Zum 90. Geburtstag von Literaturnobelpreisträger Imre Kertész
Schreiben als Schicksalsfrage
Als 1975 sein erstes Buch, der Roman eines Schicksallosen erschien, wandte er sich in der Befürchtung, sein Werk werde „bald totgeschwiegen in der staubig-schimmligen Tiefe ungarischer Kellergewölbe landen“, mit jenem unglaublichen Ausspruch an den Redakteur seines Verlags: „Mir kann nur noch der Weltruhm helfen.“ „In jenem Augenblick“, schreibt er weiter in seinem Tagebucheintrag vom Januar 1995, „war dies genau so eine unglaubliche Erklärung, wie noch 1954 mein Entschluss unglaublich war, „Schriftsteller“ zu werden, ein Schriftsteller, wie er hier nicht vorstellbar ist, weil er nicht von der Pragmatik ausgeht, sich nicht den hiesigen Verhältnissen andienert und seinen Maßstab – wie soll ich es sagen – an der Ewigkeit anlegt“.
Erbarmungslose Analyse unglaublicher Dinge
Wenn wir es uns genauer überlegen, war das Leben von Imre Kertész eine Aneinanderreihung von unglaublichen Dingen und sein Werk die erbarmungslose Analyse dieser unglaublichen Dinge, die jederzeit mit einer strengen Selbstprüfung einherging. Nachdem er den Roman eines Schicksallosen am 9. Mai 1973 beendet hatte, dessen Veröffentlichung der Magvető-Verlag bereits Ende Juli ablehnte, legte er für sich Rechenschaft ab, wobei in ihm der Entschluss reifte, das Manuskript des Romans ins Ausland zu schmuggeln, um es dort erscheinen zu lassen – das Original dieses Entwurfs ging verloren, wobei er jedoch Abschnitte davon in seinem zweiten Roman Fiasko verwendete; die nachträgliche Rekonstruktion besagten Manuskripts war eine unserer letzten Arbeiten.
Darin resümiert der Schriftsteller hinsichtlich der unglaublichen Umstände seiner eigenen Geburt: „Als ich zur Welt kam, stand die Sonne im Zeichen der größten Weltwirtschaftskrise, die man bis dato kannte, vom Empire State Building bis zum Turul-Vogel an der Spitze der damaligen Franz-Joseph-Brücke stürzten sich Leute überall auf dem Erdenrund von den unterschiedlichsten Erhöhungen verzweifelt durch Sprünge ins Wasser, in einen Abgrund oder auf Pflastersteine – jeder, wohin er eben konnte – in den Tod.
Ein Parteiführer namens Adolf Hitler wandte sich auf den Seiten seines Werks Mein Kampf mit einem zutiefst widerwärtigen Gesicht gegen mich, das erste ungarische Judengesetz, der Numerus Clausus erreichte seinen Zenit, noch bevor es von den anderen Judengesetzen abgelöst worden wäre. Sämtliche irdische Zeichen (von den himmlischen weiß ich erst gar nichts) kündeten von der Überflüssigkeit meiner Geburt, ja mehr noch: von ihrer Unsinnigkeit. Obendrein kam ich selbst meinen Eltern zur rechten Unzeit, denn sie waren gerade gewillt, sich scheiden zu lassen. Ich war also das Produkt von Liebesspielen eines Paars, das sich gar nicht liebte. […]
Geboren und erzogen zum Ausradiert werden
Ich war das gemeinsame Söhnchen meines Vaters und meiner Mutter, die fortan nichts mehr miteinander zu tun haben wollten; Zögling einer privaten Einrichtung, in die sie mich – während sie ihren Scheidungsprozess abwickelten – zur Beaufsichtigung gaben; Schüler einer Schule, winziger Bürger des Staates. […] Von allen Seiten eingekreist wurde mein Bewusstsein in Besitz genommen: man erzog mich. Mal mit lieblichen Worten, dann wieder mit strengen Verwarnungen machten sie mich allmählich reif, ausradiert zu werden. Nie protestierte ich, ständig war ich eiligst bemüht, das zu tun, wozu ich mich imstande fühlte: Mit einem matten Wohlwollen verfiel ich meiner Neurose der guten Manieren. Ich war ein bescheiden strebendes, in seinen Fortschritten nicht immer einwandfreies Glied in der gegen mein Leben gerichteten stummen Verschwörung.“
Dieser Neurose der guten Manieren hat er zuzuschreiben, dass er nicht flieht, als sich dazu die Gelegenheit ergibt, sondern gehorsam den Waggon nach Auschwitz betritt, um ein Jahr später in der gleichen, schicklichen Weise in keinem der ihm als Schutzbedürftigem angebotenen westlichen Länder zu bleiben. Stattdessen besteigt er in Buchenwald den Zug nach Budapest, um dort gehorsam seinen Weg eines neuerlichen Anpassungsprozesses fortzusetzen.
