Rezension: „Immer wenn ich meine Augen schließe“, ein Roman von Zoltán Böszörményi
Postpferde der Aufklärung
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Ich wage sogar die These, dass diese Bilder am nachhaltigsten sind, weil wir sie als „Cofabulierer“ eines literarischen Autors selbst erschaffen. Insofern kann man Nachdichter und Übersetzer nicht genug dafür loben, dass sie uns auch Bilder von Ländern präsentieren, die weder zu unseren beliebtesten Urlaubszielen gehören, noch deren Sprache wir beherrschen.
Gastarbeiter leben monatelang von den Familienangehörigen getrennt
Beides trifft zweifellos auf Rumänien zu. Das Land ist 2007 EU-Mitglied geworden; doch es gehört noch immer zu den europäischen Staaten mit niedrigem Lebensniveau. Etwa ein Fünftel der Erwerbstätigen ist trotz regelmäßiger Arbeit arm. Kein Wunder also, dass besonders mobile junge Leute einer besser bezahlten Tätigkeit im Ausland nachgehen – vorwiegend in Italien und Spanien.
In diesen vergleichsweise wohlhabenden Ländern hat man sich daran gewöhnt, dass unattraktive Arbeitsplätze von Gastarbeitern aus Rumänien besetzt werden, die wochen- und monatelang fern von ihren daheim ausharrenden Familien getrennt leben. Es ist ein hoher Preis, den diese Menschen für einen besseren Lebensstandard zahlen. In den wohlhabenderen europäischen Ländern hat man sich an diesen Zustand gewöhnt und hinterfragt kaum, wie es daheim in Rumänien, Ungarn oder den anderen Herkunftsländern den Kindern oder alten Eltern der hilfreichen Gastarbeiter ergeht.
In einem jüngst auf Deutsch erschienenen Roman hat Zoltán Böszörményi sich dieses Themas angenommen. Der vielfach preisgekrönte Romancier, Lyriker und Essayist stammt selbst aus Rumänien und hat – wenngleich auch er außerhalb seines Herkunftslandes lebt – mit Empathie und Sachkenntnis diesen Zustand aus der Sicht einer Elfjährigen beschrieben. Deren Mutter arbeitet in Italien – möglicherweise als Prostituierte. Jedenfalls sagt die Großmutter unumwunden, dass ihre Tochter im Ausland nicht arbeitet, sondern „auf den Strich geht“. Auch wenn sie das verurteilt, lebt sie doch genauso wie die Enkelin von dem bescheidenen Salär, das die Tochter beiden zukommen lässt.
Das elfjährige, von der Mutter verlassene Kind, aus dessen Perspektive erzählt wird, hat nur einen Wunsch: die Mutter möge wiederkommen. Immer, wenn das Mädchen seine Augen schließt, träumt es die Mutter herbei – eine schöne junge Frau mit lockigem Haar und blauen Augen.
Überforderte Großmutter
Die Wahl der Ich-Erzählerin ist mutig – denn natürlich erschließen sich der Kleinen nicht alle Zusammenhänge, zumal in Form des inneren Monologs retrospektiv berichtet wird. Ort der Handlung ist nämlich ein Krankenhaus, in dem das an Anorexie erkrankte und auf 16 kg abgemagerte Mädchen nun schon seit einem halben Jahr behandelt wird. Dort war sie von Lola, einer Freundin der Mutter, eingeliefert worden. Schon lange hatte die eigene Großmutter sich mit der Kindererziehung überfordert gefühlt.
Sie war froh gewesen, als die Enkelin in die Obhut von Lola gegeben wurde. Dass das Kind aus einer armen in eine noch ärmere, ja asoziale Umgebung geraten könnte, hatte weder für Mutter noch Großmutter eine Rolle gespielt. Zwar gab es dort zwei Kinder als Spielgefährten – aber darüber hinaus fehlte es praktisch an allem: an einem eigenen Bett, einer sauberen Wohnung, an einem geregelten Tagesablauf und regelmäßigen Mahlzeiten.
In diesem kaum vorstellbaren Milieu verlernt die Kleine das Essen und auch das Sprechen und Gehen. Das ist dann doch ein Alarmsignal für Lola. Sie ruft einen Arzt, und das Kind kommt ins Krankenhaus. Hier sind die Mediziner ratlos; denn sie haben keinen Zweifel: Dem Kind werden weder Medikamente noch künstliche Ernährung helfen – einzig und allein die Anwesenheit der Mutter könnte eine Wendung zum Guten bewirken.
Unauffindbare Mutter
Die Mutter aber ist unauffindbar und offensichtlich auch ohne Schuldgefühle: Hat sie nicht alles für ihr Kind getan? Hat sie es nicht in die Obhut der eigenen Mutter gegeben und schließlich, als diese sich überfordert fühlte, eine Freundin gebeten, das Mädchen bei sich aufzunehmen? Und hätte sie denn eine Möglichkeit gehabt, daheim für Mutter und Tochter zu sorgen? Diese Frage bleibt unbeantwortet – und sie muss es auch bleiben, weil sich die Elfjährige, aus deren Sicht erzählt wird, diese Frage nicht stellt und sie auch gar nicht beantworten könnte. So bleibt es dem Leser überlassen, das Verhalten der Mutter moralisch zu bewerten.
