Rezension Nick Thorpe – „Die weinende Straße vor mir“
Chronik der Balkanroute
Im Juli erschien im Ulmer danube books Verlag die Übersetzung des Werkes des britischen Journalisten, der damit laut eigener Aussage einen sachlichen Beitrag zu der meist emotional geführten Flüchtlings-Diskussion leisten will. Thorpe war intensiv auf der Balkanroute unterwegs, sprach aber auch in der Türkei mit Betroffenen. Sein Werk setzt sich aus offiziellen Informationen – so etwa Zahlen zur EU-Förderung, den Personen auf der Flucht und Asylantragstellern in EU-Staaten sowie politischen Beschlüssen –, meist aber aus Recherchen, persönlichen Beobachtungen sowie Gesprächen mit Flüchtlingen, Einheimischen, Polizisten, Helfern und Schleppern zusammen.
Er ist live bei Grenzübertritten dabei, aber auch bei Gerichtsverhandlungen in Szeged und in Kecskemét, am Budapester Ostbahnhof und auch, als sich 1.200 Flüchtlinge von dort zu Fuß über die Autobahn auf den Weg nach Wien machten. 2014 bis 2018 fuhr er immer wieder in die gleichen Dörfer, wo Menschen sich ausruhten oder inhaftiert waren. „Was als Chronik der Masseneinwanderung begann, wuchs sich schrittweise zu einer Detektivarbeit aus“, merkt Thorpe in der Einführung an.
Der Titel des Buches wurde einem alten Szekler-Lied entlehnt, in dem ein Mann so traurig ist, dass selbst die Straße unter ihm weint. Als er das Mädchen besuchen will, das ihn verlassen hat, öffnet sich im Dorf keine Tür für ihn.
Komplexes Thema
Der gesamte Themenblock „Migration“ ist sehr komplex. Keine politische Seite hat vollständig Recht mit ihren Positionen dazu, gleichzeitig steckt auch in jeder ein Fünkchen Wahrheit; weder die Merkel’sche Willkommenskultur noch Orbáns gegenteilige Politik scheinen die langfristig richtige Lösung für Europas Herausforderungen zu sein. Unter den ankommenden Menschen sind sowohl vor Kriegen und Konflikten Flüchtende, als auch Wirtschaftsmigranten mit dem Wunsch auf ein besseres Leben. Unter ihnen gibt es aber auch Terroristen mit zerstörerischen Absichten. Auch Thorpe versucht, diese Komplexität abzubilden, wobei die Schicksale der vor Waffengewalt und Willkür Geflüchteten überwiegen. Daneben thematisiert er aber auch die Errichtung von Grenzzäunen in Osteuropa, Pegida, AfD und die Kölner Silvesternacht 2015. Ebenso das Brexit-Referendum, die ungarische Nationale Konsultation zur Migrationspolitik sowie den EU-Türkei-Deal.
Schon der Name des Phänomens im Sommer 2015 kann diskutiert werden. Thorpe schreibt: „Im Zeitalter von Migration und Klimawandel, von sich verändernden Arbeitswelten, demographischem Wandel und Bevölkerungsexplosion sowie sinkenden Reisekosten innerhalb Europas ist es unmöglich, eine klare Linie zu ziehen zwischen Migranten, Flüchtlingen und zeitweise Vertriebenen.“ In Syriens Fall gebe es mehr Vertriebene in den Nachbarländern, die wieder in die Heimat zurückwollen (5 Mio.), als Flüchtlinge in Europa (1 Mio.); daher plädiert er dafür, eher von einer Vertriebenen- und Migrationskrise, denn einer Flüchtlingskrise zu sprechen.
Thorpe sieht – zu Recht – auch die Europäer in der Verantwortung: Da Europa den Nachbarländern Syriens zu wenig half, kam es zur sekundären Migration Richtung Europa, rund 3,7 Mio. Menschen baten in den vier Jahren, in denen das Buch entstand, in Europa um Asyl. Der Kontinent zog Mauern hoch, das Dublin-Abkommen funktionierte bis 2014, als immer mehr Menschen kamen und es zu viel für die Ankunftsländer Griechenland sowie Italien wurde. Das System brach zusammen, jedes Land schaute auf sich, verschärfte die Grenzpolitik und improvisierte, statt sich mit den Nachbarn abzusprechen. Die deutsche Entscheidung, das Dublin-Verfahren für Syrer auszusetzen, wirkte laut Thorpe wie der „Sargnagel“ für das ganze Verfahren.
Eine fast widersprüchliche Entwicklung sei zudem, dass die EU gleichzeitig ihre Grenzen bewachte und Milliarden für die Integration von Flüchtlingen investierte. Die EU-Staaten gaben laut Thorpes Recherchen 2014 bis 2018 rund 20 Mrd. Euro für Seenotrettung, Versorgung und Unterbringung an Land, Notunterkünfte und erste Schritte der Integration aus; zeitgleich zahlten etwa zwei Millionen Menschen insgesamt 8-10 Mrd. Euro an Schlepper.
