Buchtipp und Interview mit AUB-Gastprofessor Dr. Siegfried Franke
„Die gefährdete Demokratie“
Prof. Dr. Siegfried Franke, ausgebildeter Groß- und Außenhandelskaufmann, wuchs in Bielefeld auf, studierte unter anderem in Freiburg im Breisgau. Er promovierte an der Universität Dortmund, wo er sich auch habilitierte. Er leitete 19 Jahre lang die interdisziplinär angelegte Abteilung für Wirtschaftspolitik und Öffentliches Recht an der Universität Stuttgart. Von 2012 bis 2015 hatte er den Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an der Andrássy Universität in Budapest inne, seitdem ist er dort als Gastprofessor tätig.
Zu einem seiner Schwerpunkte in Forschung und Lehre gehört die politische Willens- und Entscheidungsbildung in der Demokratie. Entsprechend dazu hat Franke 2017 sein Buch „Die gefährdete Demokratie“ veröffentlicht. Darin hat er eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen zusammengefasst, die im Wesentlichen den Umbruch skizzieren, in dem sich Europa aktuell sowohl in gesellschaftlicher wie auch wirtschaftlicher Sicht befindet. Konkret, so Franke, gäbe es derzeit viele Überlegungen wie es mit Europa weitergehen soll. Vorschläge der Altstaaten der EU und der neu hinzugekommenen, meist osteuropäischen Staaten, stünden dabei allerdings zum Teil in Konflikt zueinander.
Der Umbruch in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik stellt Grundzusammenhänge zur Demokratie und zum Fortbestand rechtsstaatlicher Institutionen in Frage, die auf den klassischen englischen Liberalismus sowie auf französische Denker der Aufklärung, etwa Montesquieu, zurückgehen. Diese Grundzusammenhänge legt Franke in seinem Werk dar und bezieht sie auf die heutige Situation in Europa, und zwar anhand der übergeordneten Themenfelder „alte und neue Probleme der Demokratie“, „Identitäts- und Demokratieprobleme in der EU“ und „Zusammenspiel von Demokratie und Wirtschaft“. Zum Schluss geht Franke auch der Frage nach, ob Ungarn tatsächlich bereits in einen autoritären Staat abgeglitten sei.
In Ihrem Buch schreiben Sie über die „Einheit in Vielfalt” der Europäischen Union, eine politische Formel, die man häufig direkt aus Brüssel zu hören bekommt. Kann bei so vielen Nationen innerhalb der Europäischen Union überhaupt von einer „Einheit in Vielfalt“ die Rede sein? Ist das nicht vielmehr ein Wunschdenken?
Bei der „Einheit in Vielfalt“ gilt es, herauszudestillieren, welche Merkmale typisch europäisch sind. Das sind insbesondere die Prägung durch die Aufklärung sowie das Christlich-Jüdische. Darüber hinaus sind auch geografische Grenzen ziehen. Zu nennen sind zum Beispiel durch Gebirge und Gewässer deutlich unterscheidbare Gebiete. Dennoch: Alle Menschen – und damit auch alle Nationen – müssen ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Aufgrund der spezifischen landwirtschaftlichen und geologischen Bedingungen beispielsweise gelingt das in den einzelnen Ländern mit unterschiedlich hohem Aufwand. Hinzu treten weitergehende Wünsche. Es ist daher naheliegend, dass sie sich – bei all ihrer Vielfalt in historischer, kultureller und geografischer Sicht – zusammenfinden, um Waren und Dienstleistungen nach gemeinsamen Regeln zu erstellen und zum wechselseitigen Nutzen austauschen. Auch der Schutz nach Außen ist wichtig Es ist ja kein Geheimnis, dass Europa – denken wir nur an den internationalen Terrorismus – bedroht ist. Bei alledem ist es elementar, gemeinsame Aufgaben zu formulieren, aber den einzelnen Staaten Freiheiten bei der Ausführung zu belassen. Das nenne ich „Einheit in Vielfalt“. Erkennbar ist das beispielsweise in den Vereinigten Staaten von Amerika: Trotz gemeinsamer Außenpolitik und gemeinsamer Verteidigungspolitik sowie der Steuerpolitik auf Bundesebene haben die einzelnen Bundesstaaten weitgehende Freiheiten. Brüssel dagegen scheint darauf aus zu sein, sich jedes Feld, das sich irgendwie standardisieren lässt, unter den Nagel zu reißen. Tauchen Schwierigkeiten auf, so lautet die Zauberformel der „Berufseuropäer“ regelmäßig: „Noch mehr Integration!“. Es liegt auf der Hand, dass das in einem Europa, das vom Nordmeer bis zum Mittelmeer und vom Atlantik bis zur ukrainischen Grenze reicht, kaum umzusetzen ist, ohne bei den Bürgern Unbehagen und Unzufriedenheit auszulösen.