Er schlägt eine Laufbahn als talentierter Journalist ein, schreibt Textbücher für erfolgreiche musikalische Komödien, er rebelliert nicht und dissidiert nicht, weder 1948 noch 1956, obgleich die Gelegenheiten dazu da gewesen wären. Mit seiner Frau aus der ersten Ehe, Albina Vas, bringt er Jahrzehnte in einer lebensunwürdigen Junggesellenwohnung auf 28 Quadratmetern zu, schlicht als Symbol der Fortsetzung seines Gefangenenlebens, als Kerker und Zufluchtsort seiner freiwillig gewählten geistigen Existenz.
Schicksalswendende Entscheidung
In scheinbar allen Dingen passt er sich seiner äußeren Umwelt an, den sich ihm bietenden Entfaltungsmöglichkeiten, bis er unter dem Eindruck eines Erlebnisses, das nacherzählt sein will (und das er später in der Tat in einen seiner Romane einbaute) eine ihm eigene, unglaubliche, sein Schicksal wendende Entscheidung trifft: Als Journalist ohne Anstellung erhält er im Januar 1956 einen Gelegenheitsauftrag von Seiten der damaligen Tageszeitung Magyar Nemzet, er möge einen Artikel schreiben über die Gründe für die regelmäßigen Verspätungen der Züge.
Diese Begebenheit hat Imre Kertész wiederholt aufgegriffen, beispielsweise in seiner Rede in Stockholm, lassen Sie mich jedoch an dieser Stelle ein Zitat zu diesem Ereignis aus unserem noch unveröffentlichten Lebensinterview bringen: „Ich stand auf einem langen Flur, der vollkommen leer war, als ich plötzlich Schritte vernahm vom kürzeren Flügel dieses Flurs in L-Form, den ich ja nicht einblicken konnte. Diese Schritte waren es, die einen Anstoß in mir auslösten…
Wie aus heiterem Himmel hatte ich eine Vision, was denn diese Schritte bedeuten, dass ich ständig in diesen Schritten lebte: Schreiten, immer nur schreiten, in einem großen historischen Umgang, wo Hunderttausende, ja Millionen marschieren, und wo der Einzelne entweder mit den anderen marschiert oder zur Seite tritt. Ich habe damals entschieden, zur Seite zu treten. Ich hatte dieses Erlebnis, wie später beim Übersetzen Nietzsches, also ein Dionysos-Erlebnis, bei dem es sich im Grunde genommen um ein Massenerlebnis handelt, das das Wesen der Diktatur darstellt. Eine solche Diktatur, die wie jene der Nazis oder der Kommunisten aus ständigen Feiern und Selbstbeweihräucherungen besteht und die imstande ist, einen wilden Hass ins Hemmungslose zu steigern, verfügt für die fanatisierte Menge über eine unvorstellbare Anziehungskraft.
Der Mensch wird ergriffen, und wenn ihn erst dieses Dionysos-Erlebnis ergreift, dann kann er sich diesem nicht länger entziehen, denn dann hat er sich selbst längst aufgegeben, seine Persönlichkeit aufgegeben, ist Teil der Masse geworden, als der er sich an das Chaos gewöhnt und es lieben lernt. Ich habe verstanden […], die Gefahrenmomente dieses Dionysos-Erlebnisses erkennend, dass es mich zu einer Wahl nötigt, weil ich sehe, wie leicht es ist, daran teilzuhaben.
