Buchvorstellung: „Mitteleuropa revisited“
Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird
Dieser Artikel ist Teil unseres Bezahl-Angebots BZ+
Wenn Sie ein Abo von BZ+ abschließen, dann erhalten Sie innerhalb von 12 Stunden einen Benutzernamen und ein Passwort, mit denen Sie sich einmalig einloggen. Danach können Sie alle Artikel von BZ+ lesen. Außerdem erhalten Sie Zugang zu einigen speziellen, sich ständig erweiternden Angeboten für unsere Abonnenten.
Der Saal in der Ungarischen Akademie der Wissenschaften war anlässlich der Buch-Präsentation gut gefüllt. Unter den Gästen waren unter anderem mehrere Botschafter und der Bürgermeister von Kőszeg. Die Teilnehmer waren sich – in Anlehnung an Milan Kunderas Aufsatz „Die Tragödie Zentraleuropas“ aus dem Jahr 1984 – darin einig, dass der Westen das Bewusstsein der gemeinsamen europäischen Kultur weitgehend aus den Augen verloren habe. Ganz besonders gelte dies nun für die Europäische Union, in der das gemeinsame kulturelle Band kaum noch eine Rolle spiele: speziell, wenn es um praktische Entscheidungen gehe. So hänge die Zukunft der EU heute davon ab, ob es gelingen könne, diese gemeinsame Kultur Europas in ihrer großen Vielfalt wieder in Erinnerung zu rufen. Dabei handle es sich um eine Aufgabe, für die Mitteleuropa geradezu prädestiniert sei. In diesem Zusammenhang wies der Direktor des iASK, Ferenc Miszlivetz, in seiner Anmoderation darauf hin, dass „etwas in der Luft liege“: die Ankündigung eines „signifikanten Wandels“. Die Aufgabe des iASK bestehe darin, „durch die Komplexität und Unsicherheiten dieses Zeitalters zu navigieren und zur Formulierung von Antworten auf drängende Fragen beizutragen, die ein komplexeres und interdisziplinäres Denken erfordern“.
Die Rückkehr der Historiker
Zunächst verwies die französische, auf das heutige Mitteleuropa spezialisierte Historikerin Catherine Horel von der Pariser Universität Panthéon-Sorbonne auf die „Dichotomie“, die es im westeuropäischen Denken gebe „zwischen dem Zentrum und der Peripherie“. „Solange Westeuropa von Mittel- und Südeuropa als Peripherie denkt“, könne man die Gräben kaum überbrücken, unterstrich Horel eindringlich. Eine weitere Schwierigkeit bestehe darin, dass es zudem eine Kluft zwischen den verschiedenen Ländern Mitteleuropas gebe.
„Die meisten jungen Leute gehen mit Austauschprogrammen in den Westen“, sagte die Französin mit Bedauern. Dabei sollten sie auch ermuntert werden, andere Länder der eigenen mitteleuropäischen Region kennenzulernen. Auch könne man in den Schulen verankern, dass die Schüler die Sprachen ihrer jeweiligen Nachbarn lernen. Darüber hinaus befürwortete Horel, dass man in den Schulen „Handbücher“ einführe, in denen es um die Region als Ganzes gehe. Generell komme den Historikern dabei eine besondere Rolle zu. Denn sie hätten die Möglichkeit, das „kollektive Gedächtnis der Europäer zu reaktivieren“.
Anschließend ergriff der ungarische Historiker Pál Hatos von der Budapester Verwaltungsuniversität das Wort und betonte, dass Geschichte noch immer eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung von Identität zukomme. Geschichte sei „Produkt der Aufklärung“, sie befreie den Geist, indem sie sich „an die rationale Natur des Menschen“ wende. Geschichte sei Identität. Gleichzeitig könne sie natürlich eine große Gefahr darstellen.
In diesem Rahmen ging Hatos auf einige Thesen von „Mitteleuropa revisited“ ein. In dem Buch werde ein „Antagonismus zwischen der offenen Gesellschaft und dem Nationalismus“ beschrieben, so der Historiker. Während dem Begriff einer „Offenen Gesellschaft“ eine positive Konnotation zukomme, habe die Idee der „Nation“ einen negativen Beigeschmack, als gebe es hier eine Opposition zwischen Demokratie und Hierarchie. „Doch ist der Nationalismus nur ein Dämon?“, fragte Hatos und erinnerte an den amerikanischen Politikwissenschaftler Benedict Anderson, der von der „Nation“ als von einer brüderlichen Gemeinschaft, von einem ‚kameradschaftlichen Verbund von Gleichen“ sprach. „Wir müssen der Idee der Nation eine positive Bedeutung geben“, so Hatos. Auch in diesem Zusammenhang sehe er Mitteleuropa als treibende Kraft Europas.
