis“). Mission accomplished! Trotzdem glauben viele Menschen noch immer, dass dieses System vorteilhaft sei.

Können Sie noch ein Beispiel anführen?

Viele Menschen in den Industrieländern bekommen zu viele, zu teure und oft sogar falsche Medikamente verschrieben – falsche und zu viele Medikamente sind die dritthäufigste Todesursache in der westlichen Welt. Wenn wir die Zeitung lesen, heißt es dazu: Nun ja, das sind „leider“ die unbeabsichtigten Nebenwirkungen der modernen Pharmaforschung, die man eben in Kauf nehmen müsse. Aus Sicht von Mephisto ist das jedoch ganz anders. Er will uns ja gerade Not, Elend, Krankheit und Tod bringen.

Und wie schafft er das? Er sagt uns, dass das Gewinnmaximierungsprinzip in der Pharmaindustrie genau das Richtige sei. Dann setzen die Pharmakonzerne alles daran, dass erstens so viele Medikamente wie irgend möglich und zweitens die profitabelsten Medikamente verschrieben werden. Ob sie nun helfen oder nicht, oder gar schaden, spielt keine Rolle – das zeigen zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Pharmageschichte. Es geht um Profit, nicht um Gesundheit.

Was wäre das Schlimmste, was börsennotierten, gewinnmaximierenden Pharmakonzernen passieren könnte? Gesunde Menschen ohne Angst vor Krankheiten. Dann wären die Pharmakonzerne pleite. Zu glauben, dass unsere Pharmakonzerne uns gesund machen wollen, ist ein Denkfehler, ist eine Lüge. Das stimmt einfach nicht.

Also hier schlägt Mephisto gleich doppelt genial zu und macht seinem Namen alle Ehre. Erstens mit der Lüge („topheles“): Gewinnmaximierung in der Pharmaindustrie ist gut. Zweitens ist er der Verderber („mephis“), der maximal viel Leid und Tod zu uns Menschen bringt. Und je mehr desto besser – für ihn!

„Nur wenn wir das Böse erkennen, können wir uns dagegen wehren und es überwinden.“

Und plötzlich verstehen wir, warum es durch Fehlmedikamentation so viele Tote gibt. Plötzlich macht es Sinn, wenn auch einen schrecklichen. Und so kann man Branche für Branche durchgehen und wird die interessantesten Erkenntnisse gewinnen, wenn auch häufig grauenvolle.

Warum assistieren die Medien bei all dem so tatkräftig?

Der Lügengeist hat natürlich das allergrößte Interesse daran, dass wir Menschen so lügenhaft wie möglich informiert werden. Zum einen ist Lüge für Mephisto durchaus auch ein Selbstzweck. Denn je unsicherer, verwirrter und verlogener die Menschen sind, umso besser. Er sagt ja selbst: „Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll, dass niemand weiß, wie er ihn meiden soll.“

Durch ein Meer von Fake News wird das Denken immer verwirrter, werden viele Menschen immer orientierungsloser und damit leichter manipulierbar. Ist den Menschen erst einmal der Kompass der Wahrheit genommen, so kann Mephisto seine Ziele umso leichter erreichen und uns in Unehrlichkeit, Unwahrhaftigkeit und Lüge treiben. Man kann sich dann immer damit herausreden, dass es ja alle so machen.

Auf der anderen Seite sind die allermeisten Menschen gutmütig und wollen auf keinen Fall aktiv das Böse. Also muss Mephisto, wenn er die Menschen zu Bösem verleiten will, mit List vorgehen, Wahrheiten verdrehen, einseitig darstellen oder verzerren, um seine üblen Ziele zu erreichen. Und das geschieht tagtäglich in Hülle und Fülle. Es gibt vier systematische Verzerrungen der Wahrheit in praktisch sämtlichen westlichen Medien.

Welche sind das?

