Historiker Dr. Andreas Schmidt-Schweizer: „Während des erneut aufflammenden Ost-West-Konflikts seit Anfang der 1980er Jahre gelangten Bonn und Budapest in eine Art Vermittlerrolle zwischen den Blöcken – der Ost-West-Dialog brach so nicht gänzlich ab.“ Foto: Karolina Schmidt-Schweizer

Interview mit dem in Budapest forschenden deutschen Historiker Dr. Andreas Schmidt-Schweizer

Experimentierfeld für die Ost-West-Beziehungen

Eine bisher wenig erforschte Geschichte – die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn in der Ära des Ost-West-Konflikts.

Was hat Sie motiviert, sich als deutscher Geschichtswissenschaftler in Ungarn mit den deutsch-ungarischen Beziehungen zu beschäftigen?

Nun, das hat vor allem den Grund, dass die Geschichte der deutsch-ungarischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg – ganz im Gegensatz zum deutsch-polnischen Verhältnis – von der Wissenschaft bislang kaum aufgearbeitet wurde, und zwar trotz der ausgezeichneten Quellenlage in den Archiven. Sicherlich hatte und hat Ungarn – insgesamt betrachtet und vielleicht mit Ausnahme der 1980er Jahre – nicht dieselbe politische, wirtschaftliche und historische Bedeutung für die Bundesrepublik wie Polen. (Und der damaligen Sowjetunion kam natürlich als Vormacht im östlichen Lager ein ganz besonderes Gewicht zu.)

Ich denke aber doch, dass es sich für die Zeitgeschichtsforschung lohnt, sich auch mit dem (west)deutsch-ungarischen Verhältnis zu beschäftigen. Diese Beziehungsgeschichte weist trotz des unterschiedlichen politischen, ökonomischen und kulturellen Gewichts beider Staaten in der internationalen Politik doch eine ganze Reihe von spektakulären und bedeutsamen Höhepunkten auf – und ich denke hier nicht nur an die Grenzöffnung vom September 1989. Außerdem kann durch einen Vergleich der westdeutsch-ungarischen Beziehungen mit der Beziehungsgeschichte der Bundesrepublik zu den anderen sozialistischen Staaten auch das Geschichtsbild vom einstigen „Ostblock“ weiter differenziert werden.

Gibt es auch andere, persönliche Motive?

Ja natürlich, ich lebe als Deutscher mit meiner Familie schon lange Jahre in Ungarn. Da liegt für den Historiker natürlich ein solches Thema nahe. Und nicht ganz ohne Mühe habe ich mir auch die entsprechenden Sprachkenntnisse angeeignet, ohne die derartige Forschungen ja nicht möglich sind.

Sie haben kürzlich eine Überblicksdarstellung mit dem Titel „Die westdeutsch-ungarischen Beziehungen im Zeitalter der bipolaren Weltordnung (1947–1990)“ auf Deutsch und in ungarischer Übersetzung veröffentlicht. Was hat Sie dazu veranlasst?

Ich denke, es ist wichtig, neben wissenschaftlichen Monografien und Quellensammlungen auch der interessierten Öffentlichkeit ein Buch vorzulegen, in der sie sich kurz und bündig über die Beziehungsgeschichte der beiden Staaten in dieser Epoche informieren kann. Gerade in einer Zeit, die durch wachsende Spannungen und Vorurteile geprägt wird, ist es für Ungarn und Deutsche sicherlich nicht unwichtig, auch einmal einen Blick auf die jüngste Vergangenheit zu werfen.

Hier werden dann doch viele Bande und gemeinsame „Geschichten“ sichtbar. Deutlich wird auch, dass die deutsch-ungarischen Beziehungen – auch in einem spannungsgeladenen internationalen Umfeld und bei offensichtlichen Systemunterschieden – auf einem hohen Maß an Kooperation und Dialog basierten. Der anstehende 50. Jahrestag der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Bonn und Budapest (21. Dezember) hat mir einen besonderen Anstoß gegeben, dieses Thema jetzt auch in dieser Form aufzugreifen.

Welche Gesichtspunkte der Beziehungsgeschichte stehen im Mittelpunkt Ihres Buches und wie haben Sie das Thema zeitlich strukturiert?

In meinem Buch behandle ich die wichtigsten Aspekte aus den Bereichen Wirtschaft, Politik und Kultur, und zwar in neun chronologisch geordneten Kapiteln. Es liegt auf der Hand, dass sich die bilateralen Beziehungen nach dem Krieg bis etwa Ende der 1960er Jahre – trotz einiger „politischer Experimente“ auf beiden Seiten – im Wesentlichen auf die Handelskontakte beschränkten. Davon handeln die ersten vier Kapitel. Erst mit der Neuen Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt seit Herbst 1969 kam es dann zu ersten bedeutenderen politischen Kontakten (Kapitel 5). Bezeichnenderweise handelte es sich dabei vor allem um Treffen der für den Außenhandel zuständigen Minister.