Ich glaube, es war eher ein existenzieller Augenblick, wobei ich hier die Aufgabe, ein Schriftsteller zu sein, praktisch binnen eines Augenblicks erhielt. Es war gewissermaßen ein mystisches Erlebnis, selbst wenn es ganz offensichtlich war, dass in meinem Inneren seit langer-langer Zeit, seit Monaten und Jahren etwas heranreifte, was aber wirklich in jenem Augenblick die Bühne der großen Welt betrat. Sowie ich diese Schritte hörte, gewann es eine klare Artikulation in mir, wovon mein Thema des Schriftstellerseins handeln wird. Diese Distanz, die meine Werke wohl prägt, entstand dort, dort verspürte ich ganz klar diese Pflicht des Außenstehenden, des Betrachters.“ (Übrigens schrieb er den besagten Artikel im Auftrag der Tageszeitung Magyar Nemzet, der dort schließlich am 8. Februar 1956 erschien.)
Selbständiger Schriftsteller ohne Selbstaufgabe
Kertész beginnt seine Tätigkeit als „selbständiger Schriftsteller“ (wie er lange Zeit in seinem Personaldokument geführt wurde) in einem Umfeld, wo die Grundvoraussetzung der Selbstverwirklichung für den Einzelnen in der Selbstaufgabe und Korrumpierung bestand. Scheinbar passt sich Kertész auch weiterhin den Umständen an, was aber nun gegen das System geschieht: Insgeheim, praktisch in der Illegalität beginnt er seine unglaublich anmutende, jede Garantie auf Erfolg missende Arbeit, und es müssen neunzehn Jahre ins Land gehen, ehe er sein erstes Buch gedruckt in Händen halten kann.
Er ist bereits sechzig Jahre alt, als ihm die erste Literaturanerkennung, der Attila-József-Preis, zuteil wird. Der Erfolg erreichte ihn zu spät, um ihn zu verderben oder zu Kompromissen gleich welcher Art zu verleiten, auch sich selbst gegenüber. Das geistige Exil nahm er als selbstverständlich hin, dem er die eigene Lebensführung, die schriftstellerische Strategie anpasste: „Ich hätte gar nicht überleben, die hiesigen Lebensverhältnisse hinter mir lassen können, wenn ich nicht versuchte, mich abzusondern, eine geistige Existenzform zu schaffen, in der diese Sonderstellung für mich zuerst akzeptabel und schließlich schöpferisch wird. – So mag es denn auch paradox klingen, aber ich habe den vergangenen vierzig Jahren sehr viel zu verdanken, beispielsweise den Umstand, dass man mich nie als Schriftsteller betrachtete, und ich persönlich, der ich gar nicht bestrebt war, in das Literaturleben einzutreten, dieser Kaste sehr fremd gegenüberstand. Das gab mir meine Perspektive…“
Sein Leben zu einem Werk gestalten
Immer wieder zitierte er die Definition von Emerson, wonach als Heros gilt, wer aus dem eigenen Zentrum unverrückbar ist. Das interpretierte er für sich in der Weise, dass er vor allem die eigene Persönlichkeit formen und sein Leben zu einem Werk gestalten muss. Wie es im Klappentext zu Fiasko zu lesen ist: „Meine Moral lautet, den gleichen Roman zu leben und zu schreiben.“
Schreiben war für ihn eine Schicksalsfrage, gleichzeitig aber auch Schauplatz des Ringens um Gewinn und Rückeroberung der Identität. In allen Werken von Kertész können wir Beispiele von der schweren Verantwortung lesen und annehmen, wie unser Leben Interpretation gewinnt, wie es sich zu allen Zeiten, aber ganz besonders gegenüber Diktaturen, die sich des Individuums bemächtigen wollen, zum individuellen, ureigenen Schicksal gestalten lässt, und ob unsere eigene Geschichte Lehren für andere bereithalten kann. Das ganze Leben und Werk von Kertész handelt vom Prozess und vom Preis dieses Ringens, und mindestens genauso sehr davon, was wir mit dieser an uns vererbten Last, diesem Erfahrungsschatz anfangen können.
