Rezension: Zoltán Szalai und Balázs Orbán, Der ungarische Staat – Ein interdisziplinärer Überblick
Ungarn – ein Beispiel für „Vielfalt in der Einheit“
Die Tage waren trüb, grau, wolkenverhangen und regnerisch, und die Nebenstraßen kamen mir in der früh einsetzenden Dunkelheit mit ihrer spärlichen Beleuchtung unheimlich vor.
Reisen und Lesen: Eine persönliche Vorbemerkung
Dennoch: Budapest und die Uni haben mir ausgezeichnet gefallen, und mir war klar: Da will ich hin! Gestützt auf diese Sicherheit hätte ich fast noch die Zusagefrist verpasst.
Ich muss freilich gestehen, dass ich wenig von Ungarn wusste. 1954 – klar: Die Fußballweltmeisterschaft. Dann 1956 – der Ungarnaufstand, parallel zur Suezkrise. Ich war damals erst in der 5. Klasse und wir waren arm, aber wir hatten ein Radio und immer eine Zeitung. Und was ich da hörte und las, machte mir Angst. Außerdem wusste ich von László Papp, dem ungarischen Mittelgewichtsboxer, weil ich mich damals hinter dem Rücken meiner Mutter manchmal heimlich in einen Boxverein schlich, um mich am Sandsack und Punchingball zu betätigen und gelegentlich mit anderen zu messen. Schließlich wusste ich von Nachbarn, dass der Plattensee ein hervorragendes Urlaubsziel sei.
Und, ich muss weiterhin gestehen, dass ich auch etwas voreingenommen war, denn in den deutschen Medien wurde schon damals – also vor über elf Jahren – getrommelt, dass der Ministerpräsident mit Vorsicht zu genießen sei, und dass sich das Land schnurstracks auf dem Weg zumindest in die Autokratie befinde.
Umso überraschter war ich, dass mich die Häscher nicht gleich einkassierten, als ich mich in der Uni, aber auch außerhalb, kritisch äußerte. Der damalige zuständige Minister, Zoltán Balog, jetzt Bischof der Diözese Dunamellék der ungarischen reformierten Kirche und pastoraler Präsident der Synode der ungarischen reformierten Kirche, dachte im Traum nicht daran, der Uni einen Maulkorb zu verpassen oder auch nur damit zu drohen.
Reisen ins Land haben mir einen nachhaltigen Eindruck von der Geschichte sowie dem Leben und Denken der Ungarn vermittelt. Ich habe unter anderem Veszprém und Várpalota mit dem Trianon-Museum gesehen. Beeindruckt hat mich der Gedenkstein auf dem Hügel bei Székesfehérvár, der an die Goldene Bulle erinnert, also die erste Verfassung des Landes, die König András II 1222 erlassen hat. Ich war in Pécs und in Komló mit den inzwischen geschlossenen Kohlegruben. Und ich habe mich gründlich auf dem Schlachtfeld von Mohács umgesehen, wo Ungarn unter Lajos II gegen den türkischen Sultan Süleyman I, mit dem Beinamen der Prächtige, 1526 eine vernichtende Niederlage mit schrecklichen Folgen für das Land erlitt.
Eine vielfältige, aber auch grausame Geschichte bietet bekanntlich Eger. Bemerkenswert ist, dass die Ungarn nicht zur Geschichtsklitterung und zu Denkmalsstürmen neigen, wie nicht zuletzt das restaurierte Minarett in Eger zeigt, das ich besteigen konnte.
Sehr bewegend war zudem der Besuch in Sopron, in dessen Nähe ein Teil des „Eisernen Vorhangs“ verlief, den die Ungarn 1989 mutig durchtrennten. Nicht zuletzt will ich erwähnen, dass ich gute Kontakte zu ungarn-deutschen Gemeinden knüpfen konnte.
Auf diese Weise gewann ich einen Eindruck von der Vielfalt der kulturellen, historischen und politischen Entwicklung des Landes, die oft auch heroisch und leidvoll verlief. Und diesen Eindruck konnte ich mit nahezu jeder Zeile des von Zoltán Szalai und Balázs Orbán herausgegebenen Buches über den ungarischen Staat erweitern, vertiefen und zuweilen auch korrigieren.
