Evangelisch-Lutherische Kirche in Ungarn wird um eine Bibliothek reicher
Péter Esterházys Erbe im Schutz der Lutherrose
Verwalter der Bibliothek ist nun die Evangelisch-Lutherische Zentralsammlung. Gabriella H. Hubert, die Leiterin der Sammlung, Tamás Fabiny, der leitende Bischof, und Gergely Prőhle, der Landeskurator der ELKU, äußerten sich über die Schenkung, den geistigen Wert dieses besonderen Kulturschatzes und die theologischen Aspekte von Esterházy-Texten.
In der Szentkirályi Straße in Budapest – unter der Nummer 51 – befindet sich das Landeskirchenamt der ELKU und ebenso die Evangelisch-Lutherische Zentralsammlung. Neben zahlreichen Buchraritäten wird hier das Testament Martin Luthers und ein Exemplar der Vizsoly-Bibel, eine der frühesten ungarischen Bibelübersetzungen, aufbewahrt. Die Sammlung ist auch sehr stolz auf die Podmaniczky-Degenfeld-Bibliothek. Sie stammt aus dem Nachlass einer bekannten ungarischen lutherischen Adelsfamilie und bereichert die Sammlung seit 1929 als selbstständige Einheit. Nun kam die Bibliothek eines der bedeutendsten Autoren der zeitgenössischen ungarischen Belletristik, Péter Esterházy, mit rund 15.000 Bänden an ihre Seite.
Wie kam es zur Schenkung?
Der erste wichtige Moment in diesem Prozess sei mit der Benediktinerabtei Pannonhalma verbunden, so berichtet Bischof Tamás Fabiny. Dort war er auf Einladung des leitenden Abtes Cirill Hortobágyi und seines Vorgängers Asztrik Várszegi im Mai vorigen Jahres bei einer intellektuellen Gesellschaft zu Gast. „In einer Pause habe ich mit Gitta Esterházy gesprochen, die erzählte, dass sie ihre und Péter Esterházys Bibliothek vollständig erhalten möchte, hierfür jedoch noch einen Platz suche“, erinnert sich Fabiny. – „Hat die Evangelisch-Lutherische Kirche vielleicht eine Möglichkeit dazu?“, fragte sie. „Ohne zu zögern bejahte ich. Freilich verbunden mit dem Hinweis, dass ich mich vor einer endgültigen Entscheidung noch mit dem Landeskurator Gergely Prőhle und der Leiterin der Zentralen Sammlung, Gabriella H. Hubert, abstimmen müsse.“ Wenig später habe dann festgestanden, dass beide der Anfrage ebenso positiv gegenüberstanden. „Wir schätzen die edle Geste hoch, dass wir durch die Schenkung die Wächter und Wärter der Bibliothek von Péter und Gitta Esterházy sein können. Wir sind sehr stolz darauf“, so Fabiny.

Am 29. Oktober 2019 wurde nach den Vorbereitungen zwischen der Familie und der Evangelisch-Lutherischen Kirche die Schenkungsurkunde unterzeichnet. Im Winter wurden die fast 400 Buchlaufmeter in Kartons verpackt. Vorübergehend befindet sich die Bibliothek nun am Bischofssitz des nördlichen Kirchenbezirks, wo auch die Bearbeitung stattfindet. Der endgültige Ort der Bibliothek wird aber das Landeskirchenamt der ELKU sein.
In diesem Zusammenhang erzählt Tamás Fabiny: „Als wir Gitta Esterházy das Gebäude des Landeskirchenamtes und unserer Sammlung zeigten, führten wir sie stolz zur Büste von Martin Luther.“ Vor dem Postament befindet sich nämlich ein Stein mit der Aufschrift der Installation am Kálvin Platz, die zum 500. Reformationsjubiläum angefertigt wurde. Von den 95 Steinen haben wir den gewählt, auf dem Zitate von Martin Luther und Péter Esterházy zu lesen sind. „Luthers Frage war: Kann ich einen barmherzigen Gott finden? – Meine Frage ist: Kann ich einen barmherzigen Menschen finden?“, so wird Péter Esterházy zitiert. „Das zeigt vielleicht auch, dass Spiritualität und Kultur gleichermaßen zur Tradition der Evangelisch-Lutherischen Kirche gehören. Die evangelisch-lutherische Kirche hat in den vergangenen fünfhundert Jahren eine große konfessionelle Offenheit gezeigt, wenn es um die Wissenschaft und die Kultur ging. So kann es auch sein, dass Luther und Esterházy gut miteinander auskommen“, unterstreicht Fabiny.
