Rezension: „aus meinen schenkeln entfaltet sich dein duft“ von Melinda Varga

Lust auf Erotik?

Während ich noch darüber nachdachte, ob sich die Rezension eines erotischen Gedichtbandes mit dem seriösen Image einer Literaturwissenschaftlerin vertrüge, erschien in der hiesigen Tageszeitung ein Artikel unter der fetten Überschrift „Sachsen unterstützt Gründerinnen eines Porno-Internetportals“.

Es handelte sich nicht etwa um Fake News – nein, im Stil neutraler Berichterstattung war zu lesen, dass zwei Gründerinnen dieses Start-ups eine personenbezogene Unterstützung aus dem Fördertopf „Inno­StartBonus“ in Höhe von 25.200 Euro erhalten, um ein „neues Bewusstsein für das Thema Pornographie jenseits des Mainstreams zu schaffen“. Aha. In diesem Kontext sollte wohl ein aus dem Ungarischen übersetzter Band erotischer Gedichte von Melinda Varga wenig Anstoß erregen – zumal weder für seine Druckkosten noch für diese Rezension sächsische Steuermittel in Anspruch genommen werden.

Keine Pornographie!

Wenn eine sich seriös gerierende Tageszeitung keine Bedenken hat, über Fördermittelbescheide für ein pornographisches Internetportal prominent zu berichten, sind meine Bedenken wohl überflüssig – außerdem ist Erotik auch noch lange keine Pornographie, und Brigitte Reimann, Günter Grass und Elfriede Jelinek (die in Claus Trägers „Sachwörterbuch der Literaturwissenschaft“ unter anderem als Verfasser erotischer Texte genannt werden) hätten sich zu Recht dagegen verwahrt, als Autoren von Schmuddelliteratur an den Pranger gestellt zu werden. Kommen wir zur Sache!

Auch die 1984 geborene Melinda Varga hat durchaus einen Platz unter den seriösen Lyrikern ungarischer Sprache verdient. Mit bereits acht Gedichtbänden darf sie zu den produktiven Autorinnen ihrer Generation gezählt werden. Nun liegt mit dem im Morio Verlag erschienenen Auswahlband eine erste deutschsprachige Übersetzung ihrer Texte vor. Ob der Titel „aus meinen schenkeln entfaltet sich dein duft“ gut gewählt ist, mag jeder Leser selbst entscheiden – denn weder die 37 lyrischen Texte, noch die zwischengeschobenen Fotos bedienen eindeutig-zweideutige Erwartungen, wie sie möglicherweise der Titel des Bandes weckt.

Melinda Varga: aus meinen schenkeln entfaltet sich dein duft erotische Gedichte (ungarisch und deutsch).
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke.
Morio-Verlag, 2023
142 Seiten, 24 Euro (bei Amazon)

Die antike Götterwelt lässt grüßen

Ganz im Gegenteil: Leser sollten sich mit einem gehörigen Fundus an Kenntnissen über die antike Götterwelt ausrüsten, wenn sie die zahlreichen Anspielungen auf die Damen und Herren des griechischen Olymps (und damit auch das geistige Anliegen der Gedichte) deuten wollen.

Dieses Wissen nachzuliefern, ist weder das Anliegen von Hans-Henning Paetzke (dem Nachdichter), noch das der Rezensentin: An Lexika zur Antike (und notfalls auch Wikipedia-Artikeln) herrscht bekanntlich kein Mangel (anders als noch zu Zeiten des banalen Sozialismus). Auch den Umgang mit reimloser Lyrik (natürlich mit unregelmäßigen Rhythmen) braucht man heutigen Lesern nicht umständlich nahezubringen – seit der Entstehung von Brechts gleichnamigem Aufsatz sind immerhin fast hundert Jahre vergangen, und Gereimtes findet man heute eher in folkloristischer Lyrik als bei „gestandenen“ Dichtern.