Was zeichnet gegenwärtig die europäische Identität aus?
Etwas pointiert formuliert sehe ich eigentlich gar keine europäische Identität. Ich sehe gemeinsame europäische Interessen, die man durchaus formulieren kann, und die man folglich in dazu geeigneten Institutionen auch gemeinsam vertreten kann. Aber das, was man wirklich unter Identität versteht, bedingt eine gemeinsame Geschichte, mit der man sich identifizieren kann. Können sich zum Beispiel die Ungarn wirklich mit der Geschichte der Schweden und die Holländer mit der der Griechen identifizieren?
Es gehört zudem eine halbwegs gemeinsame Sprache dazu. Überall dort, wo Sprachenvielfalt herrscht – das steht schon in der Bibel –, gibt es früher oder später Probleme. Ich müsste auch eine hinreichende Kenntnis der programmatischen Inhalte der Parteien und ihrer Vorstellungen zur praktischen Umsetzung haben. Das geht nur, wenn ich die Kandidaten, die auf europäischer Ebene zur Wahl stehen, einigermaßen verstehe. Die Abgeordneten des Europaparlamentes mögen flammende Reden halten, die für ihre Kollegen im Parlament übersetzt werden, sie kommen jedoch kaum bei der Masse der europäischen Bürger an. Daran dürften auf absehbare Zeiten nationenübergreifende europäische Parteien scheitern. Es ist selbstverständlich wünschenswert, eine gemeinsame Identität zu haben. Aber wenn man weder eine gemeinsame Sprache noch – von den zahllosen kriegerischen Auseinandersetzungen einmal abgesehen – eine gemeinsame Geschichte hat, was könnte dann als Identitätsstiftung funktionieren? Ich glaube, der auf der Aufklärung basierende Begriff der Verfassungsidentität greift hier noch am ehesten. Es wird jedoch viel an Zeit und Mühe kosten, einen solchen Begriff im Bewusstsein der europäischen Bürger zu verankern.
Auf den ersten Seiten Ihres Buches diskutieren Sie den Begriff der „illiberalen Demokratie“. Sie schreiben, das Wort „illiberal“ ähnele in seiner Bedeutung dem Wort „autoritär“. Was meint spezifisch die ungarische Regierung beziehungsweise Ministerpräsident Viktor Orbán, wenn er von der illiberalen Demokratie spricht?
Die zentrale Frage ist: Kann es eine illiberale – also eine nicht liberale – Demokratie überhaupt geben? Ich muss gestehen: Selbst nach der Lektüre einschlägiger Artikel bin ich nicht dahinter gekommen, woher diese Begriffsbildung stammt. Gemeint ist aber – und das sagt auch Orbán –, dass die Liberalität in vielen westlichen Staaten so weit gegangen sei, dass sie den Feinden der Demokratie gestatte, die Institutionen auszuhöhlen und von innen heraus zu zerstören. Das ist falsch verstandene Toleranz. Als Einfallstor dient, was Orbán unter fehlgeleiteter „political correctness“ versteht. Es sind zwei zentrale Gedanken, die ihn offenkundig bewegen: Der eine ist – wahrscheinlich auch bedingt durch die sehr guten Wahlergebnisse – die Annahme, dass er und seine Regierung durch die Wahlen in überzeugender Weise vom Volke, also vom Souverän, legitimiert sind. Warum sollte es also andere Institutionen geben, die diese Legitimation fallweise einschränken und Änderungen getroffener Regierungsentscheidungen verlangen dürfen oder sie sogar kippen können? Wenn überhaupt, dann sollten sich diese Institutionen, zum Beispiel das Verfassungsgericht, nur auf formale Mängel im Gesetzgebungsprozess beschränken, die sich indessen leicht beheben lassen. Zum anderen wundert er sich, wieso ihm Zivilgesellschaften ständig in seine Politik hineinreden wollen, wenn ihm doch das ungarische Volk eine so überwältigende Legitimation gegeben hat. Diese Kernüberlegungen bewegen aber nicht nur Orbán; nur sind andere Politiker geschickter darin, diese Gedanken zu verbergen und ihre Durchsetzung mit anderen Mitteln zu versuchen. Letztlich geht es ihm darum, dass er gewählt ist, und dass das reichen müsse, um den bisherigen Kompetenzbereich rechtsstaatlicher Institutionen erheblich einzuschränken.
