Rezension: Ungarn-Jahrbuch 38

Hungarologie im Wandel der Zeit

Ein weiteres vom Ungarischen Institut der Universität Regensburg redigiertes Ungarn-Jahrbuch ist erschienen.

Der aktuelle Band 38 des Ungarn-Jahrbuchs versammelt wieder ein breites und interessantes Spektrum an Themen aus der ungarischen Geschichte, die vom Mittelalter bis in die Gegenwart reichen.

Die Reichsdeutsche Schule in Budapest

Die Abhandlungen beleuchten eher unbekannte Spezialthemen für Fachleute, wie Johann Falbrecht und David Rosenfeld in der Finanzverwaltung des mittelalterlichen Ungarn (Renata Skorka – Boglárka Weisz), Die Schatzkammer auf Burg Forchtenstein – wie sie von Pál Esterházy errichtet wurde (Erika Kiss), Die Reichsdeutsche Schule in Budapest zwischen den beiden Weltkriegen (László Orosz), Heiratsmobilität in Südtransdanubien. Regionale Endogamie in Vajszló und in seiner Umgebung (1750–1949) (Gábor Koloh) oder Die drei Pfeiler der antiruralen Politik in Ungarn 1959–1971 (Gergely Krisztián Horváth).

Protestantisches Siebenbürgen

Für ein breites Publikum besonders interessante Themen umfasst aber auch dieser Band des Jahrbuches, die sich zum Teil mit minderheitenpolitischen und nationalitätenhistorischen Entwicklungen oder Ereignissen befassen. Zu den wichtigsten Elementen für die Identitätskonstruktion, Identitätsbewahrung und den Zusammenhalt einer Minderheitengruppe gehörte zweifellos bereits früh die Religion und damit zusammenhängend die religiöse Toleranz.

Die siebenbürgische Entwicklung wäre ohne die Ausbreitung des Protestantismus sicherlich ganz anders verlaufen, das Zusammenleben der dort lebenden Völker hätte sich sicherlich anders ausgestaltet, hätte es nicht die Religiöse Toleranz im plurikonfessionellen Siebenbürgen 1542–1571 (Hans Christian Jensen) gegeben. Später, ab dem 19. Jahrhundert spielte nicht mehr die religiöse Toleranz die größte Rolle für das Zusammenleben von Nationen und Nationalitäten, sondern vielmehr die nationale, kulturelle Zugehörigkeit und damit verbunden auch das Streben nach Unabhängigkeit und Staatlichkeit.

Ein Beispiel dafür ist die Memorandum-Bewegung, die für rumänische Interessen und deren kulturelle Einheit eintrat und sich dabei Mitteln bediente, die man heute als eine internationale Marketing-Kampagne bezeichnen würde. Leo Stauber zeichnet diese Strategie und die ungarischen Reaktionen darauf im Beitrag Die siebenbürgische Memorandum-Bewegung aus Sicht des rumänischen, ungarischen und deutschen Nationalismus aus den verschiedenen Perspektiven.

Minderheitenpolitik

Unter anderem die nationale Frage hat zum Auseinanderbrechen der Habsburgermonarchie geführt, jedoch haben die territorialen Veränderungen im Donau-Karpatenraum die Minderheitenfrage nicht lösen können, sondern haben diese vielmehr verlagert und in ihrer Ausprägung verändert. Nicht einmal Ungarn, das nach dem Vertrag von Trianon umfangreiche Gebiete abtreten musste, wurde zu einem Nationalstaat ohne Minderheiten, so dass auch Ungarn anschließend eine Minderheitenpolitik verfolgen musste.

Der Ausgestaltung dieses Politikfeldes bis zur beginnenden Demokratisierung widmet sich der Aufsatz Ungarns Nationalitätenpolitik von 1918 bis 1990 (Ferenc Eiler). Den Anfang dieser Periode nach dem Friedensvertrag leuchtet der Beitrag Der Friedensvertrag von Trianon und die ungarische Gesellschaft in den frühen 1920er Jahren (Dávid Ligeti) aus und bettet damit das minderheitenpolitische Thema in einen gesellschaftspolitischen Entwicklungsrahmen ein, so dass sich ein gutes Bild dieser Epoche ergibt.

60 Jahre Ungarisches Institut München

Der eindeutige – und auch hervorzuhebende – Schwerpunkt dieses Ungarn-Jahrbuchs ist jedoch der 60. Geburtstag des Ungarischen Instituts München (UIM). Aus diesem Anlass hatte das UIM am 25. November 2022 in Regensburg eine öffentliche Tagung veranstaltet, mit der es nicht nur seine Geschichte, sondern auch seine Zukunft und seine Pläne einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen, dafür werben und Mitstreiter aktivieren wollte.

Die Vorträge des Symposiums wurden von Mitarbeitern und Kollegen des UIM gehalten und für die Veröffentlichung im Jahrbuch bearbeitet. Sie beleuchten alle aus unterschiedlichen Perspektiven das Thema Hungarologie im Wandel der Zeit, also das allgemeine Arbeitsfeld des UIM. Dies wiederum verdeutlicht die breite Konzeption von Hungarologie einerseits und der inhaltlichen Ausrichtung des Ungarischen Instituts der Universität Regensburg andererseits.

Dazu gehören Hungarologie als wissenschaftliches Forschungsprogramm (Zsolt K. Lengyel), Die auswärtige Kulturpolitik Ungarns und die Hungarologie seit 1990 (Gábor Ujváry), Minderheiten und Minderheitenschutz. Erfahrungen und Perspektiven aus der universitären Lehre in Regensburg (Ralf Thomas Göllner), Das Minderheitenthema im (Hoch-) Schulwesen Ungarns (Beáta Márkus), Sprache und Landeskunde im Rahmen der studienbegleitenden Zusatz­ausbildung „Hungaricum“ (Krisztina Busa), Sprache und Literatur in der europäischen Hungarologie (Andrea Seidler), Nachlässe in den Sondersammlungen des Ungarischen Instituts München (Bernadette Baumgartner) und Patriotica-(Kulturerbe)-Forschung und ihre Bedeutung im 21. Jahrhundert (István Monok). Dieses breite Themen­spektrum bietet allen an Ungarn, ungarischer Geschichte, Sprache und Kultur Interessierten zahlreiche neue und spannende Einsichten aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Abgerundet wird der Band durch einen umfangreichen Rezensionsteil, in dem 17 Neuerscheinungen mit Ungarnbezug besprochen werden, sowie einen Bericht über die Festveranstaltung 60 Jahre Ungarisches Institut München, die im Oktober 2022 im Münchener Generalkonsulat von Ungarn stattgefunden hat. Mit diesem Band hat das Ungarische Institut eine weitere Publikation mit zahlreichen fachlich tiefgehenden und wichtigen Beiträgen zur Geschichte, Kultur und Politik Ungarns vom Mittelalter bis in die Gegenwart vorgelegt.

Ungarn-Jahrbuch 38
Verlag Friedlich Pustet, 2023
gebunden, 48 Euro

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