Das Verhältnis zwischen Luthertum und Kultur
Gergely Prőhle erklärt, dass die Evangelisch-Lutherische Zentralsammlung in den letzten Jahren eine immer größere Reputation gewonnen hat: „Sowohl das Museum als auch die Bibliothek und das Archiv haben einen bedeutenden Nutzerkreis. Die museologische Bedeutung und die sorgfältige philologische Arbeit wird auch in internationalen Fachkreisen sehr anerkannt. In diesem Zusammenhang ist auch die architektonische Erneuerung des Standortes wichtig. Im Archiv im Erdgeschoss bewahren wir das Testament von Martin Luther auf, darüber befindet sich die Bibliothek und ganz oben unsere Kapelle. Das Gebäude selbst zeigt in seiner Symbolik die Einheit, die auch die Substanz der evangelisch-lutherischen Denkweise ist: Die Wissenschaft und die Offenheit gegenüber der Kunst sind uns sehr wichtig. Indes neigen wir aber nicht zu einem gewissen Kulturprotestantismus, sondern über all dem schwebt die uns bestimmende Geistlichkeit, das Wort Gottes.“

Der Landeskurator betont bezüglich der Esterházy-Bibliothek, es sei „Ausdruck eines gewachsenen Ansehens der evangelisch-lutherischen Wissenschaftlichkeit, dass die Bibliothek eines so bedeutenden Schriftstellers ausgerechnet zu uns gekommen ist“. Prőhle legt dar, dass er als Landeskurator stolz darüber sei, dass die evangelisch-lutherische Kirche kulturelle, literarische wie auch künstlerische Ansprüche hegt. „Unser Standort ist ein natürliches Umfeld für die Wissenschaft und die Kultur. Das ist aber keine Neuigkeit, sondern eine Rückkehr zur Tradition. Wir dürfen nicht vergessen: Ein ausgezeichneter Historiker, Elemér Mályusz, hat einst ebenfalls in diesen Wänden gearbeitet. Ein großartiger Vorgänger in meinem Amt, Albert Radvánszky, pflegte vor dem Zweiten Weltkrieg regen Kontakt mit den Wissenschaftlern und Künstlern seiner Zeit. Was wir heute tun, ist eine Weiterführung dieser edlen Tradition, da wir neben der Aufbewahrung unserer Antiquitäten nicht nur Bücher, sondern auch Meisterwerke der zeitgenössischen Bildenden Kunst sammeln“, würdigt Prőhle.
Gabriella H. Hubert betont, dass die Kirche nicht in erster Linie den Kultus im traditionellen Sinne, in diesem Fall den Esterházy-Kultus, pflegen möchte: „Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir möchten die alte Podmaniczky-Degenfeld-Bibliothek und die neue Péter-und-Gitta-Esterházy-Bibliothek miteinander verbinden und beide Bibliotheken in den Kreislauf der ungarischen sowie der evangelisch-lutherischen Kultur bringen.“ Die Direktorin betont ferner, dass die Kirche auch das Fenster zur Außenwelt öffnet. „Diese Fensteröffnung wird dadurch noch bunter, dass wir auf einem bisher für die Sammlung nicht so stark vertretenen Gebiet eine Wertbewahrung erzielen können. Die Bibliothek von Péter und Gitta Esterházy ist ein Wert – jedes Stück für sich, aber besonders auch im Ganzen –, den wir stolz bewachen und verwalten werden“, so Gabriella H. Hubert.
Was beinhaltet die Peter-und-Gitta Esterházy-Bibliothek?
„Die ungarische und die deutsche Literatur ist besonders vertreten“, erläutert Gabriella H. Hubert. „Es sind einige in der Familie vererbte Bücher und zahlreiche mit Widmung versehene Bände in der Sammlung zu finden. Die große Anzahl der Alben über die bildende Kunst weist auf den Interessenkreis von Gitta Esterházy hin, weiterhin sind in der Bibliothek auch viele historische Bücher.“
Nach den Worten von Tamás Fabiny habe die Familie Esterházy angeboten, neben der Schenkung der Bibliothek sämtliche bisher erschienene Bücher von Péter Esterházy – auch in Fremdsprachen – zur Verfügung zu stellen. Dies gelte auch für künftig erscheinende Ausgaben. Im Bibliotheksraum würden zudem nicht nur die Bücher, sondern auch einzelne private Gegenstände ausgestellt.
