Rezension: David Engels (Hrsg.) „Renovatio Europae“

Für einen hesperialistischen Neubau Europas

Bei dem 2019 auf Deutsch erschienenen Werk „Renovatio Europae – Plädoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas“ handelt es sich um einen im Rahmen des Instytuts Zachodni in Poznań erstellten Aufsatzband mit bedeutenden Beiträgen von Autoren aus Frankreich, Belgien und Polen, Deutschland, Ungarn, England und Italien.

Motiviert von der Sorge um das Überleben Europas besteht das Ziel darin, Perspektiven für eine konservative Erneuerung der Union zu erarbeiten. Im Zentrum steht – unter Anerkennung der nationalen und kulturellen Vielfalt der europäischen Zivilisation – die positive Berufung auf das gemeinsame historische Erbe des Abendlandes.

Gemeinsame europäische Geistesgeschichte

Als europäische Patrioten bekennen sich die Autoren zur reichen Geschichte Europas: zu einer Zivilisation, die von griechischer Philosophie und römischem Recht ebenso geprägt ist wie vom Christentum. Generell gehen sie von einer Geistesgeschichte aus, die allen Europäern – trotz aller Unterschiede und Differenzen – gemeinsam ist. Dabei geht insbesondere David Engels von einem zyklischen Verlauf der Zivilisationen aus, die allesamt von Geburt, Wachstum und Blüte, von Verwelken und Verwittern geprägt seien und somit wissenschaftlich fundierte Vergleiche zuließen.

Bereits in seinem Werk „Auf dem Weg ins Imperium“ stellte Engels entsprechend signifikante Parallelen zwischen der Europäischen Union und der Spätzeit der Römischen Republik fest. Analogien, die ihn zu dem Schluss kommen lassen, dass sich die krisengebeutelte Union auf den Aufstieg eines kontinentalen Großreiches unter konservativen Vorzeichen einstellen müsse. Mit „Renovatio Europae“ rücken nun auch konkrete Vorschläge für eine neue EU-Verfassung in den Vordergrund und damit auch eine Neudefinition der Beziehungen zwischen der Union und den europäischen Nationalstaaten, die noch lange nicht ausgedient hätten.

Rückbesinnung auf die historische Identität Europas

Angesichts der vielfältigen Herausforderungen, mit denen sich Europa konfrontiert sieht – dem Verfall traditioneller Werte, dem demographischen Niedergang, der Masseneinwanderung, der Desindustrialisierung, dem Aufstieg Chinas, der Schuldenkrise und der Erosion der bisherigen politischen Parteienlandschaft – plädieren die Autoren für eine tiefgreifende Reform der europäischen Institutionen. Was im Zentrum der Überlegungen steht, ist eine gemeinsame europäische Identität, weil nur sie den Zusammenhalt der Europäer zu gewährleisten verspricht.

Doch was könnte das Gefühl der Solidarität so sehr stärken, dass der allgemeine Niedergang aufgehalten werden kann? Auf welchen gemeinsamen Werten könnte eine solche Identität beruhen? Dass eine solche „Identität“ nicht auf rein humanistischen und universalistischen Werten gründen könne, sei Engels zufolge eine der Lehren der Migrationskrise gewesen. Vielmehr bedürfe eine europäische Identität der tiefen Verankerung im kulturellen, historischen und spirituellen Unterbewusstsein einer seit Jahrhunderten geteilten Vergangenheit.

Hesperialismus: Ein europäischer Patriotismus

Um Missverständnissen vorzubeugen, sollte betont werden, dass die Autoren universalistische Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit keineswegs ablehnen. Vielmehr streben sie ein Europa an, welches stolz auf sein historisches Erbe ist und auf konservativen Werten ebenso beruht wie auf universalistischen. Eine europäische Zivilisation, die sich ihrer Bedeutung für die Menschheit bewusst sei und der Zukunft ruhigen Auges entgegenblicken könne.

