Märchenerzählerin Csenge Zalka
Eine ganz eigene Welt
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Csenge ist mit Märchen aufgewachsen, „sowohl meine Eltern als auch meine Großeltern haben mir Märchen erzählt als Kind, und auch als Jugendliche ließ mich ihr Zauber nicht los.“ Doch erst während ihres Studiums erfuhr sie, dass sie ihre Liebe zum Erzählen noch weiter entwickeln kann.
Geschichtenerzählen will gelernt sein
„Ich habe Archäologie studiert und erfuhr während meines Studiums, dass es in Tennessee einen Masterstudiengang im Storytelling, also im Geschichtenerzählen gibt. Nach meinem Abschluss in Archäologie konnte ich mittels eines Stipendiums dann in die USA reisen, um dort meinen Master in Storytelling zu machen.“ Csenge lernte dort neben mehr theoretischen Fächern wie Folklore, Märchenpsychologie und Geschichte des Storytellings auch praktisch, wie man Geschichten und Märchen gut erzählt. „Die Abschlussprüfung war eine ‚Finest Hour‘, also eine einstündige Performance.” Csenge brachte ein buntes Potpourri an ungarischen Geschichten, einem selbst übersetzten Gedicht und Weisen über Attila den Hunnen ebenso zum Vortrag, wie auch eine Geschichte, die sie von ihrem Großvater als Kind gehört hatte. „Wir haben während des Studiums gelernt, wie man Märchen thematisch bündeln kann, denn in den seltensten Fällen erzählen wir eine Stunde lang ein und dasselbe Märchen, außer, wenn ein Epos auf dem Programm steht.“
Nach ihrer erfolgreichen Prüfung bewarb sich Csenge für ein PhD-Programm in den USA, „was offiziell unter der Bezeichnung Cultural Studies lief, aber neben den Pflichtfächern konnte ich mich weiterhin meinem eigentlichen Forschungsgebiet widmen”, nämlich der Erforschung des digitalen Märchenerzählens und der Rollenspiele.
„Obwohl ich natürlich mit ungarischen Märchen und Geschichten aufgewachsen bin, meine Lieblinge waren später als Teenager lange irische Geschichten und alles rund um griechische, römische und skandinavische Götter.“ Doch noch während ihres ersten Studiums brachte sie ein Austauschprogramm in die USA, „meine Kommilitonen baten mich dauernd, ungarische Märchen zu erzählen, und so lernte ich meine bekannten Gefährten aus der Kindheit noch einmal ganz neu kennen.“
Und auch ganz neue Märchen-Freundschaften schloss sie, denn angespornt durch das Interesse ihrer amerikanischen Zuhörer begann Csenge, nach weniger bekannten ungarischen Märchen zu suchen: „So stieß ich beispielsweise auf die Märchen von Anna Pályuk. Sie stammt aus Transkarpatien und ihre Feenwelt verzaubert mich bis heute.“ Gar so sehr, dass die junge Frau die Geschichten Pályuks ins Englische übersetzte und unter dem Titel „Dancing on Blades“ veröffentlichte.
Csenge weiß, es gibt kaum etwas, was in Sachen Märchen „typisch ungarisch“ ist, „allein das allseits bekannte Fehérlófia („The Son of the white Mare“) gibt es in Ungarn in unzähligen Versionen.” Was eher landesspezifisch ist, sind die Charaktere. Die Mátyás Mesék, die Geschichten rund um König Matthias, sind ebenso einzigartig für Ungarn wie die Garabonciás Legenden, eine Sammlung an Geschichten junger Zauberer, die auf Drachen reiten können. Wie Csenge sagt, könnte sie auch auf einer polynesischen Insel vermutlich ein Märchen finden, welches dem Motiv des Fehérlófia ähnelt, doch König Matthias ist wirklich ein Hungaricum.
