Rezension: „Weicher Körper der Nacht“ von Zoltán Böszörményi

Das gefährdete Gleichgewicht der Welt

Der inzwischen auch auf Deutsch vorliegende Roman von Zoltán Böszörményi handelt von einem Flug in die vermeintliche Freiheit. Mit einem Mal ist Hauptheld Tamás jedoch staatenlos.

Von diesem Schicksal, einer Odyssee des zum Staaten- und Heimatlosen Verurteilten, erzählt der Roman des Ungarn Zoltán Böszörményi, womit er in Korrespondenz steht mit der sich über weite Teile des Globus vollziehenden Fluchtmigration.

Auflösen und Zusammensetzen

Neben anderen wird das Schicksal von Tamás verfolgt, einer Figur, der der Autor bereits in anderen Romanen Gestalt verliehen hat. Die Erlebnisstruktur, nicht zuletzt geschult an den großen Werken der Moderne und Postmoderne, gehorcht dem generellen Impuls, wie wir ihn etwa bei Boris Pasternaks „Lüvers Kindheit“ entdecken können. Der Zusammenhang des erfahrenen Lebens – und Böszörményis bisheriger Lebensweg bietet eine Fülle geradezu exotischer Erlebnisse – muss zunächst in seine einzelnen Elemente aufgelöst werden, um schließlich in ästhetisch strukturierter Weise erneut zusammengesetzt zu werden.

Im ersten der vier voluminösen Kapitel wird das enigmatisch anmutende Bild des Buchtitels eingeführt, indem wir Zeno am Fenster stehend entdecken. Davor huschen die Scheinwerfer von Autos vorüber: „Würde ich das Fenster weiter öffnen, könnte ich den weichen Körper der Nacht berühren, seinen dunklen Samt, mein knochig aus dem Fleisch hervorstehendes Leben… Dennoch ist es mir, als stünde ich inmitten eines Sturms.“ Es spiegelt den ambivalenten Eindruck des Sanften und gleichwohl Trügerischen wider, eine Beschreibung, die am Ende, nach allen Verwirrungen und Gefahren, als eine kompositionelle Klammer, ergänzt durch Zenos Bekenntnis – „mein verpfuschtes Leben“ –, wieder erscheint und die Aussage in bedrückendem Maße verstärkt.

Findiger Aufbau der Spannung

Durch den souveränen Umgang mit den Textelementen und den findigen Aufbau der Spannung besticht Böszörményi hier mit seiner kontextualen Komposition. Während über den Tod des Romans philosophiert wird, straft der Autor mit seiner Erzählkunst diese Auffassung Lügen.

Behauptet wurde, der Roman werde durch die literarische Reportage abgelöst, und durch sie allein lasse sich die Wirklichkeit überhaupt erst richtig erfassen und transportieren. Dass dies ein fataler Fehlschluss ist, stellt der Autor mit seiner Erzählkunst unter Beweis. Sein Medium ist jene innere Kraft, die dazu beiträgt, dass sich der Leser mit der ganzen Empfindung seiner Seele in das Romangeschehen hineinversetzen kann.

Von einem nichtfiktionalen, nur Fakten berücksichtigenden Gebilde hingegen gehen lediglich kalte Exaktheit und Nüchternheit aus. Indessen ist die Methodologie der Romangestaltung in unserer Zeit bei weitem nicht abgeschlossen. Jeder Autor versucht, das Unmögliche wahr werden zu lassen, indem er die zur Verfügung stehenden Formen seinem Empfinden entsprechend umsetzt.

Stilfrakturen

Je mehr man in das dichte narrative Geflecht eindringt, desto mehr sind Stilfrakturen zu erkennen. Für die agierenden Personen werden beispielsweise uneingeschränkt Vornamen verwendet, womit eine Lokalisierung, bezogen auf eine Herkunft, kaum noch möglich erscheint. Landesgrenzen werden passiert, geographische Namen tauchen aber nicht auf, keine Bezeichnungen für Kontinente, Staaten, Provinzen, Flüsse oder Berge.