Durch Umsatz- und Gewinnmaximierung wird die Berichterstattung ständig aufgebauscht, übertrieben, zur „story“ umgeschrieben. Stichwort Sensationspresse, damit der Umsatz und die Klickzahlen steigen. Außerdem sind die meisten Medien sehr stark auf Werbung und Inserate angewiesen. Diese kommen zum großen Teil von der Industrie. Daher wird über die Geldgeber immer einseitig positiv verzerrt berichtet, praktisch immer großkonzern-freundlich. Stichwort: Lückenpresse – negative Aussagen zu den Großkonzernen und Milliardären können sich die allermeisten Medien kaum leisten.

Welche Verzerrungen gibt es noch?

Fast alle privaten Medien sind in Besitz von Multimillionären oder Milliardären. Gegen die Eigentümer zu schreiben, kann sich kein Journalist leisten. Wir haben im Wesentlichen eine lupenreine Milliardärs­presse, also immer freundlich gegenüber den Milliardären, Großkonzernen, den Schönen und Mächtigen. Was Auslandsnachrichten anlangt, haben drei Nachrichtenagenturen, Thomson Reuters, Associated Press und Agence France-Presse (afp) ein Quasi-Oligopol. Bei ihnen wird praktisch immer Nato- und US-freundlich berichtet. Fast alle unsere Auslandsnachrichten stammen von dort.

Durch diese vierfache Verzerrung ist es reichlich schwer, die Wahrheit herauszubekommen. Ein genialer Schachzug des Lügengeistes Mephisto, den er wunderbar für seine Zwecke nutzen kann. Beispielsweise hat fast die gesamte westliche Presse vor dem Irakkrieg immer wieder über die schrecklichen Giftgasfabriken von Saddam Hussein berichtet. Erst schoss die Presse, dann die Panzer. Nur leider stellte sich hinterher heraus: Es gab gar keine Giftgasfabriken im Irak. Der ganze Krieg basierte auf einer großen Lüge. Ein grandioser Triumph von Mephisto, der durch diese und andere Lügen die Menschen ins Böse getrieben hat, nämlich in den völkerrechtswidrigen Irakkrieg 2003.

Vielleicht gibt es Mephisto aber gar nicht!

Der beste und vielleicht wichtigste Trick des Lügner-Verderbergeistes ist es, wenn wir nicht an ihn glauben. Wenn er uns vormachen kann, dass es „das Böse“ gar nicht gäbe. Dann kann er mit freier Hand schalten und walten. Und er sagt es ja auch selbst ganz offen: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte.“ Deshalb glaube ich, dass das Mephisto-Buch das wichtigste meiner sieben Bücher ist. Nur wenn wir das Böse erkennen, können wir uns dagegen wehren und es überwinden.

Dieses Buch ist exakt gleich wichtig für die Menschen in Ungarn, wie in Deutschland oder in anderen Ländern. Es ist vollkommen übernational. Auch die Beispiele in dem Buch, die ganze Argumentation ist übernational, ist rein menschlich.

Wo ist Ihr Buch erhältlich?

Man kann es gedruckt auf Deutsch über den regulären Buchhandel erwerben. Auf Ungarisch kann man es beim ungarischen Genius-Verlag (antropozofia.hu) kaufen. Als E-Book kann man es kostenlos und komplett auf meiner Homepage herunterladen. Ich will an dem Buch nichts verdienen.

Ein Gedanke zu “Wenn Mephistopheles freie Hand hätte …

  1. Aber wo verbirgt er sich denn nun, dieser Mephisto.

    Konzerne?
    Viele Konzerne sind im Streubesitz.
    Was erwartet denn der Aktienbesitzer?

    Mephisto steckt in uns allen. Wir streben nach dem Mehr. Wir beneiden die Reichen.

    Und richtig: Die Medien liefern das, was wir hören, lesen und sehen wollen.
    Das Begräbnis der Queen bringt mehr Zuschauer, als das einer alten Frau, die in ihrer Hütte am Stadtrand starb.

    Wenn die Menschen einen Limousine sehen, stellen sie doch nicht die Limousine an sich in Frage, sondern empfinden ein Gefühl des Neids.
    Was heute ein Mittelklassewagen ist, galt früher eher als Limousine.

    Die Frage ist: Wie bändigen wir den Mephisto in uns?

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