Viktor Orbán sieht sich und seine Regierung durch eine überaus hohe Zustimmung des Volkes legitimiert. In Ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen haben Sie herausgefunden, dass die Rechnung so nicht ganz aufgeht. Zum Teil liege das an den Schwerpunktgesetzen beziehungsweise Kardinalsgesetzen Ungarns im Grundgesetz. Welche Problematik verbirgt sich hier?
Schwerpunktgesetze sind Gesetze, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament geändert werden können. In freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratien kann die Verfassung in der Regel nur mit qualifizierter Mehrheit, d.h. mit Zweidrittelmehrheit, gelegentlich auch mehr, geändert werden. Für den Erlass ganz normaler Gesetze genügt jedoch eine einfache Mehrheit. Wenn nun für eine Reihe von gesellschaftlichen Regelungsbereichen eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist, dann kann man sich Folgendes überlegen: Dass die derzeitige Opposition in Ungarn mal eine Zweidrittelmehrheit gewinnt, ist doch sehr unwahrscheinlich. Wenn sie aber die derzeitige Regierung nur auf Grund einer einfachen Mehrheit ablöst, wäre ihr die Möglichkeit genommen, auf gewisse politische und wirtschaftliche Entwicklungen mit der Änderung einfacher Gesetze zu reagieren. Dass nämlich die abgewählte alte Regierungspartei ihr beispringt, um die Zweidrittelmehrheit zu erreichen, ist kaum anzunehmen. Das Motiv für diese Gesetze reicht zurück in die Phase des politischen Systemwechsels. Mit den Schwerpunktgesetzen sollte der Gefahr vorgebeugt werden, dass eine zwischendurch wieder an die Macht kommende kommunistische Gruppierung mit einfacher Mehrheit Gesetze erlassen oder ändern könne. Diese Gefahr sieht der derzeitige Parlamentspräsident, László Kövér, offenbar nicht mehr, denn er forderte vor einiger Zeit, dass das Parlament der Regierung mehr Gestaltungsspielraum lassen und sie durch Verordnungen regieren lassen solle. Das wäre freilich noch bedenklicher als die vorhandenen Schwerpunktgesetze.
Wie ist es denn Ihren Forschungen nach im Allgemeinen um die Demokratie in Ungarn bestellt?
Beginnen wir beim komplizierten Wahlrecht in Ungarn. Bekanntlich hat die Venedig-Kommission, eine Einrichtung des Europarates, nach langem Brüten festgestellt, dass es demokratischen Grundsätzen genüge. Ich kann nachvollziehen, dass man im Interesse der Stabilität bestimmte Vorkehrungen trifft, um eine Zersplitterung oder eine Regierungsunfähigkeit zu vermeiden. Das sehen wir auch in England oder Griechenland. Wenn ich es richtig verstehe, kommt das Ausmaß, mit dem ein Kandidat seinen Wahlkreis gewinnt, zugleich der Verteilung der Sitze im Parlament zugute. Betrachten wir das Ergebnis der Wahl von 2014, so hat es mich schon gewundert, dass die Zustimmung für die Fidesz-KDNP zwar auf knapp 45 Prozent gesunken ist, sie aber trotzdem erneut eine Zweidrittelmehrheit errang. Die im Anschluss an die diesjährigen Wahlen stattfindenden Demonstrationen fand ich indessen ebenso eigenartig, um nicht zu sagen unglaubwürdig. Im Vorfeld der Wahl haben sich die Oppositionsparteien ja nicht über das Wahlrecht beschwert. Erst im Nachhinein gingen die Rufe über den ungerechten Wahlkampf und das Wahlrecht los.
Wichtig ist zudem, dass der Fidesz flächendeckend im ganzen Land präsent ist. Selbst in kleinen Ortschaften haben die Bürger eine Anlaufstelle, um ihre Sorgen vorzutragen. Das kann, um es etwas zu pointieren, auch der tropfende Wasserhahn sein, während sich die Oppositionsparteien hauptsächlich auf Budapest konzentrieren. Es ist klar: Dort, wo das Wohlstandsniveau schon spürbar angehoben ist, wo Leben herrscht und wo eine Menge junger, weltoffener Menschen leben, ist das Widerspruchspotenzial größer als im Rest des Landes. Das sieht man auch in stark autoritären Staaten wie Russland (Moskau) und dem Iran (Teheran). Aber es ist unverständlich, dass die Oppositionsparteien die Chance nicht genutzt haben, die doch vorhandenen Strukturen der alten kommunistischen Partei im Lande zu übernehmen und umzugestalten. Sie beschränken sich bis heute vorwiegend auf Budapest – und das reicht nicht.
