Rezension: Ungarn-Jahrbuch 36 (2020)

Die Poesie des Fremden

Im Juli 2021 brachte das Ungarische Institut der Universität Regensburg das neue „Ungarn-Jahrbuch“ heraus.

Der Band 36 dieser „Zeitschrift für interdisziplinäre Hungarologie“ präsentiert eine breite und innovative Palette hungarologischer Forschungsergebnisse, deren zeitlicher Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert liegt.

Die erste Abhandlung füllt eine Lücke in der Schwerpunktsetzung, denn der Autor Ádám Schwarczwölder beschäftigt sich mit dem ungarischen Finanzminister der Doppelmonarchie, Kálmán Széll. Der Aufsatz „Um für die Zukunft arbeiten zu können, muss zuerst die Gegenwart gerettet werden – Die Krise 1873 und Kálmán Széll als Finanzminister Ungarns“ beschäftigt sich mit dem „kometenhaften Aufstieg“ des ungarischen Adeligen an die Spitze der ungarischen (Finanz-)Politik und kontextualisiert die biografischen Elemente anhand der zeithistorischen Entwicklung und insbesondere der ökonomischen Rahmenbedingungen.

Den Schwerpunkt des 20. Jahrhunderts eröffnet Szabolcs Nagys Abhandlung „Károly Kratochvil und die Szekler Division 1918/1919“ über die chaotische Lage in Siebenbürgen im Spätherbst 1918. Er beleuchtet die kritische Situation nach dem Einmarsch rumänischer Truppen und die Organisation des ungarischen, vornehmlich szeklerischen Widerstandes sowie die Bedeutung des ungarischen Obersten Kratochvil für die ungarische Gegenwehr.

Anlässlich der einhundertjährigen Wiederkehr der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Trianon widmet Balázs Ablonczy seine Abhandlung „Nach hundert Jahren. Der Friedensvertrag von Trianon vom 4. Juni 1920“ dem historischen Kontext dieses bedeutsamen Ereignisses, während Gábor Ujvárys Aufsatz „Kulturelle Folgen der Aufteilung Ungarns durch den Friedensvertrag von Trianon 1920“ sich dem bisher weniger erforschten Themenbereich der bildungs-, archiv- und (hoch-)schulpolitischen Folgewirkungen widmet.

In der Abhandlung „Der Ausbau des Exportnetzwerks einer ungarischen Firma auf der Leipziger Mustermesse 1930“ beschreibt István Gergely Szűts, welche Bedeutung die Leipziger Messe für die ungarische Herender Porzellanmanufaktur AG hatte und was sie unternahm, um dort angemessen repräsentiert zu sein.

Die „Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern nach 1956“ sind das Thema von Rita Kiss, die in ihrem Aufsatz die Erstaufnahme, Unterbringung und Integration der Ungarn untersucht. Von der Autorin erscheint demnächst die Münchener Dissertation „Aus Ungarn nach Bayern. Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern 1956–1973“ als Band 56 der Studia Hungarica, der Buchreihe des Ungarischen Instituts.

Joseph Jehlicka vergleicht umfangreich „Die Oppositionsbewegungen in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und in der Volksrepublik Ungarn 1977–1989“ und legt dabei das Hauptaugenmerk auf die Intellektuellenkreise und die inländische Opposition.

Im Abschnitt „Forschungsberichte“ schreibt Szabina Bognár „Zur Geschichte der volksrechtlichen Forschungen in Ungarn“ und erfasst dabei die wichtigsten Vertreter dieser rechtskulturgeschichtlichen und rechtsethnografischen Forschungsrichtung.

Máté Tamáskas Bericht über „Historische Architektursoziologie. Das Modell der Formbildung nach István Hajnal (1892–1956)“ erfasst die soziologisch relevanten Erkenntnisse Hajnals und sein Modell der Formbildung sowie seine historische Sichtweise der Architektursoziologie.

Fabian Hutmacher geht in seinem Forschungsbericht „Die Poesie des Fremden – oder: Die schwierige Schönheit der ungarischen Sprache. Eine qualitative Interviewstudie mit Ungarisch-Lernenden“ der Frage nach, ob man durch das Lernen einer Sprache in einem gewissen Sinne auch lernt, die Welt anders zu betrachten.

Der Aufsatz von Orsolya Tamássy-­Lénárt „Das ungarische Wien. Schriftsteller aus dem Königreich Ungarn in der österreichischen Residenzstadt im 18.–19. Jahrhundert“ befasst sich mit dem ungarischen Milieu der österreichischen Hauptstadt, das durch den Gebrauch der ungarischen Sprache geprägt war.

Im Aufsatz „Ludwig von Doczi (1845–1919), der berufene Vermittler zwischen deutschem und ungarischem Schrifttum in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie“ skizziert Eszter Benő die wichtigsten Lebensabschnitte und Schaffensphasen des österreichisch-ungarischen Schriftstellers, Dichters, Übersetzers, Journalisten und Politikers.

Der Abschnitt Buchbesprechungen umfasst 18 Rezensionen von Buchpublikationen mit hungarologischen Bezügen aus den Fachbereichen Archivwissenschaft, Geschichte, Kirchengeschichte, und Kulturgeschichte und Literaturwissenschaft.

Ungarn-Jahrbuch 36 (2020)
Verlag Friedrich Pustet, 2021
376 Seiten, Hardcover, 48 Euro.

Schreibe einen Kommentar

Weitere Artikel