Dann wird deutlich, dass auch die Angabe der Beziehungen innerhalb der sozialen Ordnung unkonkret ist, dass Tamás in einer Diktatur zu Hause war, in der eine Geheimpolizei am Werk ist, und dass einige dies verheimlichen, andere ängstlich darüber berichten. Aber weder das Land noch sein politisches System werden erkennbar. In den gesellschaftlichen Irrungen und Wirrungen hat es der Protagonist nicht leicht, zur richtigen Entscheidung zu gelangen. Schon bei Huxley ist zu erfahren, Liebe und emotionale Leidenschaft gefährden die Stabilität der (Welt-) Regierung.

Gut durchdachter literarischer Kosmos

Als Tamás dann während seiner Flug­reise ein Buch zu lesen beginnt, in dem eine Detektivgeschichte zwischen Bürgermeister Hugo, seiner Frau Nina, Valér, Arthur, den Anwälten, dem Friseur Viktor, dem vielseitigen Mädchen Lydia und dessen Detektiv Fabian verwoben ist, wird deutlich, der Leser befindet sich in einem gut durchdachten literarischen Kosmos mit einer gängigen Richtschnur: Jede Ähnlichkeit mit der realen Welt kann ebenso möglich wie irreführend sein. Nachdem Tamás alle treibenden Kräfte der Geschichte kennengelernt hat, ist er entsetzt über die Probleme und moralischen Fallstricke der „schönen neuen Welt“, die er sich eigentlich wünscht.

Der Bürgermeister Hugo wird Zeuge einer Tragödie. In Nina findet er eine begehrenswerte Frau. Von einem Abenteuer zum nächsten landet er in einer homosexuellen Beziehung und findet Trost in Viktor. Dieser erweist sich jedoch als Durchgangspassage und lässt sich mit der Hälfte der Romanfiguren ein, ebenso wie mit Lydia, Hugos neuer Trösterin. Die Beziehungen, die in Mord und Bluttaten enden, sind Beispiele für die Unwägbarkeit des Lebens. Tamás ist also auf sich allein gestellt und hofft, ein tugendhaftes Leben werde nicht mit Geld, sondern mit solider Familienliebe belohnt.

Dass all dies nicht mit moralisierender Demonstration fixiert wird, ist dem Autor zu verdanken. Jenseits des strukturellen Rahmens und der moralischen Gleichnisse erscheinen die von ihm dargestellten Helden als lebendige Figuren und liebenswerte Charaktere. Walter ist sich bewusst, dass das politische Leben am Rande der Korruption steht, aber sein Denken ist flexibel, und er glaubt, dass er zum Wohle der Gemeinschaft arbeiten kann, da er in seiner journalistischen Laufbahn gelernt hat, falsche Propheten zu entlarven, zu unterscheiden zwischen dem rationalen Profitinvestor, dem Arbeitsplatz- und Wohlstandsschaffenden, dem Kredithai, dem Ritter der Konjunktur, dem Lügner, der die Wählerschaft nur täuscht.

Bestätigte Fakten

Und im Wahlkampf werden diese Fakten von ihren Kollegen, den Wählern, bestätigt. Die Beziehung von Valér zu Melanie und Barbara ist nicht auf charakterliche Mängel zurückzuführen, sondern auf Unterschiede in der Erziehung, die in diesem Alter nicht korrigiert werden können. Walter ist ein sympathischer, freundlicher Mann, dessen positive Eigenschaften sowohl von Tamás und Melanie als auch später von Barbara geliebt werden.

Doch während Melanie Walters übertriebene Männlichkeit überhaupt nicht schätzt, weil sie nicht in den Kanon ihrer religiösen Erziehung „passt“, wird sie von Barbara umso mehr bewundert, die sich durch nichts (nicht durch ihren Mann, nicht durch die Folgen für ihr Leben, nicht durch die Angst vor Enttarnung, nicht durch den Einsatz eines Spitzels) davon abhalten lässt, die Beziehung zu Walter für ihre eigene sexuelle Bedürftigkeit zu pflegen.

Sie liebt sie alle …

Ebenso faszinierend ist die Figur der Wanda, der tragischen Gestalt einer schönen Frau, die, getrieben von ihrer gierigen Sexualität, sich an ihrer Jugend berauscht und lachend alle Grenzen überschreitet. Ihre Liebesschwüre sind immer nur für einen Augenblick gültig. Doch sobald die Situation vorbei ist, sucht sie nach neuen Zielen, um ihre Begierde zu befriedigen.