Gergely Prőhle meint zu den mit Widmung versehenen Exemplaren: „Für die Netzwerkforschung ist es bedeutungsvoll, mit welcher persönlichen Widmung die Bände versehen sind. Als ehemaliger Museumsdirektor halte ich es für wichtig, dass Bibliotheken von so ausgezeichneten Autoren wie Esterházy in Ungarn bleiben, da sie nur so richtig zu erforschen und zu bewerten sind sowie in die ungarische literarische, kulturelle Tradition eingegliedert werden können. Ich danke auch deshalb der Familie für diese Entscheidung. Dadurch wird die Sammlung auch ein Teil des öffentlichen ungarischen Sammlungsnetzes.“
Die Evangelisch-Lutherische Zentralsammlung plant nicht nur die Verwaltung und die Digitalisierung der Péter-und-Gitta Esterházy-Bibliothek, sondern auch ihre Ausweitung: „Wir starten eine digitale Suche und eine digitalisierte Sammlung der handschriftlichen Widmungen und Textkorrekturen von Esterházy. Wir bitten Leser, die Werke mit Widmungen von ihm besitzen, uns diese digital zuzusenden. Unser Ziel ist es, ein möglichst umfangreiches Archiv mit Widmungen aufzubauen“, so die Leiterin der Sammlung.
Ab wann wird die Bibliothek erreichbar sein?
Der Anfang der Aufarbeitung der Esterházy-Bibliothek war zunächst für April 2020 geplant. Dies musste aber wegen der Corona-Epidemie verschoben werden. Gabriella H. Hubert ist dafür, dass die Aufarbeitung und Eröffnung der Bibliothek stufenweise erfolgen soll: „Wie jede Einheit der Evangelisch-Lutherischen Zentralsammlung verfügt auch die Bibliothek über eine eigene Webseite. Auf der Webseite der Evangelisch-Lutherischen Zentralbibliothek findet sich die Péter-und-Gitta-Esterházy-Bibliothek, wo wir von den laufenden Arbeiten, Nachrichten und Ereignissen berichten. Ein Teil dieser Seite wird für die breite Öffentlichkeit, ein anderer für wissenschaftliche Zwecke zugänglich sein. Hier werden wir über den Zeitplan der Aufarbeitung, aber auch über die während der Arbeit entdeckten interessanten Einzelheiten berichten.“
Die feierliche Eröffnung der Bibliothek ist für den Herbst 2022 geplant. Bis dahin wird voraussichtlich auch die digitale Aufarbeitung fertiggestellt sein. „Ab dann wird die Bibliothek auch im virtuellen Raum erreichbar sein”, merkt die Leiterin der Sammlung an.
Péter Esterházy und die Theologie
„Die Erklärung der Gasttexte in den Esterházy-Texten war für die Anhänger der Literatur und Belletristik immer ein Unicum“, so Gabriella H. Hubert. Dadurch, dass die Bibliothek zur Evangelisch-Lutherischen Kirche gekommen sei, könne man nun hoffen, dass dies zur weiteren Erforschung eines wesentlichen Segmentes, nämlich zur Erklärung der biblischen und theologischen Gasttexte in den belletristischen Werken von Péter Esterházy führt.

„Das Buch mit dem Titel ‚Fuhrleute‘ ist voll mit Motiven aus der Apokalyptik und anderen theologischen Verbindungen, deren Verarbeitung theologisches Wissen verlangt“, so Tamás Fabiny. Der leitende Bischof der ELKU bemerkt zu dem Buch „Korrigierte Ausgabe“, in dem der Autor über die Komplizenschaft seines Vaters mit der kommunistischen Geheimpolizei schreibt, dass einerseits die dort thematisierte Agentenfrage sehr spannend sei, die schon damals in der Kirche als auch in der Gesellschaft oft Thema war, andererseits sei das Buch auch aus theologischer Hinsicht eine Schatzgrube: „Ich habe damals meine Habilitationsarbeit über Judas geschrieben. Es ist erstaunlich, wie anspruchsvoll Péter Esterházy viele Texte bezüglich Judas verarbeitet hat. Diese Texte hat er für seinen Vater gesammelt als Reflexion. Wir finden in der ‚Korrigierten Ausgabe‘ nicht einfach kirchliche und theologisch wirkungshistorische Erklärungen, sondern auch fachliterarisches Wissen. Esterházy hatte erstaunliche theologische Erklärungen und hat diese Gasttexte gleichzeitig belletristisch anspruchsvoll in seine Werke integriert.“
Fabiny hält das im Jahre 2013 veröffentlichte Buch von Péter Esterházy mit dem Titel „Die Markus-Version: Einfache Geschichte Komma hundert Seiten“ auch theologisch für eine sehr spannende Arbeit. Péter Esterházy habe zu diesem Werk eine ernste theologisch auf Markus bezogene fachliterarische Arbeit geleistet. „Péter Esterházy war im Januar 2015 zu Gast an der Evangelisch-Lutherischen Freien Universität in der Budaer Burggemeinde, um mit den Teilnehmern über dieses Buch zu sprechen. Er hatte damals nicht nur sein Buch, sondern auch ein theologisches Fachbuch mitgebracht, um korrekt zitieren zu können“, erinnert sich Fabiny.