Es ist leicht, sich über die Demokratie in Ungarn zu beschweren. Ich kann aber nicht unbedingt finden, dass es hier nicht demokratisch zuginge. Und es gilt, wie immer: Demokratie hat Mängel. Wie sagte einmal Churchill: „Es ist eine miserable Regierungsform, aber ich kenne keine Bessere.“ Das kann man auch in Ungarn feststellen. Vieles ist noch verbesserungswürdig.
Könnte man also vereinfacht sagen, der Wähler habe derzeit kaum eine ordentliche Wahl unter den Oppositionsparteien? Und wo gibt es einen Verbesserungsbedarf?
Das ist richtig. Der Verbesserungsbedarf richtet sich im Wesentlichen auf die Schaffung einer funktionstüchtigen Opposition. Ich sehe, dass sich die Oppositionsparteien, auch wenn sie ähnliche programmatische Inhalte haben, nicht zu einer gemeinsamen Listen zusammenschließen können oder wollen. Darüber hinaus zerstreiten sich die ohnehin kleinen Parteien zum Teil noch selbst. Ich bin sicher kein Freund der Jobbik, aber auch die scheint sich mittlerweile selbst zerlegen zu wollen. Und man kann es dem Fidesz nun wirklich nicht zur Last legen, dass die Oppositionsparteien keine schlüssigen inhaltlichen Ziele vorlegen, dass sie also – mit anderen Worten – nicht funktionsfähig sind. In ihrer derzeitigen Verfassung können sie keine Wählermehrheit überzeugen.
Unbestritten ist in weiten Teilen des Landes noch viel an Aufbauleistung nötig. Aber trotzdem meine ich, dass es seit 2012 – das zeigen auch die Zahlen – besser geworden ist: Die Löhne steigen, die Wirtschaftsleistung nimmt zu und die Inflation hält sich – noch – in Grenzen. Die Staatsverschuldung ist – gemessen an der in manchen anderen EU-Staaten – moderat. Allerdings sind weiterhin große Anstrengungen erforderlich, damit etwa die Ansprüche an die im Zuge der Bewältigung der Staatsschuldenkrise verstaatlichte private Altersvorsorge künftig auch wirklich gedeckt sind.
Kurz gesagt, man kann erkennen, dass es den Bürgern unter der derzeitigen Regierung durchaus – wenn auch nicht in riesigen Sprüngen – kontinuierlich besser geht.
Zurück zur Europäischen Union: Es gibt einige Bürger, die das Gefühl einer Scheindemokratie haben und nicht glauben, ausschlaggebend mitentscheiden zu können, wenn sie alle paar Jahre ihre Kreuzchen setzen. Glauben Sie, es herrscht eine gewisse Politikverdrossenheit unter den Menschen?
„Meine Stimme zählt ja nicht.“ Das ist in der Tat ein allgemeines Problem der Demokratie. Meine Stimme, ob jetzt in Ungarn oder in Deutschland, ist tatsächlich nur eine unter Millionen von Stimmen, die für sich allein genommen nichts bewirkt. Hinzu kommt, dass ich einen enormen Aufwand treiben müsste, um in wirklich informierter Weise und nach sorgfältiger Abwägung meine Stimme abzugeben. Ich müsste wochenlang Parteiprogramme studieren, die ich überdies oft kaum verstehe, weil sie vor Plattitüden wimmeln. Und wenn darauf nicht der Name der jeweiligen Partei stünde, wüsste ich manchmal nicht zu sagen, welches Programm von welcher Partei stammt. Ich müsste Fernsehsendungen verfolgen, zu Parteiversammlungen gehen, und dann am Wahltag selber muss ich mich auch noch anziehen und mehr oder weniger weit laufen. Die Mühen und Kosten, die ich für eine solche Stimmabgabe aufwenden muss, stehen in keinem Verhältnis zum Wert meiner Stimme. Vernünftiger wäre es, gar nicht wählen zu gehen. Wir sprechen daher auch von rationaler Ignoranz. So gesehen ist es schon erstaunlich, dass in den allermeisten Staaten – so auch in Ungarn – deutlich mehr als 50 Prozent, teilweise gar 70 Prozent und mehr, an den Wahlen teilnehmen.