Das kulturelle Bewusstsein wieder aktivieren
Im Anschluss kamen nun die Autoren von „Mitteleuropa revisited“ selbst zu Wort. Emil Brix, ein österreichischer Diplomat und Historiker, der von April 2010 bis Januar 2015 Botschafter in London war und Anfang Januar 2015 das Amt des österreichischen Botschafters in Moskau übernahm, ist zudem Leiter des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa und seit 2017 Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien. „Als wir das Buch schrieben, dachten wir, wir müssten schreiben, was sich seit unserem vorherigen Buch verändert hat“, erläuterte Brix. „Am Ende haben wir jedoch darüber geschrieben, was in der EU alles schief gelaufen ist.“
Warum würden die Mittel- und Osteuropäer marginalisiert?, fragte Brix. Warum habe sich die EU nicht an die neue Situation angepasst? In diesem Zusammenhang wies der Österreicher darauf hin, dass „Mitteleuropa“, so wie es im Untertitel des Buches steht, „die Zukunft der EU retten“ könne. Eine wichtige Rolle könne dabei die „Rückkehr der Geschichte“ spielen, meinte Brix. Außer in Deutschland würden sich ja bereits sämtliche Staatschefs der EU wie Historiker geben.
Es sei sehr problematisch, dass in der EU ein Denken des Entweder-Oder vorherrsche: „entweder offen oder nationalistisch“. Dabei solle man lieber „beides kombinieren“. Schließlich seien die Demokratien doch im Rahmen von Nationalstaaten entwickelt worden. „Steht am Ende nicht die Nation im Zentrum der Demokratie?“, fragte Brix. Dazu gehöre jedoch auch eine „offene, freie Gesellschaft“, ohne die der Einzelne „sein Potenzial nicht entwickeln kann“. Aus diesen Gedanken heraus befürwortete Emil Brix auch eine Neustrukturierung der EU, die den verschiedenen Nationen angemessen Rechnung trage.
Diese beiden Punkte – Nation und offene Gesellschaft – miteinander auszusöhnen, sei nun eine Aufgabe, für die sich Österreich ganz besonders eigne. So habe die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz darum gebeten, „in diesem Sinne zu wirken“. Es gehe von der Leyen, so Brix, um die „Vielfalt der europäischen Kulturen“ und einen „europäischen Way of Life“. In diesem Sinne habe sie sogar den designierten Migrationskommissar Margaritis Schinas mit dem „Schutz des europäischen Lebensstils“ beauftragt.
Wir sollten den von Kundera bereits in den 1980er Jahren diagnostizierten „Verlust des kulturellen Bewusstseins“ rückgängig machen, meinte Brix. „Wir sollten auch das kulturelle Bewusstsein wieder zurückbringen und die Europäische Union über die kulturelle Vielfalt, die wir haben, revitalisieren.“
Auch der ehemalige österreichische Vizekanzler Erhard Busek – seit 1995 Vorstandsvorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa, seit 2012 Ehrenpräsident des Europäischen Forums Alpbach und Mitglied im Beratungsgremium des iASk – sprach der „Rückkehr des kulturellen Elements“ das Wort. „Während die Europäer die Hälfte des Reichtums der Welt konsumieren“, würden wir kaum unsere eigene Position als Europäer kennen. Wir bräuchten einen „neuen Kommunikationsstil“, so Busek, bei dem die Kultur eine wesentliche Rolle spiele. Mitteleuropa zeige einen Weg, „wie man das kulturelle Element wieder zurückbringt“.
Gesamteuropäisches Denken fördern
Auf eine Frage an Emil Brix, ob es im Zusammenhang mit einer Revitalisierung der Europäischen Union durch die Rückbesinnung auf die bewegte Geschichte und die kulturelle Vielfalt in Europa eventuell zu einem Widerstand von deutscher Seite kommen könne, antwortete er im Anschluss an die Buchvorstellung: „Ich glaube schon, denn gerade die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Identität eben nicht über ihre Dichter und Denker aufgebaut, sondern über Institutionen, und sieht das jetzt in Europa ein wenig in Gefahr.“ Der Österreicher glaube nicht, dass Deutschland bei der kulturellen Revitalisierung der EU ein starker Verbündeter sein könne.
Ob die Deutschen eine Art von Phobie in Bezug auf das kulturelle Element entwickelt hätten? Das könne man so sehen, meinte Brix, „weil die Deutschen immer im Kopf hätten, dass aus dem Volk der Dichter und Denker ein Volk der Richter und Henker geworden sei“. Das zeige exemplarisch, „dass man keine gemeinsame europäische Identität erzwingen kann, ohne die jeweilige nationale Identität mitzudenken.“ Man könne den Deutschen aber gut zureden, ein positives kulturelles Selbstbewusstsein zu entwickeln. „Wie schön wäre es, über Beethoven oder Kafka zu streiten“, fragte Brix. „Aber im Moment wird das alles uns überlassen“, fügte der Österreicher nachdrücklich hinzu. Immerhin gehöre es regelrecht zur „DNA der Österreicher, über Kultur zu reden.“
Auf die Frage nach einem Beispiel, wie man sich für die Gestaltung der EU an Mitteleuropa orientieren könne, gab Brix zur Antwort, dass man nach erfolgreichen Momenten der europäischen Geschichte suchen solle: „an Havel, wie er gekämpft hat, an das Jahr 68, an den Prager Frühling, an die Solidarnosc-Bewegung.“ Das seien große Momente der europäischen Geschichte. Wenn man an diese Momente erinnere, „dann haben wir es bereits geschafft, gesamteuropäischer zu denken“, erläuterte Brix.