Rezension: „In Gottes Hand“ von Gábor Sztehlo
Ein Glaubensbekenntnis in lebensnahen Farben
In der Zeit nach dem Krieg wird „Gaudiopolis“, die Stadt der Freude, gegründet, in der – noch mehr als es zu Kriegszeiten der Fall war – bedürftige Kinder unterschiedlichster Herkunft aufgenommen wurden. Im Buch „In Gottes Hand“ schildert Sztehlo seine Erinnerungen an diese Zeit.
Die grenzenlose Liebe Gottes
Das durchlittene Leid und die erfahrende Gnade werden in lebensnahen Farben geschildert. Sie haben Gesichter, Namen, Einzelschicksale. Sztehlo formuliert es so: In jenem Jahr ab März 1944 „erfuhr ich die unermessliche Niedertracht der Menschen und die grenzenlose Liebe Gottes und erhielt Antworten auf die Fragen, die mich und andere quälten. Mithilfe meiner Aufzeichnungen möchte ich diese Antworten an seelenverwandte Menschen und an interessierte Geschichtsforscher weitergeben, denen diese Chronik in die Hände gefallen ist.“ „In Gottes Hand“ ist mehr als ein Zeitzeugendokument: Es ist ein Glaubensbekenntnis.
Im März 1944 setzen die in Sztehlos Aufzeichnungen geschilderten Ereignisse nicht nur ein, sondern beginnen sich sogleich zu überschlagen. Sztehlo, zu diesem Zeitpunkt noch als lutherischer Pfarrer im Dienste seiner Kirche, erhält neben der Aufgabe der Krankenhausseelsorge auch den Auftrag, beim Verein „Der gute Hirte“, der sich um jüdische Kinder kümmert, die lutherische Seite zu vertreten.
Gerade in diesen Tagen begann seine Arbeit besondere Brisanz zu gewinnen: Ungarn war vom Deutschen Reich besetzt worden – und Friedrich Born, vom Internationalen Roten Kreuz nach Budapest entsandt, erkannte schnell die hieraus resultierende Gefahr für die in Ungarn lebenden Juden. Es bestand also Handlungsbedarf – und so kontaktierte Born Gábor Sztehlo und vermittelte ihm einen tieferen Einblick in das aktuelle Schicksal der Juden in Europa. Sztehlo wusste, was sein Auftrag war.
Kindern die Hand gereicht
Von diesem Ausgangspunkt beschreibt Gábor Sztehlo, wie er sich für die jüdischen Kinder in Budapest einsetzte. Kinder, deren Eltern geflüchtet waren. Kinder, deren Eltern verschleppt, misshandelt, getötet wurden. Kinder, die mehr als ein Teil einer Statistik sind. Kinder mit Namen und Gesicht. Ihnen reichte Sztehlo die Hand.
Das Jahr von März 1944 bis März 1945, das in dem Buch besonders deutlich geschildert wird, lässt den Leser mitgehen und mitsehen, was Sztehlo erlebte: Menschen in tiefstem Leid und größter Not. Und Gott, der so oft Beistand und Hilfe schenkt.
Es ist eine recht wechselvolle Geschichte, die hier beschrieben wird – weit entfernt von einem Heldenepos. Denn gewiss war neben dem Idealismus auch viel Naivität im Handeln des jungen Pfarrers. Das wird zum Beispiel dann klar, wenn er schildert, wie er mit Hilfe eines Anwalts eine Villa erwirbt, in der er ein Heim für jüdische Kinder aufbauen wollte. Nach der Zahlung der viertausend Pengő kann sich der bewusste Anwalt bei der Schlüsselübergabe nicht mehr so recht an ihn erinnern, droht ihm gar mit der Polizei. Zuvor hatte ihm Sztehlo unvorsichtiger Weise eröffnet, zu welchem Zweck er die Villa erwerben wollte.
So manche Moment, in denen manch einer aufgegeben hätte, in denen es entmutigend ist, in denen es bedrohlich wird. Und in dem Freunde raten, es doch besser bleibenzulassen.
Mehr geben als Schutz vor dem Tod
Entscheidend ist die Wiederbegegnung mit Friedrich Born und damit der Beginn der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Roten Kreuz. Es ist bewegend zu lesen, unter welchen Bedingungen die Heime gegründet werden, wie notdürftig die Ausstattung ist, wie gegenwärtig die Gefahr ist, aufgespürt zu werden, und wie ungelernte Angestellte mit Herzensbildung versuchen, den Kindern in den immer mehr Heimen weit mehr zu geben als Schutz vor dem Tod.
Von Freiräumen der Heranwachsenden schreibt Sztehlo, von der Beachtung der individuellen Bedürfnisse. Es offenbart sich ganz nebenbei ein weit aktuelleres und umsichtigeres Bildungskonzept, als man es dem Jahr 1944 und der Situation der Bedrängung, des Versteckens und wenig später der Bombennächte in den Kellern zugetraut hätte. Mengenweise traumatisierte Kinder durch Verfolgung und Krieg bringen, auf dass nicht nur ihr Leben gerettet werde, sondern sie auch an ihrer Seele keinen Schaden nehmen. Geborgenheit, Liebe, Wärme unter dem Eindruck eiskalter Bombennächte.
Nahaufnahmen
Sztehlo beschreibt Nahaufnahmen. Er schildert den unter der Treppe liegenden Sozialisten, dem er Zuflucht gewährt, und den die Soldaten bei einer Durchsuchung nicht entdecken.
