Die rüstige 95-jährige Holocaust-Überlebende Éva Fahidi-Pusztai betrachtet es nach Jahrzehnten des Schweigens als ihre Aufgabe, ihre Erinnerungen an den persönlich durchlebten Horror insbesondere mit Jugendlichen zu teilen und damit wachzuhalten. Foto: Ákos Stiller

Vergangenheitsbewältigung

Deutsch-Ungarischer Dialog zum Holocaust

„Hass ist gefährlich. Wir sollten schon kleine Dinge wie Beschimpfungen auf dem Schulhof nicht tolerieren“, so Éva Fahidi auf einer gemeinsamen Veranstaltung des Deutsch-Ungarischen Jugendwerks, der Jüdischen Gemeinde Debrecen, des Deutschen Kulturforums Debrecen und der Stadt Debrecen.

Éva Fahidi weiß, wovon sie spricht. Sie hat Auschwitz überlebt.

Für die erste gemeinsame Begegnung schlägt die 95-jährige Ungarin spontan ein Zoom-Gespräch vor. Dieses erste Treffen mit Éva Fahidi, der Auschwitz-Überlebenden, und mir, der Deutschen, ist nicht ganz einfach – terminlich, nicht inhaltlich. Éva Fahidi ist sehr gefragt und auch wir wollen diese gemeinsame Veranstaltung am 24. August in Debrecen vorbereiten.

Die Kraft der Erinnerung

Was uns verbindet, haben wir schnell gemerkt: Wir setzen auf die Kraft der Erinnerung an die gemeinsame Geschichte und auf den Wunsch, jungen Leuten das Wissen für eine gemeinsame Zukunft in Europa mitzugeben. Nicht nur das Zoom-Format macht schnell klar, Éva Fahidi lebt im Hier und Jetzt.

Ihre Lebensgeschichte, von der Éva Fahidi auch bei der Veranstaltung ausführlich erzählte, ist beeindruckend: Als die deutsche Wehrmacht am 19. März 1944 in Ungarn einmarschierte, war sie 18 Jahre alt. Sie wuchs im ost­ungarischen Debrecen in gutbürgerlichen Verhältnissen auf, war jüdischen Glaubens, besuchte aber eine katholische Schule und wollte Musik studieren. Schon während ihrer Jugend waren 1938, 1939 und 1941 sogenannte Judengesetze mit antijüdischen Reglementierungen in Kraft getreten. Bereits seit 1920 war Juden der Zugang zu Universitäten beschränkt.

Mit der Besetzung kam auch das Sonderkommando um Adolf Eichmann nach Budapest. In den folgenden Wochen wurden das Tragen des Judensterns, die schrittweise Enteignung, Berufsverbote, die Errichtung von Ghettos und schluss­endlich die Deportation von Juden beschlossen und umgesetzt. Ende April 1944 wurde die Familie Fahidi zunächst zum Umzug in das örtliche Ghetto gezwungen und einige Wochen später nach Auschwitz deportiert.

Auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau …

„In der Morgendämmerung des 1. Juli 1944, auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau, war meine Jugend vorbei. Alles wurde mit einer Handbewegung zunichte gemacht, mit der Handbewegung, durch die Mengele mich auf die eine, meine Eltern und meine Schwester auf die andere Seite schickte“, schreibt Éva Fahidi in ihrem Buch „Die Seele der Dinge.“ Ihre Mutter und ihre Schwester wurden unmittelbar nach der Ankunft vergast, ihr Vater starb etwas später. Éva wurde durch den skrupellosen Auschwitz-Arzt Josef Mengele als arbeitsfähig selektiert und auf die Seite der Erniedrigung, Entrechtung und der Ausbeutung geschickt.

Am 13. August 1944 wurde sie von Auschwitz-Birkenau in das Arbeitslager Münchmühle in Stadtallendorf in Hessen zur Zwangsarbeit deportiert. Kurz vor der Besetzung von Hessen durch die amerikanischen Truppen trieben die Nazis die Zwangsarbeiter am 27. März 1945 noch auf einen Todesmarsch, den Éva Fahidi nur überlebte, weil sie sich tagelang ohne Essen in einer Scheune verstecken konnte.

„Im kommunistischen Ungarn war von uns erwartet worden, den eigenen Holocaust zu vergessen oder, wenn wir dazu nicht fähig waren, wenigstens nicht darüber zu sprechen.“ Foto: Ákos Stiller

Nach 19 Monaten Verschleppung, Zwangsarbeit, Todesangst und dem Verlust der Familie kam sie am 4. November 1945 zurück nach Debrecen. Mehr als 40 Jahre sollte es bis zur Auseinandersetzung mit der Geschichte dauern. „Im kommunistischen Ungarn war von uns erwartet worden, den eigenen Holocaust zu vergessen oder, wenn wir dazu nicht fähig waren, wenigstens nicht darüber zu sprechen“, so Éva Fahidi.

Mittäter und stumme Helden

Viele Zeitzeugen berichten von ihrer Nachbarschaft, von den Mitläufern, Mitwissern und Mittätern, aber auch den stummen Helden, die geholfen haben. Bei aller ungarischer Kollaboration, ohne den Rassenhass der Nazis wäre es nicht zur massenhaften Deportation von Juden gekommen.

Die Ähnlichkeit der Auseinandersetzung in Deutschland und Ungarn überrascht mich immer wieder. Über 30 Jahre hat es auch in Deutschland gedauert, bis wir uns auf breiter Ebene mit dem Thema beschäftigt haben. Erst mit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes wurden die richtige Worte gefunden: „Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. (…) Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. (…) Der Völkermord an den Juden ist beispiellos in der Geschichte. (…) Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten.“

Éva Fahidi macht deutlich, dass wir dieses gemeinsame Kapitel der deutsch-ungarischen Beziehungen nicht zu den erledigten Themen in das Bücherregal stellen sollten. Zunehmender Antisemitismus in Deutschland, Nazi-Vergleiche in vielen europäischen Ländern, Demonstrationen gegen Corona-Beschränkungen mit dem gelben Stern, junge Frauen auf Marktplätzen, die sich als Sophie Scholl verstehen, Abgeordnete, die die Regenbogenfahne mit der Hakenkreuzflagge vergleichen: all das beunruhigt uns. Wir haben uns daher verabredet, dass wir weitere Gespräche und Veranstaltungen mit jungen Leuten durchführen, um sie über dieses dunkle Kapitel zu informieren und zu diskutieren.

Bürgermeister László Papp hatte in seiner Begrüßung György Szabó, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung für das ungarische jüdische Leben, mit dem Satz zitiert: „Es ist gut, in Debrecen als Jude zu leben“. An diesem Tag der großen Gastfreundschaft der jüdischen Gemeinde für die deutschen und ungarischen Gäste wird schnell klar, dass Versöhnung auch persönlich gelebt werden muss.

Die Autorin ist Vorsitzende des Deutsch-­Ungarischen Jugendwerks.

Éva Fahidi-Pusztai: Die Seele der Dinge

Herausgegeben im Auftrag des Internationalen Auschwitz-­Komitees, Berlin, und der Gedenk­stätte Deutscher Widerstand, Berlin.

239 Seiten, 40 Abb.
Festeinband mit Schutzumschlag
Lukas-Verlag, 2011
16,90 Euro oder 13 Euro (e-Book)

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