Ungewöhnliche Zuschreibungen

Formales sollte also die Rezeption von Vargas Gedichten nicht behindern. Eher wird man bei ungewöhnlichen Zuschreibungen göttlicher Eigenschaften stutzen, weil man diese bislang anderen Protagonisten zugeordnet hatte: So ist beispielsweise Artemis als Göttin der Jagd, der Fruchtbarkeit und des werdenden Lebens eine der griechischen Gottheiten, die den Menschen wohlgesonnen sind.

Ihr zu begegnen, war der Traum eines jeden Jägers. „Auf geraden Schultern den zarten, schmalen Hals, in ihrem Gesicht die Ruhe vollkommener, unverletzbarer Schönheit“ (S. 34) – so beschreibt Anna Seghers in ihren „Sagen von Artemis“ die Tochter des Zeus. Zart ist sie und mädchenhaft. Im Gegensatz dazu lesen wir bei Varga, Artemis sei „mächtig und stark“, sie ließ „orion durch einen skorpion töten“, ist „schlüpfrig und sexhungrig (…) allen hübschen mädchen / kratzt sie die Augen aus“ (S. 63).

Auch Aphrodite, die „lächelnde Gottheit der Liebe, der Schönheit und der Fruchtbarkeit“ (Götter, Helden, Ungeheuer, Berlin 1988, S.14), erscheint in dem Gedicht „wassermann“ als männerverzehrender Vamp: „ein mann allein macht sie nicht glücklich,/ sie ist ein genussmensch,/ würde gern von allen kosten“ (…) und hat wenig gemein mit jener „liebreizenden“ (Götter, Helden, Ungeheuer, a.a.O, S.15) Göttin der Weisheit und Liebe, die seit der Antike als Inkarnation von Anmut und Intelligenz zum weiblichen Idealbild schlechthin geworden ist.

Umwertung der Werte

Die zwei Beispiele für einen sehr freien Umgang der Lyrikerin mit dem Stoff müssen reichen. Man mag diese veränderte Sicht reizvoll finden, und gewiss gibt es auch Gründe für die Umwertung der Werte. Dass ein solcher Traditionsbruch auch verstörend wirken kann, sei zumindest angemerkt.

Der Autorin ist das antike Personal durchaus vertraut, aber sie zwingt den Rezipienten geradezu, sich mit einem „Traditionskern“ unserer abendländischen Kultur auseinanderzusetzen – sei es, weil dessen bisherige Rezeptionsweisen in Frage gestellt werden, sei es, dass Traditionsferne den Leser zum Nachschlagen im Lexikon oder zur Nachfrage bei „Prof. Google“ zwingt.

Dass sich der nobel ausgestattete Band nicht als Schullektüre eignet, bedarf wohl keiner expliziten Erwähnung. Aber auch (oder gerade?) außerhalb des Kanons kann man Entdeckungen machen. Einmal mehr empfiehlt sich dafür die ungarische Literatur, die wir ohne die dienende Rolle des Nachdichters nicht entdecken könnten. Dank also an Hans-Henning Paetzke, der sich abermals als Vermittler zu dieser „kleinen“, aber interessanten Einzelliteratur verdient gemacht hat.

Kurzbeschreibung des Gedichtbandes

Gibt es in der zeitgenössischen Literatur Tabus? Kann das erotische Gedicht ein Tor zur Seele sein, ein Instrument zur Befreiung, zur Lösung unserer Hemmungen und Frustrationen? Wenn all das eine Frau unternimmt, verstößt das gegen den Feminismus, ist es gar eine Empörung gegen Konventionen unserer Zeit? Dürfen Frauen mit ungeschminkter Offenheit über die körperliche Liebe reden? Oder aber handelt es sich hierbei noch immer um ein Privileg der Männer? Die vielfach preisgekrönte Ungarin Melinda Varga stammt aus dem heute zu Rumänien gehörenden Siebenbürgen. Sie gilt als die mutigste literarische Stimme ihrer Generation. Ihre sinnlichen Gedichte beschreiben sexuelles Verlangen nicht mit den Mitteln des Vulgären. Vielmehr ist sie bestrebt, die menschliche Psyche in der Beschreibung körperlicher Liebe begreiflich zu machen.

Quelle: amazon.de

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