Dabei will es der Autor offensichtlich nicht bewenden lassen und führt deswegen eine Mitpatientin der Kleinen und deren energische Mutter ein. Diese organisiert nicht nur eine „Verschönerungskur“ für das Krankenzimmer und den Auftritt von drei Krankenhausclowns zur Erheiterung der kranken Mädchen, sie schleust auch ein Fernsehteam in das Krankenzimmer ein, in dem das an Anorexie leidende Kind seit einem halben Jahr liegt und auf seine Mutter wartet.
Einer der Clowns erzählt ein Märchen von Piraten und traurigen Feen, denen die Feenkönigin, ihre Mutter, geraubt worden ist. Das Märchen endet (genre-untypisch) ohne Triumphszene: Es scheint keine Möglichkeit zu geben, die Feenkönigin aus der Gefangenschaft zu befreien. Doch diese Möglichkeit denkt sich das sehnsuchtskranke Kind aus, das sich gut in das Leid der traurigen Feentöchter versetzen kann – nur befindet sich seine Mutter nicht in der Gefangenschaft von Riesen: Sie lässt wissen, dass sie ihren Arbeitsvertrag erfüllen und noch zwei Wochen in Italien bleiben müsse.
Desinteressierte Behörden
So versucht der Autor, eine Verbindung zwischen Fantasy-Welt und einer Realität herzustellen, in der es (wie die gleichfalls im Krankenzimmer anwesende Reporterin berichtet) 77.471 rumänische Kinder gibt, deren Vater oder Mutter im Ausland arbeitet. Von 17.425 Kindern arbeiten sogar beide Eltern im Ausland; aber die Behörden interessiert das Schicksal der zurückgelassenen Kinder nicht.
Zweifellos wird damit der Finger in eine offene Wunde gelegt – ob damit die wahren Schuldigen am Schicksal der verlassenen Kinder benannt werden, muss sich der Leser schon selbst fragen.
Nach diesem recht umfangreichen, immerhin rund ein Zehntel des Gesamttextes umfassenden Fantasy-Einschub kommt das Vordergrundgeschehen schnell an sein Ende: In ihren letzten Lebensmomenten träumt die Kranke von der Rückkehr der Mutter. Gemeinsam mit ihr verlässt sie das Krankenhaus…
Kein Roman
Der Text ist als Roman ausgewiesen. Man weiß um die verkaufsfördernde Wirkung einer solchen Genrebezeichnung und geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass sie gerne vom Verlag gewählt wird. Daran Anstoß zu nehmen, käme Beckmesserei gleich. Aber zutreffend ist sie nicht.
Böszörményi ist ein gestandener, vielfach ausgezeichneter Autor. So wird dieser Text wohl Leser finden, und um des Themas willen möchte man das auch wünschen. Ob die Erzählperspektive geeignet ist, dem Schicksal der zurückgelassenen Kinder die gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen, darf man sich schon fragen – sind doch Urteilsvermögen und Blickwinkel einer elfjährigen, noch dazu schwerkranken Protagonistin eingeschränkt.
Das mag auch dem Autor bewusst sein, und deswegen hat er die Clownsepisode plus Fantasy-Geschichte plus Text einer Fernsehreportage eingefügt. Mag letztere noch – im Sinne der Wertung – eine Funktion haben, so ist das für die Feengeschichte der drei Clowns schwer nachvollziehbar: Ja, sie dient im Vordergrundgeschehen zur Unterhaltung der kleinen Patientinnen.
Aber weder die „Töchter der Luft“ noch die „Piraten“ lassen eine schlüssige inhaltliche Beziehung zum Schicksal des von der Mutter verlassenen, leidenden Kindes zu. Ganz im Gegenteil: Das Opfer der Feenmutter ist auch moralisch anders zu bewerten, als der Italienaufenthalt einer rumänischen Sexarbeiterin. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier der Text ein wenig „gestreckt“ werden sollte, um der Genrebezeichnung Genüge zu tun. Wer mit dem Einschub (auch) wenig anfangen kann, mag ihn überlesen – das fällt nicht schwer, da er im Unterschied zum Vordergrundgeschehen kursiv gedruckt ist.
Fazit
Volle Zustimmung zum gewählten Thema, das in den wohlhabenderen EU-Ländern gerne verdrängt wird. (Auch die polnischen Pflegekräfte, tschechischen Lkw-Fahrer… lassen Familien zuhause zurück, ohne dass wir uns darüber Gedanken machen).
Zustimmung auch für den Mitteldeutschen Verlag, der uns erneut diesen Autor präsentiert, der trotz seiner Weltläufigkeit den Bezug zu seinem Herkunftsland Rumänien nicht verloren hat.
Zustimmung auch dafür, Texte aus „kleinen“ Sprachen übersetzen zu lassen, die hierzulande wenig verbreitet sind. Ergo Dank an Hans-Henning Paetzke, der abermals die Rolle eines „Postpferds der Aufklärung“ übernommen hat und uns nicht zum ersten Mal einen ungarisch schreibenden Autor nahebringt. Zweifellos gibt es zwischen Autor und Übersetzer eine besondere Affinität; denn auch „In den Furchen des Lichts“ desselben Autors hat Paetzke für den Mitteldeutschen Verlag übersetzt.
Summa summarum: Lesen Sie selbst. Urteilen Sie selbst. Aber vor allem: Lassen Sie uns über die Botschaft des „Romans“ nachdenken.
Zoltán Böszörményi: „Immer wenn ich meine Augen schließe“
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke.
Mitteldeutscher Verlag 2020, zweite Auflage 2021
116 Seiten, 16 Euro