Rezension: „Der gelehrsame Exilant“ von Zsolt K. Lengyel
Eine kleine Biografie des Historikers Thomas von Bogyay
1962 ist das Gründungsjahr des Ungarischen Instituts München. Der Aufstand in Ungarn liegt gerade sechs Jahre zurück, der Mauerbau in Berlin erst eines. Es ist die Zeit des Kalten Krieges und der Abschottung zwischen Ost und West.
In Bayern und namentlich in der bayerischen Landeshauptstadt leben zahlreiche ungarische Exilanten, unter ihnen der 1909 in Kőszeg geborene Tamás Bogyay (in Deutschland schreibt er sich Thomas von Bogyay), der bereits bei Kriegsende Ungarn verlassen hat und als Redakteur beim Münchener Sender Radio Freies Europa beschäftigt ist.
Sein Herz schlägt für die Wissenschaft
Die Arbeit beim Rundfunk dient ihm jedoch hauptsächlich zum Broterwerb, sein Herz schlägt für die Wissenschaft, insbesondere die Kunstgeschichte. Es ist ihm ein wichtiges Anliegen, dass der wissenschaftliche Austausch über alle politischen Barrieren hinweg weiterhin funktionieren kann, dass die Forschung zur Geschichte Ungarns und zu den historischen Wechselwirkungen des Landes mit seinen Nachbarn nicht zur exilpolitischen Zweckbestimmung einerseits beziehungsweise zur marxistischen Ideologisierung andererseits verkommt. Mit diesen Intentionen engagiert sich Thomas von Bogyay von Beginn an für das Ungarische Institut München (UIM). Er wird zum Gründungsdirektor gewählt und hat dieses Amt bis 1972 inne. Danach bleibt er bis zu seinem Lebensende, 1994, zweiter Vorsitzender und unbestrittener Spiritus Rector.
Ihm hat nun Dr. habil. Zsolt K. Lengyel eine Monografie gewidmet: „Der gelehrsame Exilant. Eine kleine Biografie des Historikers Thomas von Bogyay”. Lengyel ist seit 1984 Mitarbeiter des UIM und seit 2002 dessen Direktor. Für dieses Buch über seinen Vorgänger konnte er neben persönlichen Erinnerungen auf den umfangreichen, am UIM verwahrten und betreuten Nachlass Bogyays zurückgreifen.
Geschichte der Magyaren bei Bogyay im Fokus
Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses von Bogyay stand die Geschichte der Magyaren in ihren europäischen Bezügen: zwischen Germanen, Slawen, Italien und Byzanz. Dabei ging es ihm grundsätzlich um eine interkulturelle Sichtweise und einen interdisziplinären, besonders auch soziologische Fakten einbeziehenden Ansatz. Ein in solcher Weise definiertes akademisches Fach war unter der Bezeichnung Hungarologie in der Zeit des Ersten Weltkriegs an der Universität Berlin entwickelt worden. Bogyay besuchte 1933 als Gasthörer das Berliner Collegium Hungaricum. Bereits vorher hatte er sein Studium in Budapest fachlich sehr vielseitig angelegt: Ungarische Philologie, Romanistik, Geschichte, Ästhetik, Archäologie, Philosophie und Psychologie gehörten zu seinem Kanon. Er promovierte über die gesellschaftliche Stellung des Künstlers im Frühmittelalter.
Lengyel sieht Bogyays Leben auf zwei parallelen Bahnen verlaufen: hier Beruf und da Berufung. Dem „gelehrsamen” Bogyay sollte es nicht vergönnt sein, mit seiner Passion für die Wissenschaft den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Widrige Zeitumstände standen einer institutionell akademischen Karriere im Weg. Er trat 1935 in den Dienst des ungarischen Ministeriums für Kultus und Unterricht, das ihn zunächst mit Aufgaben in der Schulverwaltung beschäftigte und 1943 zum Referenten für Denkmalpflege und Kunstausstellungen im Ausland ernannte. In dieser Funktion oblag es ihm kurz vor Kriegsende, ausgelagerte ungarische Kunstschätze auf einem Transport nach Westen zu begleiten. Der Transport kam in Oberbayern zum Stehen. Bogyay, inzwischen verheiratet, blieb mit seiner Frau im Chiemgau. Die folgenden drei Jahre war er, immer noch in staatlichem ungarischen Auftrag, damit befasst, die Rückführung der zwischenzeitlich von den Amerikanern konfiszierten Kulturgüter zu organisieren.