Eine facettenreiche Beleuchtung der Vielfalt Ungarns
Das Buch „Der ungarische Staat“ umfasst 29 Beiträge und beleuchtet die Entwicklung des „ungarischen Staates“, dessen Wurzeln mehr als tausend Jahre zurückreichen, aus historischer, ethnischer, kultureller, gesellschaftlicher, staatsrechtlicher, politischer und wirtschaftlicher Sicht. Die Beiträge stammen aus der Feder namhafter Personen aus Wissenschaft, Kunst, Politik, Wirtschaft und dem öffentlichen Leben.
Man kann das Buch am Stück lesen, sinnvoller wäre es jedoch, sich anhand der jeweiligen aktuellen politischen Diskussion und der Kritik aus der EU und vor allem auch aus Deutschland gezielt einzelne Beiträge vorzunehmen, um die ungarische Politik im Innern, aber auch nach außen – gegenüber der EU wie auch in der internationalen Einbindung – besser zu verstehen. So kann man nach und nach einzelne Aspekte wie Mosaiksteine zusammenfügen und tiefere Einblicke über die ungarische Mentalität und die ungarische Politik gewinnen.
Ungarn – eine gespaltene Gesellschaft?
Oft wird moniert, dass die derzeitige Regierung die Spaltung der Gesellschaft vorantreibe. Positiv kann man sagen, dass es keine Spaltung gibt; es ist vielmehr ein Ausdruck der Freiheitsliebe der Ungarn, die man auch dem Buch entnehmen kann. Die Ungarn lassen sich ungern etwas apodiktisch vorschreiben.
Es gibt indessen eine negative Seite. Sie liegt in der parteipolitischen Entwicklung nach der Wende. Zum einen entstanden neue Parteien konservativ-freiheitlichen Zuschnitts, und zum anderen eine Reihe von Parteien, die ihre kommunistischen Wurzeln und Ideen nur mühsam abstreifen konnten, diese bisweilen aber auch nur notdürftig verhüllen. „Die stärkste Partei der Linken ist bis zum heutigen Tage der Rechtsnachfolger der kommunistischen Staatspartei“, was dazu führt, dass „Ungarn seit 1990 eine konfrontative Demokratie“ ist (Gulyás, S. 17).
Verblüffend ist, dass die EU gerade mit dieser parteipolitischen Richtung lieber zusammenarbeitet als mit konservativ-freiheitlichen Parteien. Insofern ist sie, die EU, eifrig dabei, die negative Spaltung voranzutreiben. Als Ansatz dazu dient stets die Kritik an Orbáns Rede von der „illiberalen Demokratie“. Zugegeben, der Ausdruck, den Orbán übrigens nicht mehr verwendet, ist missverständlich, aber er selbst hat darauf hingewiesen, dass ein falsch verstandener Liberalismus die gesellschaftliche Mitte untergraben und geschwächt hat, und dass dieser die christlichen Werte zunehmend negiert, auf denen die Entwicklung zur Demokratie in Europa beruht. Auch diese geschichtliche Fundierung ist in dem Buch klar beschrieben (Demeter, S. 273 ff.).
Ungarns Verfassung: Neutral und dennoch wertegebunden
Daraus folgt nicht, dass alles dem Christlichen unterzuordnen sei. Verfassungsrechtlich ist der ungarische Staat zur Neutralität gegenüber weltanschaulichen Einstellungen verpflichtet. Insbesondere die Juden, die sich in Ungarn frei entfalten können, nehmen das dankbar zur Kenntnis, wie ein Beitrag von Slomó Köves, einem führenden Rabbiner in Ungarn, zeigt: „Alles in allem war in Ungarn in den letzten zwei Jahrzehnten eine jüdische Wiedergeburt im Gange“ (S. 383).
Auch ethnische Wurzeln werden geachtet, wie man am Verhalten des Staates gegenüber nationalen Minderheiten und den ihnen zustehenden Rechten ablesen kann (Balogh, S. 385 ff.). So sah es übrigens auch das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss von 1974, an den es sich offensichtlich ungern erinnert.
Ein wichtiger Aspekt der „Neutralität des Staates“ ist zudem die Ausrichtung am Grundsatz der sogenannten „Government under the Law“. Entgegen den permanenten Vorwürfen von Seiten der EU hält sich Ungarn an diesen Grundsatz. Es fühlt sich sowohl dem historischen Verfassungsvermächtnis verbunden, aber auch dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung der Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten (B. Orbán, S. 349 f.).