Für ein solches patriotisches Bekenntnis zu einem vereinigten Europa verwendet Engels den neuen Terminus des „Hesperialismus“, „einen Begriff, der aus der griechischen Bezeichnung für den äußersten Westen der bekannten Welt abgeleitet ist und gewissermaßen den Gegenbegriff zu „Europäismus“ bilden soll, mit dem man meistens eine unkritische Unterstützung der gegenwärtigen Europäischen Union mitsamt ihrer zurzeit herrschenden Ideologie politischer Korrektheit meint“.

Der Hesperialismus manifestiert sich in einer positiven Haltung gegenüber den historischen und spirituellen Werten unseres Kontinents, in einer Besinnung auf die jüdische, antike und christliche Vergangenheit, auf den Respekt für lokale, regionale und nationale Identitäten. Er ist nichts Geringeres als das Bekenntnis zu einem „auf den jahrhundertealten Werten der abendländischen Kultur aufgebauten Europa“ – „ein Schatz materieller und immaterieller Güter, die es zu bewahren und zu schützen gilt“, wie Zdzisław Krasnodebski schreibt.

Eine multipolare Union der Nationalstaaten

Bei der Ausarbeitung einer neuen europäischen Verfassung, die ein verbessertes Gleichgewicht zwischen Zentralismus und Subsidiarität anstrebt, konzentriert sich Engels weniger auf das Römische Reich, als vielmehr auf die „multiethnischen föderalen Staaten des Mittelalters“: auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation – „gekennzeichnet durch eine einzigartige Kombination zwischen regionaler Autonomie und zentraler Autorität, welche letztere durch ein System dual geteilter Verantwortlichkeit zwischen dem gewählten Souverän und der Versammlung der föderierten Entitäten geprägt wurde“.

Die Europäische Union nach diesem historischen Vorbild zu reformieren, würde konkret bedeuten, ihr nur noch jene politischen Kompetenzen zuzubilligen, welche von vitaler Bedeutung seien für das langfristige institutionelle Überleben, für die Gesamtheit der Nationalstaaten und die kulturelle Selbstbehauptung der abendländischen Zivilisation als eines Ganzen. Auf diese Weise könne man gemeinsam jenen Herausforderungen begegnen, denen die einzelnen Nationalstaaten, für sich alleine genommen, nicht gewachsen wären.

Gleichzeitig sollten „sämtliche nationalen, regionalen und kommunalen Verwaltungsebenen eine größtmögliche Autonomie genießen, die sie befähigt, ihre eigene Zukunft im Einklang mit ihren Regeln, Traditionen und Interessen zu gestalten. Eine solche Korrektur der europäischen Institutionen würde zu einer multipolaren Union führen, aus der die Nationalstaaten „in ihrer Funktion als vitale Kernglieder der EU gestärkt hervorgehen würden“. Lokale Identitäten, die in einer globalisierten und ausschließlich auf Effizienz ausgerichteten Welt gänzlich dem Untergang geweiht wären, würden auf diese Weise geschützt und gefördert werden.

Die Wirren der anstehenden Krisenzeit abkürzen

Wohlwissend, dass eine solche Reform der Europäischen Union eine politische Utopie darstellt, weist David Engels darauf hin, dass es sich um eine „regula­tiver Idee“ handelt, die das Ziel verfolge, „die Wirren der anstehenden Krisenzeit möglichst abzukürzen und den Weg zu einer erneuten Verständigung der europäischen Völker zu ebnen“. Der Schutz kleinteiliger, gewachsener Identitäten, die Verteidigung der natürlichen Familie, die Sicherung einer anspruchsvollen Migrationspolitik, die Erneuerung unseres Sinnes für das Schöne seien „die programmatischen Grundpfeiler eines solchen neuen, „hesperialistischen“ Europas, welches an die Stelle der Zersplitterung die Vereinigung setzen will“.