Dr. Andreas Schmidt-Schweizer studierte in München und in Freiburg i.Br. und war Stipendiat in Deutschland und Ungarn. 2000 promovierte er an der Universität Freiburg und arbeitete anschließend unter anderem am Ungarischen Institut in München. Seit 2005 ist er als Historiker in Ungarn tätig, gegenwärtig als Senior Research Fellow am Institut für Geschichtswissenschaft des Zentrums für Humanwissenschaften des Loránd-Eötvös-Forschungsnetzwerks. Seine Forschungsschwerpunkte sind der politische und wirtschaftliche Systemwechsel in Ungarn in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und die deutsch-ungarischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Einen besonderen Aufschwung erfuhren die politischen Beziehungen – neben den sich dynamisch ausweitenden Wirtschaftsbeziehungen – erst mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen im Dezember 1973. In den folgenden Jahren kam es dann zu den ersten Treffen der Außenminister und von Bundeskanzler Helmut Schmidt mit Parteichef János Kádár (Kapitel 6). Diese Besuchsdiplomatie wurde auch während des sogenannten Zweiten Kalten Kriegs, also von Ende 1979 bis Mitte 1985 konsequent fortgesetzt (Kapitel 7). Die – lange Zeit vor allem von der ungarischen Seite „stiefmütterlich“ behandelten – Kulturbeziehungen konnten sich hingegen erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wirklich entwickeln (Kapitel 8). Die Jahre 1988 bis 1990 (Kapitel 9) stehen dann ganz im Zeichen der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wende in Ungarn und der Lösung der „deutschen Frage“ – bei der die ungarische Politik in der Anfangsphase bekanntlich eine ganz wesentliche Rolle spielte.

An welche Leserschaft richtet sich denn Ihr Buch in erster Linie?

In der Regel verfasse ich meine Arbeiten für einen kleinen Wissenschaftlerkreis, vor allem in Deutschland und Ungarn. Jetzt richte ich mich aber – wie schon gesagt – an die interessierte Öffentlichkeit. Ich denke hier vor allem an Deutsche, die eine engere Beziehung zu Ungarn haben oder gar hier leben und arbeiten, ich denke aber auch – es handelt sich ja um eine zweisprachige Ausgabe – an Ungarn, die sich für die deutsch-ungarische Beziehungsgeschichte oder die deutsche Zeitgeschichte überhaupt interessieren. Darüber hinaus meine ich, das Buch ist – als erste Orientierungshilfe über das Thema – auch für Studenten, Lehrer und Dozenten nützlich. Und vielleicht werfen auch Politiker und Diplomaten mal einen Blick ins Buch. (Für die genannten Leserkreise wird auch die hinzugefügte Chronologie auf Deutsch und Ungarisch dienlich sein.)

Worin sehen Sie Besonderheiten in den Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik?

Beispielsweise ist es doch auffallend, dass Budapest bis zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen Ende 1973 keine besondere, ich möchte sogar sagen eine eher nachgeordnete Rolle in der Ostpolitik der Bundesrepublik spielte. Dann aber entwickelten sich im Zuge der sogenannten Besuchsdiplomatie immer intensivere politische Beziehungen, Ungarn überholte hier schließlich für ein Jahrzehnt auch Polen, und während des erneut aufflammenden Ost-West-Konflikts seit Anfang der 1980er Jahre gelangten Bonn und Budapest gar in eine Art Vermittlerrolle zwischen den Blöcken – der Ost-West-Dialog brach so nicht gänzlich ab. In diesem Zusammenhang spielten sicherlich auch gewisse persönliche Sympathien zwischen Parteichef János Kádár und den Sozialdemokraten Willy Brandt und Helmut Schmidt sowie ihre gegenseitige Aufgeschlossenheit eine wichtige Rolle.

Und wie stand es um die Wirtschaftsbeziehungen? Spielte Ungarn auch hier eine besondere Rolle?