Ob es sich um einen jungen Müßiggänger, einen Kellner oder ihren Chef, den Fabrikdirektor Zeno, handelt, sie liebt sie alle gleichermaßen intensiv in eng aufeinanderfolgenden Stunden ihres jungen Lebens. Und die Kontinuität dieser Sehnsucht ist so natürlich, so unverstellt, dass sie mit einer Danaide vergleichbar ist, deren Leidenschaft endlos erscheint.

Zenos Tragödie hingegen besteht nicht darin, dass ihm eine solche Frau in die Quere gekommen ist und er diese Beziehung nicht als lockere Affäre behandeln kann, sondern darin, Wanda ganz und gar besitzen zu wollen. Mit diesem bewusst gewählten Namen, Zeno, ist das sinnreiche Spiel des Autors zu erkennen: Der Name verweist auf den Griechen Zeno von Elena mit seinem berühmten Trugschluss um Achilles und die Schildkröte. Damit verkehrt sich der Zeno im Roman, dem modernen Vexierspiel mit antiken Vorbildern Folge leistend, ins Gegenteil des griechischen Philosophen. „Sein Schicksal hatte sich in Luft aufgelöst.“

Die rettende Kraft des Glaubens

Tamás hingegen ist der Einzige, der die rettende Kraft des Glaubens realisiert. Der Glaube an seine Familie treibt ihn dazu, die am schlechtesten bezahlte Arbeit anzunehmen, weil dies die einzige Möglichkeit ist, die begehrte Bescheinigung zu erhalten: einen festen Arbeitsplatz, damit er die für die Familienzusammenführung erforderlichen Papiere beantragen kann.

Jedenfalls laufen drei parallele Wege, die Böszörményi in seinem Buch verfolgt, in einem einzigen Punkt zusammen, und dieser Punkt ist in der unumstößlichen Erkenntnis von Tamás verbunden: Ohne Glauben erweist sich jede Existenz als sinnlos und leer.

Der Weg dorthin beginnt mit einer Konfrontation in der Kindheit des jungen Tamás. Der Vater, augenscheinlich getrennt von seiner Frau, erklärt dem gemeinsamen Jungen: „Deine Mutter ist ein sinkendes Schiff. Ich bin eine Fähre der Sicherheit. Zu wem willst du gehen, mein Junge?“ Tamás´ Halt aber ist und bleibt die eigene Mutter. Sie ist die Liebe, das Wichtigste im Leben, der Dreh- und Angelpunkt für den strebenden, indes immer auch irrenden Jungen.

Zum Eigentlichen vordringen

So geht Tamás seinen Weg, vergleichbar dem irrenden Ritter des Hochmittelalters in der höfischen Literatur, der, wie die Helden in „Weicher Körper der Nacht“, durch „Aventuire“ lernt und zum Eigentlichen vordringen kann. Im Gegensatz zu den anderen Personen ist er es, der, vergleichbar jener christlich determinierten Rittermoral, sich seines Zieles bewusst ist.

Im Roman nimmt er eine dreifache Position ein und ist der suchende Ritter der durch beängstigend potenzierte Technik und Gesellschaftsstrukturen gestalteten Gegenwartswelt – ähnlich James Joyces Figuren in „Ulysses“, deren Irrgang allgegenwärtig ist und sich statt der zwanzig Jahre über nur zwanzig Stunden erstreckt und damit die Ausweglosigkeit im Labyrinth des Immergleichen symbolisiert.

Als Reaktion auf „das gefährdete Gleichgewicht der Welt“ ist „Weicher Körper der Nacht“ in Gestalt und Botschaft ein auch für den deutschsprachigen Leser zu entdeckendes Kleinod und reiht sich ein in die Serie der großen Romane des neuen Jahrhunderts.

Zoltán Böszörményi: „Weicher Körper der Nacht“
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke
Mitteldeutscher Verlag, 2022
448 Seiten, Taschenbuch
25 Euro

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