Rezension / Tibor Valuch: „Die ungarische Gesellschaft im Wandel“
Elite hat nicht angemessen reagiert
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Jenseits der Polemiken über Antisemitismus, Migrationsfeindlichkeit, zunehmende soziale Verwahrlosung und bedrohte Pressefreiheit, die sich die politischen Parteien gerne gegenseitig vorhalten, verweist dieses Buch einfach nur auf Zahlen, Statistiken und Fakten und zeichnet ein Bild, das sich aus den letzten Jahren der Kádár-Zeit bis ins Jahr 2017 zieht und den Systemwandel als einen zurzeit immer noch nicht abgeschlossenen Prozess darstellt, den alle Parteien, die alten wie die neuen Eliten, zusammen gestaltet haben.
Kein Segment der ungarischen Gesellschaft kann dem anderen „vorwerfen“, dass bestimmte Modernisierungsvorhaben schlichtweg gescheitert sind. Zudem ist die ungarische Situation im Rahmen der gesamten mittelosteuropäischen Transformation zu betrachten, und hier hat jedes der mittelosteuropäischen Länder den in den Jahren 1989 bis 2017 durchlaufenen Transformationsprozess anders durchlebt, da die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen in jedem dieser Länder unterschiedlich waren und auch die späteren Krisen anders verliefen.
Keine tief schürfenden politischen Analysen
Das Buch vermeidet ebenfalls tief schürfende politische Analysen. Es untersucht die Umwandlung der einzelnen Gesellschaftssegmente, der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen anhand von Statistiken. Es stellt dar, welche Eliten aus den alten Kádár-Verwaltungen hervorgingen, ohne deren inneren Kämpfe zu thematisieren. Politisch gilt für Valuch, dass „die gesamte Elite mit all ihren Teilgruppen“ letztendlich nicht angemessen auf das reagierte, was die Komplexität des Transformationsprozesses eigentlich von ihnen forderte.
Die osteuropäischen Wendejahre fielen zum einen mit dem „offensiven Abschnitt der Globalisierung“ zusammen, so etwas wie eine „soziale Marktwirtschaft“ konnte unter diesen Umständen erst gar nicht entstehen. Und zudem brach nach der Wende „eine Reihe schwer zu bewältigender, verdrängter oder verschwiegener Traumata der ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit voller Wucht auf die ungarische Gesellschaft ein“. Der Streit zwischen den liberalen und konservativen Eliten führte in diesem Punkt zu einer weiteren tiefen Fragmentierung der ungarischen Gesellschaft, die bis heute mit einem geteilten National- und Geschichtsbewusstsein lebt.
Vom Kádár-System bis zur „illiberalen Demokratie“
Insgesamt unterteilt Tibor Valuch den Transformationsprozess Ungarns in drei große Zeitabschnitte. Ab 1985 beginnt dieser mit der sich vertiefenden Krise des Kádár-Systems. Zwischen 1995 und 2002 geht es um die massenhafte Privatisierung, an der sowohl die sozialistische als auch in gewissem Umfang die spätere konservative Elite beteiligt waren. Bis 2009 stand die europäische Integration im Zentrum, und seit 2010 geht es um die Herausbildung und Konsolidierung einer „illiberalen Demokratie“. Auch hier vermeidet der Autor, weiter auf das Konzept einzugehen und zu diskutieren, was unter dem Begriff „illiberale Demokratie“ verstanden werden kann.
Positiv zu verzeichnen ist, dass Ungarn heute nicht mehr zu den Ländern mit der höchsten Selbstmordrate zählt. Waren es im Jahr 1990 noch rund 4.725 Menschen, die sich das Leben nahmen, so zählte das Jahr 2017 landesweit rund 1.634 Selbstmorde. Auch der Alkoholismus, der ja ebenso wie der Suizid ein Indikator für die Verschlechterung der Lebensqualität eines Landes ist, ist in den letzten Jahren leicht zurückgegangen. Positiv ist auch, dass trotz der Bildungskrise heute rund 90 Prozent aller über 15-Jährigen die Volksschule absolvieren. 38 Prozent der gleichen Bevölkerungsgruppe machen Abitur. So war 2016 der Anteil der Akademiker an der Bevölkerung höher als 1990. 25,2 Prozent der Ungarn von 25 bis 64 Jahren haben heute einen akademischen Abschluss.