Widersprüchliche Akteure
Die Stärke des Buches sind die im nüchternen Stil beschriebenen, unmittelbaren Beobachtungen des Autors. Als er in einem slowenischen Zeltlager Flüchtlinge Fußball spielen sieht, notiert er: „Für einen Augenblick wirkte die ganze Flüchtlingskrise auf mich wie ein Fußballspiel. Reiches Europa gegen die Armen der Welt: 2:3. Aber wie lange konnte sich so ein Spiel hinziehen? (…) Wer ist der Schiedsrichter? Was bedeutet ein Sieg für die jeweilige Seite?“ Im selben Lager trifft er den Afghanen Elyassin, der mit 15 Jahren schon im Krieg gekämpft und sein Lächeln verloren hatte: „Nun saß er in der Sonne von Slowenien und versuchte sich vorzustellen, wie sich ein Kind fühlen sollte.“
Ein Kollege Thorpes, dem er Aufnahmen aus dem Lager sandte, sah wenig später den Anschlag auf den Pariser Club Bataclan und wird selbst angeschossen, als er Verletzten hilft. Laut ungarischen und belgischen Medien hatte einer der Täter 2015 zwei-drei Mal Komplizen in Ungarn abgeholt, die mit falschen Pässen über die Balkanroute kamen. Ungarns Regierungsmedien brachten sofort Migration mit Terrorismus in Verbindung, was laut Thorpe Ironie ist, da die Täter gerade deshalb unerkannt reisen konnten, weil Ungarn zu dem Zeitpunkt bereits mit dem Registrieren der Flüchtlinge aufgehört hatte.
Auch ein Kontaktmann Thorpes beim bulgarischen Geheimdienst bestätigt, dass dank der fehlenden Koordination der Länder unter den Flüchtlingen auch Terroristen unregistriert nach Europa kommen. Er fügt hinzu, dass aber auch die westlichen Geheimdienste versagt hätten. Sie hätten die Pariser Anschläge durchaus verhindern können. Laut dem Kontaktmann müsse zum Lösen der Flüchtlingskrise deren Wurzel gekappt werden: Saudi-Arabien ist ein Verbündeter des Westens und (!) IS-Unterstützer.
Schlepper und Flüchtlinge arbeiten teils über das Hawala-System zusammen, bei dem Bargeld in Schließfächern deponiert und bei Ankunft am Ziel die Kombination verraten wird. Thorpe hält fest, dass solche Informationen ans Licht kommen, wenn die Polizei international kooperiert. Der britische Journalist behaupt weiterhin, dass einzelne Beamte unter anderem in Bulgarien und Ungarn Schmiergeld von den Schleppern nehmen würden. Laut einem hochrangigen ungarischen Beamten stiegen im Sommer 2015 auch viele Amateure ins Geschäft ein, 150 Euro winkten für den Transport von Röszke nach Budapest, 300 Euro nach Wien. Auch Bulgariens damaliger stellvertretender Innenminister Philip Gunev bestätigte Thorpe, dass es korrupte Polizisten bis in die höchsten Ränge gibt.
Ein bulgarischer Schlepper namens „Vlado“ erzählt, dass er 2015 in drei Monaten 200.000 Euro verdient und täglich 60-80 Flüchtlinge durch Bulgarien gebracht habe. Sie fuhren dabei in Konvois, bei denen der erste Wagen mit nur einem Fahrer angehalten und der Rest, zwei voll besetzte Fahrzeuge und ein Kontrollwagen, durchgewinkt wurde.
Es sind solche Recherchen mit bisher teils unbekannten Details, die das Werk lesenswert machen. Auf der anderen Seite punktet es mit dem Drang des Journalisten Thorpe nach Ausgewogenheit und unterschiedlichen Perspektiven. So sieht und spricht er etwa immer wieder ungarische Polizisten, die den Flüchtlingen eher freundlich begegnen und die Position ihrer Regierung nicht teilen. Ein ungarischer Grenzsoldat verrät ihm, dass es eines der wenigen Vergnügen seines Jobs sei, einen Vogel zu beobachten, der über die Grenze fliegt, die er bewacht. Thorpe erwähnt hier natürlich Orbáns Aussage, laut der es nicht einmal ein Vogel ohne Erlaubnis nach Ungarn schaffen würde.
Die Zukunft der Balkanroute
Pflichtbewusst fragt der Autor jedes Mal nach, warum und warum genau jetzt die Flüchtlinge nach Europa kommen. Meist verweisen diese darauf, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, weil ihnen Armut oder sogar der Tod drohte. Andere sagen, dass ihre Verwandten bereits in Westeuropa seien und sie nun nachziehen. Viele Syrer nennen explizit Assad als Grund – bis 2015 sollen 200.000 Syrer getötet worden und 3,2 Mio. geflohen sein. Thorpe zufolge habe Ungarn wohl seine eigene gescheiterte Revolution und die anschließende Massenflucht vergessen.
Im Nachwort schreibt der Autor, dass der Westbalkan schon immer ein Tor war für Flüchtlinge, Migranten, Händler, Soldaten und Abenteurer Richtung Mittel- und Nordeuropa. Der menschliche Strom war 2014-16 schlicht größer, und es wurde über mehr Details berichtet. „Europa wurde beim Versuch, den Strom zu kontrollieren, immer mehr zur Festung“, so Thorpe. Er urteilt richtig, dass die internationale Diplomatie daran scheiterte, ein weiteres Aufflammen der Kriege im Nahen Osten zu verhindern und eine Lösung für Libyen zu finden. Viele Konflikte – unter anderem in Syrien, im Irak, in Afghanistan und in Jemen – bieten Potenzial für künftige Wanderungsbewegungen. Vielleicht hilft das vorliegende Werk, sich auf diese besser vorzubereiten.
Nick Thorpe
Die weinende Straße vor mir. Entlang der Balkanroute.
danube books, Ulm, Juli 2020
Sachbuch, aus dem Englischen übersetzt von Dr. Carsten Schmidt
352 Seiten, Hardcover
24 Euro, erhältlich u.a. bei Amazon