„Du musst mit dem Publikum interagieren“
Doch was macht einen guten Märchenerzähler aus? „Ich glaube, zwei Dinge. Zum einen, dass du nur das erzählst, was du auch selbst magst. Nur eine Geschichte, die dich selbst gefangen hat, kannst du so erzählen, dass sie für dein Publikum spannend ist. Und andererseits ist wichtig, dass das Märchenerzählen interaktiv ist. Ich setze mich nicht hin und trage vor, wie beispielsweise bei einem Theaterstück, sondern ich reagiere auf mein Publikum. Wenn ich auftrete, ist immer das Saallicht an, weil ich einfach sehen möchte, was für mein Publikum funktioniert und was nicht, wo gelächelt, gelacht oder gegähnt wird.“
Natürlich zählt auch das Lebensalter des Publikums viel: „Mit kleinen Kindern sind Märchen ausgesprochen aktiv, ich lasse sie aufstehen, klatschen, mitspielen. Teenager hingegen „setzen sich gern in ein Märchen hinein“, lassen sich erzählen und verlieren sich darin.“ Csenge variiert während des Erzählens ganz frei. „Wenn ich nach ein oder zwei Versuchen merke, dass meine Witze in der Geschichte nicht zünden, dann lasse ich es mit den Witzeleien. Wenn ich aber merke, dass an anderer Stelle meine Zuhörer an meinen Lippen hängen, dann dehne ich das Geschehen dort etwas aus. Du musst stets mit deinem Publikum interagieren.”
Nach ihrem liebsten Märchen befragt, kann Csenge keine eindeutige Antwort geben: „Ich habe Märchen aus mehr als 160 Ländern gelesen, und ich muss sagen, ich habe heute aus jedem Land ein Lieblingsmärchen.“ Irische Geschichten liebt sie bis heute, da sie bunt, überraschend und voller liebenswerter Helden sind. Daneben sind es aber auch persische Märchen, die es Csenge angetan haben: „Persische Märchen haben eine wunderschöne Bildsprache, es ist leicht, sich all die Zauber und Wunder vorzustellen, wenn man so ein Märchen liest.”
Alternative Enden für Märchen
Csenge arbeitet als Märchenerzählerin bei der Stiftung Világszép, wo Ehrenamtliche Helfer Märchen zu Kindern in Kinderheimen bringen: „Im Világszép-Fundus finden sich nur solche Märchen, die ein gutes Ende haben, aber natürlich ist das bei weitem nicht bei allen der Fall.“ Gerade bei Lehrmärchen oder einem Heldenepos ist der Tod ein unumgängliches Element.
Doch oft gibt es auch verschiedene Versionen eines Märchens, „so existiert in Amerika beispielsweise eine Version von Schneewittchen, in der sie nicht den Prinzen, sondern einen der Zwerge heiratet, oder Aschenputtel, das nicht etwa gezwungen wird, daheim und dem Ball fern zu bleiben, sondern sich selbst so entscheidet.” Solche Variationen sind nicht unüblich, Csenge liebt es, auf alternative Versionen von Märchen zu stoßen.
