Hans-Dietrich Genscher, János Zolcer und Michail Gorbatschow 2001 im Berliner Hotel Adlon. Foto: Privat / aus dem besprochenen Buch

Rezension: „Gorbi, der Herr der Freiheit“ von János Zolcer

Der Mensch Gorbatschow

Seit kurzem ist das bereits 2020 auf Ungarisch erschienene Buch auch auf Deutsch erhältlich: Autor János Zolcer ist so nah an den Menschen Michail Gorbatschow herangekommen, wie kaum ein anderer.

Der Journalist und Fernsehproduzent beschreibt in seinem Buch in 35 – teilweise persönlich mit der Politiker-Legende erlebten – Geschichten den Menschen Gorbatschow und wirft einen Blick hinter die Kulissen der damaligen Sowjetunion. Zolcer nahm die große Chance wahr, den berühmten Mann für seine Fernsehproduktion und dadurch auch für eine Fülle an Gesprächen zu gewinnen. Gorbatschow, den die meisten bisher nur als unnahbaren, großen Politiker kennen, wird in dem Buch auch als fühlender und zweifelnder Mensch lebendig.

Die Geheimnisse des Herrn der Freiheit

„Gorbi, der Herr der Freiheit“ ist der deutsche Titel des Buchs über „Gorbatschows Geheimnisse“ – so heißt es in der originalen ungarischen Ausgabe („Gorbacsov titkai“) und auf Englisch („Gorbachev’s Secrets“). Das Buch ist vor allem eine Hommage an einen großen Gestalter der Weltpolitik und seine Beziehungen zu internationalen Spitzenpolitikern. Außerdem wird in dem Buch die besondere Beziehung zu den Deutschen beleuchtet, die ihn immer wieder mit großer Begeisterung und nicht zuletzt mit Gorbi-­Gorbi-Rufen empfingen.

Der Autor will aber auch eine klare Botschaft vermitteln: Gorbatschow ist seinen Vorstellungen kompromisslos gefolgt und hat es trotz aller Widrigkeiten geschafft, die Welt zum Guten zu verändern. Er hat vielen Menschen und Ländern die Freiheit gebracht, insbesondere den Deutschen.

Ein von Gorbatschow signiertes Foto. Foto: Privat / aus dem besprochenen Buch

Das Buch birgt aber noch eine weitere Botschaft. Diese betrifft den Autor selbst. Wie Gorbatschow ist Zolcer ein Junge aus einfachen Verhältnissen, aufgewachsen in einem kommunistischen Land. Und wie er hat er es bis in die Spitze der Weltpolitik und ihrer Gestalter geschafft.

Wochenlang begleitete er Gorbatschow. Er schaffte es nicht nur, ihn als Moderator für seine Fernsehserie zu gewinnen, sondern schrittweise auch als regelrechten Freund, der ihm immer mehr vertraut und mit einer immer größeren Offenheit begegnet.

„In der Kürze liegt die Würze“

Die Geschichten des Buches erlauben dem Leser einen Blick in eine zum Teil vergessene, zum Teil schwer vorstellbare Lebensart, die einerseits von unendlichen Privilegien einer Politikerkaste, andererseits von großen Entbehrungen des einfachen Volkes geprägt war. Immer wieder gibt es in dem leicht lesbaren, teilweise sogar regelrecht spannenden Buch QR-Codes, über die Anmerkungen, Definitionen und sogar Videos abrufbar sind.

Das Buch hat eindeutig Schmökerqualitäten, wobei sich die Rezensentin eines Lächelns kaum erwehren kann: „In der Kürze liegt die Würze“, sagt Zolcer in seiner Einleitung. Wie sähe wohl das über 500 Seiten umfassende Buch aus, wenn er es nicht „kurz“ geschrieben hätte?

Der Mitteilungsdrang von Zolcer geht sogar so weit, dass er selbst dem markanten Muttermal auf Gorbatschows Kopf einige Seiten widmet, einschließlich des genauen medizinischen Namens dieses Phänomens. Dabei erfährt der Leser auch, warum es Gorbatschow abgelehnt hatte, sich dieses Muttermal entfernen zu lassen.

Zolcer ist überzeugt: Über seine Begegnungen und Gespräche etwa mit Bush, Perez, Kohl und Genscher, und deren Unterhaltungen untereinander habe er weltbewegende Themen im politischen Schacher der achtziger Jahre objektiv einfangen können und gebe sie nun so objektiv wie möglich wieder.

Zusammen mit Hans-Dietrich Genscher, 2001 auf dem Gelände von Gorbatschows Gästehaus im nordkaukasischen Archiz. Foto: Privat / aus dem besprochenen Buch

Deutlich wird aber auch, dass Zolcer sich der Persönlichkeit und den Darstellungen seiner Hauptfigur weder entziehen kann noch will. Heute stellen sich viele die Frage, inwieweit Gorbatschow damals naiv gehandelt habe. Das Buch macht diesbezüglich jedoch sehr deutlich, wie sehr sich der engagierte Mensch und Politiker inmitten eines schier undurchdringlichen Wustes an ökonomischen und gesellschaftlichen Zwängen befand. Zolcer lässt auch Kritik an den Westmächten durchscheinen, so etwa an ihrer Zurückhaltung während des Putsches von 1991, den Gorbatschow letztlich nicht überstand.

Durch seine umfangreichen Begriffserklärungen ist das Buch auch gut für Leser geeignet, die nicht im Kommunismus aufgewachsen sind, sich aber von dieser Zeit ein Bild machen wollen. Ob nun Gulag, Lenin-Orden oder Politbüro, sämtliche Schlüsselworte dieser Epoche werden vom Autor erklärt. Sicher finden hier selbst Zeitzeugen noch das eine oder andere, dass sie nicht (mehr) so genau wissen. Außerdem hat sich Zolcer die Mühe gemacht, das Buch um Kurzbiografien fast aller erwähnten Persönlichkeiten zu ergänzen.

Fazit

Dem Autor ist es gelungen, ein Werk zu schaffen, das neben all den bereits vorhandenen Gorbatschow-Biografien durchaus eine Existenzberechtigung hat. Jeder, der sich für den großen Sowjetführer und seine Wirkungszeit interessiert, wird in diesem Buch fündig.

Gorbi, der Herr der Freiheit
deutsche Erstausgabe erschienen am 20. Januar 2022.
Aus dem Ungarischen von Erzsébet von Kontz.
553 Seiten, reichlich illustriert und mit zahlreichen QR-Codes zu weiterführenden Informationen versehen. Bei Amazon erhältlich zum Preis von 42,79 Euro

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