Ein solch apathisches oder lethargisches Verhalten kann man in weiten Bereichen des täglichen Lebens beobachten, beispielsweise bei offenkundig zu beobachten Missständen oder etwa bei Unfällen. Viele Menschen stehen herum, aber keiner hilft. Weil alle denken, der andere könne das doch besser, vielleicht ist ein Arzt anwesend; oder ich würde mir ja nur die Kleidung beschmutzen, oder ich habe einen wichtigen Termin. Kurz gesagt: Je größer eine Einheit ist, desto geringer ist die Neigung des Einzelnen, etwas zu unternehmen. Ich würde dies als exkulpierende Ignoranz bezeichnen.
Zurück zur Frage nach der Demokratie. Ich beobachte keine Wahl- oder Politikverdrossenheit in Ungarn. Was aber das Gebaren bestimmter Eliten, Stichwort „Korruption“, anlangt, so sehe ich jedoch ein gewisses resignatives Schulterzucken bei den Bürgern nach dem Schema: „Das machen doch alle so.“ Statt sich um die Normierung von Treppenstufen und Glühlampen zu kümmern und unsinnige Grenzwerte festzusetzen oder Demokratieberichte zu erstellen, sollte sich Brüssel lieber Gedanken bezüglich eine effektiven Kontrolle der vergebenen EU-Mittel machen. Die Kontrolle durch „OLAF“ ist eher ein Witz, als dass sie wirklich durchgreift.
Sie sprechen in Ihrem Buch auch das starre Beharren der EU auf Einheitslösungen an. Inwiefern lässt die EU Ihrer Auffassung nach einzelnen Staaten zu wenig Spielraum?
Was mich in der Tat sehr betrübt, ist, dass wirklich liberales Denken zunehmend zurückgedrängt und diffamiert wird. Dass das Wort Neoliberalismus geradezu zum Schimpfwort mutiert ist, ist außerordentlich nachteilig. Das, was der deutsche Neoliberalismus wollte und propagiert hat, zielte darauf ab, die guten Ansätze des klassischen englischen Liberalismus zu bewahren und gleichzeitig Mängel, die nicht vorhergesehen wurden, zu eliminieren. Der deutsche Neoliberalismus hat immer für einen starken Staat plädiert, der sich aber nicht in alle möglichen Belange einmischt, sondern die Rahmenordnung für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik schafft, gewährleistet, überwacht und – wenn nötig – auch anpasst. Das Wissen darum ist leider verloren gegangen. Was wir seit geraumer Zeit beobachten, ist, dass das wirklich liberale Denken nicht mehr verstanden oder gar verfälscht wiedergegeben wird. Stattdessen maßt sich der Staat erneut Allwissenheit an und mischt sich in alle möglichen Lebensbereiche ein. Das tut auf Dauer weder der Zivilgesellschaft noch der Wirtschaft gut.
Glauben Sie, dass Ungarn auf lange Sicht trotz der ständigen Kritik von Seiten der EU Mitglied der Europäischen Union bleiben wird?
Uneingeschränkt: Ja!. Nach meiner Beobachtung hat weder die Regierung noch die breite Bevölkerung irgendein Interesse daran, aus der Europäischen Union auszusteigen. Denn bei vielen Menschen ist der Gedanke lebendig, dass man sich bei aller Vielfalt im Rahmen der EU geborgen fühlen kann, und dass unterschiedliche Positionen, die im früheren Vielvölkerstaat zu erheblichen Spannungen und zum Teil zu blutigen Auseinandersetzungen geführt haben, jetzt kontrovers, aber friedlich diskutiert werden können. All die Kritik, die man äußern kann, ist keine Kritik am Grundsätzlichen, sondern nur an der Ausgestaltung. Dass die Union mit dem gemeinsamen Markt Vorteile mit sich bringt, leuchtet nicht nur der Regierung, sondern fast jedem Bürger ein. Ich glaube sogar, Ungarn wäre eines der letzten Länder, das über einen Ausstieg nachdächte. Ich zweifele auch nicht daran, dass die Europäische Union bestehen bleiben wird. Sicher wird es Wandlungen in den Institutionen geben, vielleicht werden einige Länder stärker darauf pochen, nationale Eigenständigkeiten wieder stärker zu betonen, aber alleine aufgrund der wirtschaftlichen Notwendigkeit, dass wir in einer globalisierten Welt einen europäischen Zusammenhalt brauchen, bin ich der Überzeugung, dass die Idee der EU Bestand haben wird.
„Die gefährdete Demokratie“ von Siegfried F. Franke
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ISBN-Nummer: 978-3-8487-4419-0 (Print)
ISBN-Nummer: 978-3-8452-8636-5 (PDF)
Preis: 44 Euro