Er erzählt von einer – der vielen – Umsiedlungen von Kindern aus einem unbewohnbar gewordenen Heimort an einen sichereren Ort, bei der ausgerechnet ein deutscher Soldat hilft und ein – wie Sztehlo es beschreibt – durch dessen Physiognomie durchaus als jüdisch erkennbares Kind trägt.
Er schildert in warmen Farben das Weihnachtsfest 1944, das allen Widrigkeiten zum Trotz, im Miteinander mit den Kindern zu einem besonderen Erweis von Gottes Nähe wird.
Er erzählt von unglaublichen Verkettungen höchst glücklicher Umstände, die ihm und den ihm Anbefohlenen die Versorgung sichern und das Leben retten.
Er berichtet von der notdürftigen Bestattung einer Frau, die in der Neujahrsnacht von einem Granatsplitter tödlich getroffen worden war.
Er geht entlang an den Bildern, den Eindrücken, den Gefühlen eines besonderen Jahres – und er nimmt die Leser mit. Er lässt sie durch seine Zeilen sehen und fühlen, was er gesehen und gefühlt hat.
Die Stadt der Freude
Er schildert auch, wie im Luftschutzkeller bei der Bombardierung Budapests Zukunftspläne in ihm reifen: Was ist, wenn das alles vorbei ist? Wie viele Kinder bleiben auch dann noch allein, wenn der Spuk des Krieges vorbei ist?
Die Idee beginnt in ihm heranzureifen: „Gaudiopolis“, Stadt der Freude – so wird jener Ort heißen, an dem Kinder in Not aus allen Ständen zusammenkommen. Es würden dort auch Kinder zusammenleben, deren Eltern sich feindlich gegenüber gestanden hatten. Und sie würden aus ihrem Kreis selbst Minister und einen Ministerpräsidenten stellen. Sie würden ebenso Geborgenheit und Nähe erleben, wie schon die Kinder in den Heimen der Jahre 1944/45.
Keine Selbstbeweihräucherung
Was macht das Buch „In Gottes Hand“ so besonders? Es ist keine Dokumentation eines Historikers, der sich durch das Heranziehen vieler Quellen ein eigenes Bild gemacht hätte. Es ist auch keine Schrift, die von damals Geretteten aufgezeichnet worden wäre. Sondern Gábor Sztehlo selbst schildert seine Erinnerungen. Ob das schon aus sich selbst heraus eine Empfehlung ist, sei vorläufig dahingestellt. Wenn große Menschen auf große Taten zurückblicken, in denen sie selbst eine wichtige Rolle spielten, besteht die Gefahr der Selbstbeweihräucherung.
Um es klar zu sagen: Sztehlos Buch steht nicht in dieser Gefahr. Er hielt seine Erinnerungen erst knapp zwei Jahrzehnte nach den Ereignissen schriftlich fest. Er gewann damit auch selbst einen gewissen Abstand zu den Geschehnissen und kann dadurch über vieles reflektieren, was mit ihm, durch ihn und um ihn herum geschah.
Sztehlo schont sich nicht, nicht nur beim bereits erwähnten Kaufversuch einer Villa. Nachdem es im Dezember 1944 gelang, eine größere Menge an Lebensmitteln zu besorgen, vermerkt er: „Wir konnten natürlich nicht voraussehen, dass wir später gezwungen sein würden, einige der Heime zu räumen und unsere Vorräte zurückzulassen. Wir waren naive Zivilisten, die nichts vom Krieg verstanden.“ Immer wieder blickt er kritisch zurück. Wie viele Leben mehr hätten sie retten können, wenn sie sich für diesen oder jenen Schritt entschieden hätten. Ein Rückblick frei von Selbstzufriedenheit. Im Gegenteil: Immer wieder treibt ihn die Frage um, was er mehr hätte tun können.
Für sich selbst niedergeschrieben
Was das Buch noch ehrlich erscheinen lässt ist, dass Sztehlo bei dessen Niederschrift keine große Leserschaft im Auge hatte. „Vielleicht der eine oder andere, der diese Zeit mit mir erlebt hat. Oder ein interessierter Geschichtsforscher.“ Es scheint aber, als hätte Sztehlo diese Erinnerungen für sich selbst niedergeschrieben. Einem Tagebuch ähnlich, nur eben mit etlichen Jahren Verzögerung. Es geht ihm nicht darum, sich ins rechte Licht zu rücken. Er blickt zurück – und erlebt noch einmal in so vielen hoffnungsvollen und hoffnungslos erscheinenden Momenten die Nähe und Liebe Gottes.
Blickt man nach der Lektüre des Buches auf, mag es sein, dass man noch manche Granate hört oder die Eindrücke der zerstörten Häuser Budapests vor sich hat. Das Gesicht manch eines traumatisierten Kindes mag sich ins Gedächtnis eingebrannt haben. Die lebensechten Eindrücke mischen sich wohl für einige Momente mit dem Alltag des Lesers. Und gewiss wird dann mancher Moment des Alltags in einem anderen Licht erscheinen.
„IN GOTTES HAND“ von Gábor Sztehlo, auf Deutsch erschienen im November 2020.
Herausgegeben vom Martin-Luther-Bund.
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Der Autor ist seit 2013 deutscher Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde in Sopron.