Sozial prekäre Situation
Insgesamt aber bleibt die ungarische Gesellschaft in einer sozial prekären Situation, erklärt Valuch. Die Obdachlosigkeit hat sich seit 1990 mehr als verdoppelt. Immer noch gilt für Ungarn, dass 5 bis 8 Prozent der Bevölkerung zur reichen Schicht gehören, während 37 bis 55 Prozent am Rande der Armut leben. Durch die Statistiken wird jedoch deutlich, welche Veränderungen das ungarische System der sozialen Sicherung durchlaufen hat und wie verzweigt es heute funktioniert mit seinen Sozial- und Entlastungsleistungen bis hin zum Bau von Obdachlosenunterkünften. Dabei bleibt zu bedenken, dass der Begriff Obdachlosigkeit in Ungarn auch all jene erfasst, die nicht auf der Straße leben, sondern, wie es vielfach bei der Roma-Bevölkerung der Fall ist, auch in Waschküchen, Garagen oder Holzhütten.
Typisch für ungarische Wirtschaftsdaten ist es jedoch auch, dass Einkommensstatistiken eben nur einen Teil der ungarischen Einkommensverhältnisse aufzeigen. Denn neben der offiziellen Wirtschaft gibt es einen sehr breiten Bereich der so genannten grauen, also nicht deklarierten Wirtschaft und auch einen nicht zu unterschätzenden Bereich der naturalen Selbstversorgung. Das geht auf das Erbe der Kádár-Zeit zurück, das mit der Einführung einer „zweiten Wirtschaft“ eine ökonomische Parallelwelt schuf, die es den Bürgern erlaubte, einen Hauptberuf zu haben, und nach Feierabend noch eine lukrative zweite Einnahmequelle.
Insofern lassen sich Armut und Reichtum in Ungarn bis heute nicht wirklich statistisch erfassen. Ein ungelernter Arbeiter kann auch heute noch neben seinen 300 Euro Hauptverdienst auf unterschiedlichen Baustellen und durch Saisonarbeit in den Nachbarländern auf einen Monatsdurchschnitt von bis zu 1.500 Euro kommen, ohne dass dies statistisch erfasst würde.
Positive Migrationsbilanz
Von besonderem Interesse sind die Zahlen zum Bevölkerungswachstum. Der Leser, der in der Tagespresse erfährt, dass die jetzige ungarische Regierung eine besondere Familienförderung ins Zentrum ihrer Politik stellt, erfährt viel über die Bilanz von Einwanderung und Auswanderung in dem Jahrzehnt zwischen 2001 und 2010. Der Autor beschreibt diese Bilanz als durchaus positiv, denn es wanderten nachweislich mehr Ungarn aus den Nachbarländern ein, als junge Menschen aus Ungarn auswanderten. Erst die Wirtschaftskrise 2008/2009 verstärkte die Auswanderungsbereitschaft. Demographische Fragen, so erklärt Valuch, verloren in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zunächst an Bedeutung. Mit der Grenzöffnung war die Euphorie in Ungarn so groß, dass keine der politischen Parteien Anstoß daran nahm, als junge Menschen und Familien ihr Glück im Ausland suchten.
Als einen entscheidenden Grund für den markanten Geburtenrückgang nennt Tibor Valuch nicht nur die vermeintliche Individualisierung der Gesellschaft, sondern eben auch die mit einer Familienplanung anfallenden Kosten, die immer mehr ansteigen. Genau dieses Problem versucht die ungarische Regierung zurzeit in den Griff zu bekommen. Denn für die Ungarn ist die Familie noch immer sehr wichtig. Auch nach der politischen Wende verbleibt sie als Bollwerk gegen eine bedrohliche und prekäre Lebenssituation. Sie ist Schutz und soziale Absicherung in einem, denn wie in den anderen MOE-Staaten greifen sich auch in Ungarn die Familienmitglieder untereinander finanziell stärker unter die Arme, als das beispielsweise in Deutschland der Fall ist.
Alles in allem ist das Buch von Tibor Valuch ein hochgradig informatives Buch, gerade wegen seiner bis zum Ende bewusst eingehaltenen Neutralität, die überhaupt nichts wertet oder kommentiert. Man erfährt in diesem Buch tatsächlich sehr viel über ein Land, das in aller Munde ist, über das aber nur wenige etwas Konkretes wissen.
Tibor Valuch: „Die ungarische Gesellschaft im Wandel – Soziale Veränderungen in Ungarn 1989 bis 2017“
erschienen in der Reihe „Studia Hungarica“ des Ungarischen Instituts München e.V.
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2020,
328 Seiten, 34,95 Euro.