„Renovatio Europae“, mit Texten von Chantal Delsol, David Engels, Alvino-Mario Fantini, Birgit Kelle, Zdzisław Krasnodebski, András Lánczi, Max Otte, Jonathan Price und Justyna Schulz – Persönlichkeiten aus sieben europäischen Ländern – stellt einen bedeutenden Beitrag zur Diskussion über die Zukunft der europäischen Zivilisation dar: eine Inspirationsquelle für die mögliche Neugestaltung einer in eine schwere Identitätskrise geratenen Europäischen Union.

Das Primat des Geistigen wiederherstellen

Darüber hinaus erinnert uns das Werk aber auch daran, dass alle gegenwärtigen Krisensymptome der europäischen Gesellschaften Zeichen für den Niedergang der Beschäftigung mit der echten Bedeutung des menschlichen Lebens sind. In diesem Sinne erinnert es an die berühmte Rede von Alexander Solschenizyn an der Harvard Universität.

Bereits 1978 hatte er festgestellt, dass der Westen seine christlichen Wurzeln und generell eine „übergeordnete Einheit“ verloren habe, die in der Lage sei, unsere Verantwortungslosigkeit einzudämmen. Da sich der Westen in Richtung einer sinnentleerten „Verehrung des Menschen und seiner materiellen Bedürfnisse“ begeben habe, sei er seiner Meinung nach nicht mehr dafür gewappnet, mit seinen Herausforderungen und Gegnern umzugehen.

Um die Krise zu überwinden, so András Lánczi, müsse sich jedes Individuum erneut die zentrale Frage stellen, wieso es das Leben lebenswert empfindet, und was das gemeinsame Ziel der europäischen Kultur wie auch das der Menschheit sein soll. „Der Schlüssel hierzu“, schreibt Lánczi, bestehe darin, „das Primat des Geistigen über das Materielle wiederherzustellen.“

David Engels (Hrsg.)
„Renovatio Europae: Plädoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas.

221 Seiten
Lüdinghausen und Berlin 2019.
Das Buch kann zum Preis von 12,80 Euro bei Amazon erworben werden.

Ein Gedanke zu “Für einen hesperialistischen Neubau Europas

  1. Bevor man über eine Renovatio des Geisteslebens “in Europa” (- gemeint ist wohl die EU) nachdenkt, sollte man die Bevökerungsentwicklung und die Qualifikationsentwicklung zur Kenntnis nehmen. Letzteres ist wesentlich dafür, dass unsere europäischen Länder die ökonomischen Grundlagen für eine geistige und kulturelle Stärkung haben.

    Da sieht es düster aus. Was die zentralen europäischen Länder in den jetzten 150 Jahren wirtschaftlich stark gemacht hat, schulisches Lernen, gute Ausbildung, technische Hochschulen und erfolgreiche wissenschaftliche Grundlagenforschung, das befindet sich seit Jahrzehnten im Rückgang.

    Der Autor Gunnar Heinsohn hat in “Wettkampf um die Klugen” (2019) die Daten zusammengestellt: Die ostasiatischen Länder wie Japan, Taiwan, Südkorea und natürlich China sind uns nicht nur bei den Mathematik-Fähigkeiten, aber auch bei den Sprachtests weit voraus. (Auch bezogen auf die Anzahl Begabter je Alters-Kohorte.) Zumindest für die westlichen Länder kann ich den Grund, auch als Vater von drei Kindern und nur Großvater: Es sind die Lerninhalte und die veränderten Prioritäten.

    Zugespitzt gesagt:
    1. Bunte Gender-Thesen sind wichtiger als Rechnen und Schreiben.
    2. Das Konzept der Inklusion (- alle unabhängig von Begabung, Sprachkenntnis und Bildungsfähigkeit in eine Klasse) ruiniert den Unterricht.

    Damit ist kein Staat zu machen – so gerne ich auch an eine konservative Reform der EU glauben möchte. Da müsste man in allen der EU-Länder vor 1990 wesentliche Glaubenssätze über Bord werfen. Dazu sehe ich keinen Ansatz. Mein Rat an die V4: Machen Sie alleine weiter.

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