Bürgerpicknick in Kötcse:
Wirtschaftliche Neutralität angestrebt
In dem kleinen Ort Kötcse findet seit Jahren jeweils im Herbst, vor dem Beginn der Sitzungsperiode des Parlaments, ein sog. „Bürgerliches Picknick“ statt. Dort treffen sich konservative Intellektuelle hinter verschlossenen Türen mit der Führungsspitze von Fidesz und Regierung; im Mittelpunkt des informellen Treffens steht gewöhnlich eine Rede des Ministerpräsidenten. Über diese Rede sickern dann manche Details via regierungsnahe Medien an die Öffentlichkeit durch. An diesem Samstag stellte sich Viktor Orbán jedoch überraschend den Fragen von (linksliberalen) Journalisten, die Kötcse hartnäckig Jahr für Jahr aufsuchen.
Keine bedingungslose Unterwerfung
Ungarn müsse sich der unlängst entstandenen neuen Weltwirtschaftsordnung mit einer neuartigen Wirtschaftspolitik anpassen, erklärte der Ministerpräsident. „Das Herzstück und der Wesenszug dieser Wirtschaftspolitik muss die wirtschaftliche Neutralität sein, weil nur diese unserer Wirtschaft zum Erfolg verhelfen kann.“ Er werde erst zufrieden sein, wenn Ungarns Wirtschaft am schnellsten in der EU wächst. Bereits 2025 seien 3-5% Wachstum möglich. Das werde machbar, weil seine Regierung früh erkannt habe, an Stelle einer bedingungslosen Unterwerfung unter die Strategie der Blockbildung mit allen gewichtigen Akteuren der Weltwirtschaft gleichermaßen gute Beziehungen zu unterhalten.
Orbán verteidigte die Rücknahme des internationalen Flughafens „Ferenc Liszt“ als Mehrung des Nationalvermögens und die Übernahme von Vodafone Magyarország als historischen Schritt, um eine große ITK-Firma mit geballter technologischer Kraft und internationaler Ausstrahlung zu formen.
Auf die Kritiken am Zustand des Gesundheitswesens reagierte der Premier mit dem Hinweis, die Zahl der klimatisierten Krankenhäuser nehme Jahr für Jahr zu. Noch liege ein weiter Weg vor dem Land, die Richtung sei aber eindeutig. Ebenso stiegen die Löhne und es seien 8.000 Ärzte mehr als noch 2010 tätig. Ob es ethisch sei, wenn der Staat Bürogebäude im Wert von mehr als 500 Mrd. Forint von Firmen seines Schwiegersohns kauft, antwortete der Jurist Orbán: „Ethisch ist, wenn wir uns an die Regeln halten, sämtliche Regeln einhalten.“
EU-Gelder warten auf Abruf
Zum stockenden Fluss der EU-Gelder hatte der Ministerpräsident ebenfalls eine frappante Meinung: „Zwölf Milliarden Euro warten darauf, abgerufen zu werden. Unsere Unternehmer müssen die Ausschreibungen umsetzen, damit wir die Beträge der Co-Finanzierung auszahlen und anschließend von der EU mit Belegen zurückverlangen können. Leider geschieht das alles nicht schnell genug.“ Statt auf die eingefrorenen Gelder der Kohäsionsfonds einzugehen, riet Orbán seinen Kritikern zu mehr Zurückhaltung.
Die angebliche Schwäche des Fidesz und des konservativen Lagers kommentierte Orbán mit den 45% Stimmen bei den Europawahlen: „Damit sind wir die mit Abstand stärkste politische Formation in der EU.“ Mit diesem Ergebnis wären die Regierungsparteien bei den Parlamentswahlen 2026 rundheraus zufrieden. Seine Friedensmission sei keineswegs am Ende, schon im September werden weitere Initiativen folgen. Ungarns Außenpolitik lehne Blöcke ab und sei bemüht, sich mit allen gut zu arrangieren, „wie sich das für ein souveränes Land gehört“.
Während der Ministerpräsident den Journalisten Rede und Antwort stand, versuchten einige regierungskritische Demonstranten einen lautstarken Protest. Die Journalisten riefen die Leute zur Ordnung, um ihre Fragen in Ruhe stellen zu können.
Wirtschaftliche Neutralität im Rahmen der weltweiten Globalisierung?
Wen will er denn da für dumm verkaufen?