Ihre liebsten sind feministische Märchen, in denen ein kluges Mädchen oder eine starke Frau einen guten, klugen Partner hat: „Ich mag Märchen nicht, in denen der Mann dem Mädchen die Schwanenflügel abreißt und sie erst wiedergibt, wenn sie seine Frau wird. Ich mag Märchen, in denen Frauen selbstbestimmt sind.“ Manchmal kommt es aber auch vor, dass Csenge selbst in die Geschehnisse eingreift: „Ich bin beispielsweise auf ein Märchen gestoßen, welches mir unheimlich gut gefiel, nur der Schluss war furchtbar. Es geht um eine arme Frau, die von ihrem Mann ganz fürchterlich geschlagen wird und davon läuft. Sie findet ihr Glück, wird reich und in der Originalversion kehrt sie dann zu ihrem Mann zurück, der sie fortan nicht mehr schlägt.” Eine überzeugte Feministin wie Csenge kann so ein Ende natürlich nicht hinnehmen und nutzt deswegen das Mittel des Fractured Fairy Tale: „Es ist heute durchaus erlaubt, Geschichten zu ändern. Märchen haben sich ständig verändert, da sie übers Hörensagen weitergegeben wurden. Heute werden gegebenenfalls bewusst Änderungen vorgenommen.“ Wenn Csenge beispielsweise ein Volksmärchen wie das oben erwähnte ändert, macht sie das auch ihren Zuhörern deutlich: „Ich trage dann zwar weiterhin ein Volksmärchen vor, jedoch eben nicht mehr die traditionelle Version.“
Verschiedene Ebenen
Um in ein Märchen so einzugreifen, ist aber das wirkliche Verständnis erforderlich. So gibt es bei Märchen ebenso verschiedene Ebenen, wie bei allen anderen Kunstformen auch. „Da wäre beispielsweise die kulturelle Ebene”, erklärt Csenge. Um ein Märchen zu verstehen, muss man wissen, woher es kommt, „oft kann das Geschehen nicht vom kulturellen Hintergrund gelöst werden.“
Ihr Lieblingsbeispiel sind hierbei australische Märchen: „Es gibt eine Märchensammlung mit Märchen aus aller Welt und viele Eltern denken sich, was für eine gute Quelle an Gutenachtgeschichten. Und dann stoßen sie auf australische Märchen und wundern sich.“ Denn dort laufen beispielsweise drei Emus durch die Wüste, biegen nach links, treffen auf ein Krokodil und laufen weiter nach rechts. „Das ist als Gutenachtgeschichte natürlich vollkommen ungeeignet und erscheint fast sinnlos, aber wenn man weiß, dass in Australien Geschichten der Orientierungshilfe in der Wüste dienten, wird es gleich klarer.“
Dann gibt es noch die psychologische Ebene, wo beispielsweise ein Ansatz ist, dass in jedem Märchen, und in jeder Geschichte der Zuhörer in jedem Charakter, nur eben aus unterschiedlichen Perspektiven, steckt.
Für Csenge ist diese Ebene wenig relevant, viel spannender ist für sie die praktische Ebene: „Gerade bei Kindern kommt es oft vor, dass sie diese Ebene am deutlichsten sehen und einfach reinrufen.“ Wenn beispielsweise der Zauberer etwas in seine Truhe packt, die doch vorher schon so prall gefüllt war, dass er sie kaum schließen konnte, dann bringen das ihre kleinen Zuhörer oft zur Sprache. Die Erklärung hierfür liegt nicht etwa in der Unachtsamkeit der Erzählerin, sondern darin, dass Märchen von Mund zu Mund gereicht wurden oder vielleicht bei der Aufzeichnung eine Ungenauigkeit hineingerutscht ist. „Es ist immer spannend, diese Ebene eines Märchens zu entdecken.“
Die letzte Ebene ist die kreative Ebene, in der eben auch das Fractured Fairy Tale zur Geltung kommen kann. Csenge liebt diese Richtung, gibt sie ihr doch die Möglichkeit, ganz neue Aspekte an einer Geschichte zu entdecken: „Es ist unheimlich spannend, Schneewittchen beispielsweise aus der Sicht der Stiefmutter zu erzählen, die Schneewittchen davon abhalten will, das Königreich zu zerstören.“
Csenge selbst hat begonnen, Geschichten und Märchen starker Frauen auf ihrem persönlichen Blog zu sammeln. Die ungarische Sammlung erschien bereits unter dem Titel „Ribizli a világ végén” (dt.: Johannisbeeren am Ende der Welt). Derzeit arbeitet sie an einer internationalen Sammlung, die dann hoffentlich auch auf Englisch erscheinen wird.
Csenge Zalkas Blog: multicoloreddiary.blogspot.com