Kertész gehört im Zuge seines persönlichen Schicksals und der durchlebten Erfahrungen zu den wenigen, die gleichermaßen Gemeingültiges über die beiden schrecklichen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu sagen vermochten. Der Wert seiner Werke ist im Zeugnisablegen zu suchen, das bei ihm nie Vergangenheit bedeutet und seine Leser existenziell anspricht. Zwar musste Imre Kertész für seine Haltung als Außenstehender einen nicht geringen Preis bezahlen, doch blieb er noch in den dunkelsten Zeiten der Geschichte ein freier Mann, dessen Bücher in dieser Freiheit gezeugt wurden.
Wenn man ihm eines nicht verzieh, dann war es das, und er wäre einem selbst für diese Landstriche noch ungewohnt schnellen Vergessen anheimgefallen, wenn da nicht der Weltruhm eingetroffen wäre, eine weitere unglaubliche Wende, die „Glücks-Katastrophe“ des Nobelpreises, wie er es nannte.
Würdevolle Beendigung des Lebenswerkes
Sein Lebenswerk konnte er unbeeindruckt von seiner parallel zum wachsenden Erfolg fortschreitenden Krankheit würdevoll beenden – zumindest in der Form, wie er es selbst sehen und sichtbar machen wollte. Diese Form aber ist (und das wusste er nur zu gut) in ihrer eigenen Abgeschlossenheit doch nur fragmentarisch, denn nicht nur jenes Erbe ist mächtig und bedarf einer systematischen Pflege, das wir (gut, schlecht, mit nicht wenigen Fehlinterpretationen) kennen, auch die bislang unveröffentlichten oder aber vergessenen Werke machen mindestens noch einmal den gleichen Umfang aus.
Das den Namen des Schriftstellers tragende Institut wurde unter anderem auch darum geschaffen, damit einst auch dieser noch unbekannte Teil seines Werks unser gemeinsames Erbe sein kann. Nicht allein, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, sondern für unsere eigene Selbsterkenntnis ist es wünschenswert, dass dieses außergewöhnliche Lebenswerk einmal tatsächlich in seinem vollständigen Umfang zugänglich sein wird.
Pflichten der Trauer und der Andacht nachgekommen
Wenn auch nur kurz und skizzenhaft, sei doch erwähnt, dass wir unseren Pflichten der Trauer und der Andacht nachgekommen sind, indem eine Gedenktafel am Wohnhaus des Schriftstellers in der Török utca angebracht wurde, indem (dem Wunsch von Magda Kertész entsprechend) das Grabmal fertiggestellt wurde, und indem mit der Aufarbeitung der noch nicht publizierten Werke sowie dem Erfassen der dem Schriftsteller zuzuordnenden Dokumente begonnen wurde.
Im Internet kann ausführlich ein von ihm handelndes und in dieser Art außergewöhnliches Digitales Wissensarchiv durchstöbert werden, während eine Wanderausstellung die Lehrjahre zwischen 1934 und 1955 zeigt, ebenso wie den erschütternden Lebensweg der ersten Ehefrau des Schriftstellers. Selbstverständlich unterstützen wir darüber hinaus noch weitere Projekte. Wir befinden uns erst am Anfang der zu bewältigenden Aufgaben und haben noch jede Menge vor uns, um einst in den wahren Dimensionen erfassen zu können, was alles wir diesem herausragenden Schöpfer zu verdanken haben.
Der Autor ist Literaturwissenschaftler und Direktor des Imre-Kertész-Instituts. Das hier veröffentlichte Essay basiert auf einer Rede, die Zoltán Hafner am vergangenen Freitag aus Anlass der Einweihung eines Grabmals zu Ehren von Imre und Magda Kertész auf dem Friedhof an der Fiume út gehalten hat.