Die Wirtschaftsreformen in Ungarn seit Mitte der 1960er Jahre wirkten sich natürlich auf das bilaterale Verhältnis aus. Seitdem verzeichnete der Handel zwischen beiden Ländern einen – nur selten unterbrochenen – stetigen Anstieg. Die Bundesrepublik wurde so 1978 zum zweitwichtigsten Handelspartner Ungarns, nach der Sowjetunion. Zwar war das rohstoffarme, planwirtschaftlich dominierte Ungarn für die Bundesrepublik hinsichtlich des Volumens nur ein nachrangiger Handelspartner, die Bedeutung des Landes war aber dennoch keineswegs gering: Die deutsche Wirtschaft sah ganz offensichtlich in dem kleinen reformfreudigen Land ein „Experimentierfeld“ für die Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen. Es ist so kein Wunder, dass die Bundesrepublik mit Ungarn über die meisten Firmenkooperationen in den Staaten des „östlichen Lagers“ verfügte und dort eines der ersten gemischten Unternehmen (mit Beteiligung der Siemens AG) gründete. Die deutschen Unternehmen machten in der Regel auch gute Erfahrungen mit ihren ungarischen Partnern – im Gegensatz zu anderen sozialistischen Ländern.

Im März dieses Jahres kann das Budapester Goethe-Institut auf eine 35-jährige Geschichte zurückblicken. Wie entwickelten sich denn die Kulturbeziehungen zwischen der Bundesrepublik und der „Volksrepublik“ Ungarn in dieser Epoche?

Im Gegensatz zu den Wirtschaftsbeziehungen, die äußerst pragmatisch gehandhabt wurden und vor allem durch „technische“ Probleme zwischen einer marktwirtschaftlichen und einer (wenn auch liberalisierten) planwirtschaftlichen Ordnung gestört wurden, war der Faktor Ideologie bis in die Mitte der 1980er Jahre ein zentrales Problem in den Kulturbeziehungen. Einerseits befürchtete die ungarische Führung ständig eine westdeutsche ideologische „Infiltration“ und „Zersetzung“, während andererseits die Bundesrepublik bemüht war, den zuerst ausschließlichen, dann dominanten Einfluss der DDR als Mittler der deutschen Kultur in Ungarn zurückzudrängen.

Ostberlin gelang es allerdings, seine Dominanz Jahrzehnte hindurch zu wahren, und zwar vor allem bei der „Betreuung“ der Ungarndeutschen und im Bereich des deutschen Sprach­unterrichts. Auch verfügte die DDR bereits seit 1968 über ein Kulturzen­trum in Budapest. Eine grundlegende Wende trat hier erst seit Mitte der 1980er Jahre ein, als Ungarn nämlich – im Zeichen der beginnenden politischen Liberalisierung und natürlich auch der wachsenden wirtschaftlich-finanziellen Abhängigkeit von Westdeutschland – auch der Bundesrepu­blik erlaubte, Deutsch zu unterrichten und sich um die ungarndeutsche Minderheit zu kümmern. Die Gründung des Budapester Goethe-Instituts im März 1988 bildete dann einen besonderen Höhepunkt: Es war die erste derartige Einrichtung in einem Land des Warschauer Pakts.

Wie Sie bereits in einer anderen Arbeit gezeigt haben, zeichnete sich in Ungarn bereits Mitte 1987 eine grundlegende wirtschaftliche und politisch-ideologische Wende in Richtung Marktwirtschaft und Demokratie ab. Wie wirkte sich diese auf das bilaterale Verhältnis aus?

Äußerst förderlich! Seitens der Bundesrepublik wurde die wirtschaftliche und politische Reformpolitik Ungarns bereits seit den 1970er Jahren ideell und materiell unterstützt, und dann natürlich auch die Politik der Wende in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – und zwar immer auch mit Blick auf die Auswirkungen des ungarischen Kurses auf die Situation im „Bruderland“ DDR. Und wie wir alle wissen, sollte sich die Politik der Budapester Regierung im September 1989 ja ganz gewaltig auf Ostdeutschland auswirken. Ungarn andererseits gehörte zu jenen Staaten, die die deutsche Einheit sehr früh und ohne wesentliche Vorbehalte unterstützten, obwohl die Vereinigung Budapest vor zahlreiche Herausforderungen stellte, insbesondere bei der Neugestaltung beziehungsweise „Rettung“ der mit der einstigen DDR gepflegten Wirtschaftsbeziehungen.

Dr. Andreas Schmidt-Schweizer: Die westdeutsch-ungarischen Beziehungen im Zeitalter der bipolaren Weltordnung (1947–1990)

Tredition-Verlag, Okt. 2021
172 Seiten, gebunden (19,99 Euro) oder Kindle (9,99 Euro)

Ein Gedanke zu “Experimentierfeld für die Ost-West-Beziehungen

  1. Ich möchte Herrn Schmidt- Schweizer fragen.. Haben Sie Borvendeg Zsuzsa Bücher gelesen? Sie hat die Kommunistische Impex Firmen westliche Verbindungen aufgearbeitet. Wie Milliarden Devizen nach WESTEN HEIMLICH TRANSFERRIERT WURDEN.

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