Mit politischen Aussagen hielt er sich sehr zurück
Als ihm 1952 eine Stelle als Redakteur beim amerikanischen Sender Radio Freies Europa angeboten wurde, nahm er an, zog nach München um und besiegelte somit seinen Exilantenstatus. In diesem Zusammenhang betont Lengyel, dass Bogyay mit seinem konservativ-liberalen Hintergrund gewiss den Sozialismus ablehnte, jedoch keineswegs zum Bild eines antikommunistischen Propagandisten passte. Sein Ressort in der ungarischen Redaktion des Senders war Kultur. Mit politischen Aussagen hielt er sich sehr zurück, Lengyel charakterisiert ihn als nahezu „apolitisch”. Auch das UIM suchte er vor dem Einfluss von Leuten zu bewahren, die unter „Emigritis” litten, wie er einmal spöttisch schrieb.
Neben den beruflichen Aktivitäten widmete Bogyay jedoch lebenslang so viel Zeit wie möglich seiner Berufung als Privatgelehrter. Lengyel listet im Anhang der Biografie 644 Titel wissenschaftlicher Publikationen von Bogyay auf. Schwerpunkte bilden Forschungen zu Kunstwerken der Árpádenzeit wie die Heilige Ungarische Krone, die Porta Speciosa in Esztergom oder die romanische Abteikirche in Ják. Er schrieb eine Biografie über König Stephan I., die er sowohl auf Deutsch als auch auf Ungarisch herausgab. Seine „Grundzüge der Geschichte Ungarns” erschienen von 1967 bis 1990 in vier Auflagen, 1993 auch auf Ungarisch, und gelten bis heute als ein Standardwerk, insbesondere im Hinblick auf die frühe, mittelalterliche sowie frühneuzeitliche Geschichte des Landes.
Von München aus versuchte Bogyay über die Nachkriegsjahrzehnte hinweg, den wissenschaftlichen Dialog zwischen der ungarischen, der exilungarischen und der westlichen Fachwelt aufrechtzuerhalten. 1964 etablierte er im Rahmen des UIM die Schriftenreihe „Studia Hungarica”, als deren erster Band eine eigene Arbeit über „Bayern und die Kunst Ungarns” erschien. (Im Jahr 2018 sind die „Studia Hungarica” bei Nr. 54 angelangt, nämlich der hier besprochenen Biografie.)
Gründer des „Ungarn-Jahrbuchs“
Eine weitere periodische Publikation des UIM startete fünf Jahre später: das „Ungarn-Jahrbuch”, das ebenfalls ununterbrochen bis heute erscheint. Dabei blieb es Bogyay als Exilanten und Mitarbeiter von Radio Freies Europa viele Jahre lang verwehrt, sein Heimatland überhaupt zu betreten oder dort zu publizieren.
Erst das in den 80er Jahren einsetzende politische Tauwetter und schließlich die Wende ermöglichten wieder unbehinderte Kontakte. 1985 durfte er auf einer Budapester Konferenz zu den ungarischen Krönungsinsignien einen Vortrag halten, sein erster Ungarnaufenthalt seit 1945, und 1990 verlieh ihm die Eötvös-Universität (ELTE) die Ehrendoktorwürde.
Nun hatte er endlich auch wieder freien Zugang zu den Objekten seiner Forschungsschwerpunkte wie etwa der Kirche von Ják. Dort konzentrierte Bogyay sich besonders auf die Figuren der Apostelgalerie über dem Westportal. Auf dem Foto aus dem Jahr 1990 ist zu sehen, wie er das Gerüst besteigt, das eigens zur näheren Erforschung der Figuren errichtet wurde. (Eine Nachbildung dieses Portals befindet sich übrigens an der Kapelle der Burg Vajdahunyad im Budapester Stadtwäldchen.)
Bescheiden und uneitel
Lengyel beschreibt Bogyay als einen immer bescheidenen, uneitlen Menschen, dem wissenschaftliche Standards und Wahrheitssuche oberste Prinzipien waren, und dem, falls es denn an etwas mangelte, dies am ehesten eine Begabung zur Selbstvermarktung war. Hierzu passt ein Satz Bogyays aus seiner Dankesrede bei der Auszeichnung mit der Ehrendoktorwürde: „Ich habe […] das Gefühl, dass die Anerkennung in erster Linie nicht mir gilt, sondern derjenigen wissenschaftlichen Ethik, deren Tradition die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet.”
Das Ungarische Institut München ging im Jahr 2009, 15 Jahre nach Bogyays Tod, eine Kooperation mit der Universität Regensburg ein und verlagerte seine Aktivitäten dorthin. Das Umschlagbild der Bogyay-Biografie zeigt symbolisch die Verschmelzung der Steinernen Brücke in Regensburg mit der Kettenbrücke in Budapest.
Zsolt K. Lengyel: Der gelehrsame Exilant.
Eine kleine Biografie des Historikers Thomas von Bogyay.
Reihe: Studia Hungarica, Band 54. 328 Seiten,
45 Abbildungen. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2018.
34,95 Euro (D) und 36 Euro (A).