Das Buch bietet mit seinen Beiträgen eine breite Vielfalt des Staates Ungarn, die von der Geschichte, Kultur, Kunst, Gesellschaft und Politik bis hin zur Wirtschaft reicht. Was die Wirtschaftspolitik anbelangt, so finden sich in den Beiträgen immer wieder Bezüge zu jeweiligen wirtschaftlichen Auswirkungen. Ganz aktuell wird der Umgang mit der Wirtschafts- und Eurokrise von 2008 beleuchtet, die Ungarn – obwohl nicht Mitglied in der Eurozone – natürlich auch betroffen hat. Und man findet Erklärungen für den wirtschaftlichen Aufschwung nach 2010 sowie die Ausrichtung der Politik der ungarischen Nationalbank.
Die Stephanskrone – das historisch verbindende Element
In einem Land, dessen führende Vertreter nichts mehr mit Begriffen wie Heimat und Vaterland anzufangen wissen, und die sich aus der Geschichte stehlen wollen, indem sie Namen wie Otto von Bismarck sowie Ludwig Erhard missachten und den Namen „Preußen“ am liebsten so schnell wie möglich tilgen wollen, mag der Umgang Ungarns mit seinen Staatssymbolen belächelt werden. Mich jedenfalls hat die Bedeutung der Stephanskrone – wie man gerade jetzt bei einer feierlichen Zeremonie am 6. Januar 2023 in Budapest beobachten konnte – tief beeindruckt. Sie hat eine eigene Rechtspersönlichkeit. „Sie ist der einzige rechtmäßige irdische Inhaber der obersten Macht über Ungarn“ sowie „die Quelle allen ungarischen Rechts“. Als solche vermittelt sie die von Gott stammende irdische Macht mit der ungarischen historischen Verfassung (Horváth, S. 115).
Dieses ungewöhnliche Rechtskonstrukt stößt sich zunehmend mit dem in der EU um sich greifenden säkularem Denken. Dieses Rechtskonstrukt spiegelt aber auch die tiefwurzelnde Bedeutung der Stephanskrone für die ungarische Identität und Souveränität wider. Die „kritischen europäischen Eliten“ täten gut daran, sich damit zu beschäftigen. Unter dem Motto der EU „Einheit in Vielfalt“ droht nämlich die Vielfalt gerade zermalmt zu werden. Dem stellt sich Ungarn entgegen, und genau dieser Widerstand bildet den Kern im Streit mit der EU.
Wünschenswerter wäre es, dem Beispiel Ungarns zu folgen und dementsprechend von der „Vielfalt in der Einheit“ zu sprechen. So verstehe ich sinngemäß auch den Beitrag von Zoltán Szalai (S. 197 ff., insbes. S. 197): „Die Europäische Union trägt wohl dazu bei, die Grenzen zwischen ihren Mitgliedstaaten zunehmend durchlässig zu machen, strukturelle Differenzen verschwinden deswegen jedoch nicht, und kulturelle Unterschiede auch zwischen Nachbarn werden erhalten bleiben.“
Und ganz aktuell: Genau das hat Papst Franziskus bei seinem gerade zu Ende gegangenen dreitägigen Besuch in Ungarn mit dem Hinweis ausgedrückt, dass bei aller Wertschätzung der EU das Ganze nicht die Teile überwältigen dürfe. (Siehe dazu dieses BZ Magazin, S. 7)
Fazit: Ein Muss – auch für Kritiker
Das Buch ist unbedingt lesenswert, auch und gerade für Kritiker, denn Ungarn und Deutschland verbindet nicht nur die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“, die Beziehungen reichen vielmehr bis in die Zeit von 1848 und davor zurück. „Die beiden Länder verbinden mehr Dinge miteinander, als sie voneinander trennen.“ (Gulyás, S. 23).
Prof. em. Dr. Siegfried F. Franke, Gastprofessor an der Andrássy-Universität Budapest, lehrte an der Universität Stuttgart und an der Andrássy-Universität Budapest.
Zoltán Szalai / Balázs Orbán (Hrsg.):
Der ungarische Staat – Ein interdisziplinärer Überblick
Verlag Springer VS, 2021
536 Seiten
89,99 Euro