Coronavirus-Krise
Was kommt nach dem Ausnahmezustand?
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Am 20. Juni, so ließ es die Regierung wissen, soll Ungarns international heftig kritisierte Notstandslage enden – siehe dazu auch unser Interview mit Kanzleramtsminister Gergely Gulyás in der vorigen Ausgabe des BZ Magazins. Ministerpräsident Viktor Orbán und diverse seiner Minister ließen es sich nicht nehmen, diesbezüglich ihre Bereitschaft zu erklären, Entschuldigungen anzunehmen – von jenen Journalisten und Politikern, die Orbán bezichtigt hatten, über den Ausnahmezustand eine „Diktatur“ einzuführen. Es gab ja keine feste Frist für die Beendigung der Sondervollmachten. Daraus strickten die Kritiker die nahende „Diktatur”, als unbegrenztes Regieren per Dekret, ohne Parlament. Manche „Kritiker“ waren sogar so weit gegangen, von einer „Suspension“ des Parlaments zu reden – unter (vielen) anderen auch die weltberühmte CNN-Journalistin Christine Amanpour, in einer Live-Sendung mit Außenminister Péter Szijjártó. Das geriet etwas peinlich, als Szijjártó erwiderte, er komme gerade von der laufenden Parlamentssitzung.
Neue Lage – gleiche Vorwürfe
Statt endloses Regieren per Dekret ist Ungarn nun also eines der ersten Länder in Europa, das seinen Ausnahmezustand beendet. Statt Entschuldigungen der Kritiker gibt es aber eine Fortführung der Vorwürfe. Die Notstandslage werde zwar aufgehoben, rügen die Kritiker, aber durch etwas viel Schlimmeres ersetzt: Einen potentiell permanenten Gesundheits-Notstand, für dessen Ausrufung es nicht einmal mehr des Parlaments bedarf, und der jeweils für (verlängerbare) sechs Monate gelten soll.
Worum geht es wirklich? Aufgrund der bisherigen Erfahrungen hat die Regierung erkannt, dass ihr rechtliches Instrumentarium in solchen Situationen nicht optimal war. Die „Gefahrenlage” war konzipiert für Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Industrieunfälle. Deswegen war die Gültigkeit der Maßnahmen, die in diesem Rahmen per Dekret getroffen werden konnten, auch nur auf 15 Tage begrenzt. Das reicht normalerweise, um etwa mit einem Hochwasser fertig zu werden.
Das war die Art von „Gefahr“, mit der Ungarn historisch immer wieder einmal konfrontiert wurde. Aber eine tödliche Epidemie von globalem Ausmaß, so etwas hatte der Gesetzgeber nicht vorgesehen und dementsprechend auch kein Instrumentarium geschaffen, um eine solche Situation bewältigen zu können. Das will man nun ändern.
Beendigung der Gefahrenlage
Am 26. Mai wurde zum einen ein Gesetzentwurf mit Übergangsregeln für die Zeit nach dem Ausnahmezustand ins Parlament eingebracht (Drucksache T/10747), und zum anderen ein Entschlussantrag für die Beendigung der seit dem 11. März geltenden Notstandslage. Mit dessen Annahme würde das Parlament die Regierung verbindlich auffordern, die „Gefahrenlage“ für beendet zu erklären. Die müsste das dann auch tun. Damit wären alle Maßnahmen, die im Rahmen der „Gefahrenlage“ per Dekret getroffen wurden, außer Kraft gesetzt.
Einige Maßnahmen müssen aber für eine Übergangszeit bleiben, einerseits um weiterhin die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise zu mildern, etwa Steuererleichterungen, Kurzarbeitergeld (das soll bis Ende August verlängert werden) und die Stundung von Krediten (bis Ende des Jahres).
Andererseits bleibt das Coronavirus weiterhin gefährlich, und das Gesundheitssystem muss für eine denkbare zweite Welle gewappnet sein. Insofern wird das Parlament im Rahmen der normalen Gesetzgebung die Fortführung bestimmter Maßnahmen beschließen, etwa die Verlängerung der Gültigkeit ablaufender Personalausweise – um zu verhindern, dass nach dem Ende des Ausnahmezustands Tausende Bürger auf einmal zu den Einwohnermeldeämtern strömen.
Voluminöser Gesetzentwurf
Abgesehen von den konkreten Maßnahmen werden in dem mehrere Hundert Artikel umfassenden Gesetzentwurf – eingebracht vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Zsolt Semjén unter der Aktennummer T/10748 – die Notstandsregeln selbst für die Zukunft geändert. So soll das Katastrophenschutzgesetz (die rechtliche Grundlage für den jetzigen Ausnahmezustand) um einen Absatz erweitert werden, in dem eine „Human-Epidemie“ als Gegenstand von Notstandsmaßnahmen eingeführt wird. Das war bisher nicht der Fall.
Zugleich wird durch eine Novelle des Gesundheitsgesetzes von 1997 eine neue Kategorie von Ausnahmezustand eingeführt, und zwar mit §§ 303-307 des Gesetzentwurfs T/10748. Demnach kann die Regierung auf Empfehlung des „Landesamtsarztes“ (ung.: országos tiszti főorvos) eine Gesundheits-Krisensituation ausrufen. Diese soll auf sechs Monate beschränkt sein, kann aber verlängert werden. Parlamentarische Kontrolle gibt es bei all dem nur insofern, dass die Regierung den Gesundheitsausschuss des Parlaments laufend informieren muss.
Die Opposition kritisiert dies nun als eine potentielle Verewigung des Ausnahmezustands, nur diesmal ganz ohne parlamentarische Kontrolle. Schon steht der Diktatur-Vorwurf erneut im Raum. Allerdings ist das Vorbild für diese Regelung Deutschland.
Vorbild Deutschland
Dort gibt das neue „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 27. März 2020 der Regierung sogar noch viel mehr Macht. Genauer gesagt dem Gesundheitsminister, der quasi allein auf dem Verordnungswege alles tun und verbieten kann, was seiner Überzeugung nach zur Bekämpfung der Epidemie nötig ist. Die Rolle des ungarischen „Landeshygieneoberarztes“ erfüllt in Deutschland das Robert-Koch-Institut. Auf seine Empfehlung hin kann der Gesundheitsminister eine Epidemie erklären und auf dem Verordnungswege alle nötigen Maßnahmen verhängen.
Der ungarische Gesetzentwurf umschreibt klar, dass die Regierung ihre Vollmachten nur verhältnismäßig und nur zur Bekämpfung der jeweiligen Gesundheitskrise nutzen darf, und auch nur, solange diese Krise andauert. Allerdings kann man sich leicht vorstellen, dass die Covid-19-Epidemie noch lange ein Problem darstellen wird. Für AIDS beispielsweise wurde bis jetzt noch kein Impfstoff gefunden – vielleicht wird es auch gegen das Coronavirus nie einen geben.
Eines kann die Regierung in einer Gesundheitskrise nicht: „Sie kann keine Grundrechte einschränken, ebenso kann sie keine Ausgehverbote oder -beschränkungen verhängen“, sagte Kanzleramtsminister Gergely Gulyás auf Nachfrage der Budapester Zeitung. Ihm zufolge unterscheidet sich die „Gesundheits-Krisensituation“ im Verhältnis zur bisherigen „Gefahrenlage“ wie ein Mückenstich von einem Hundebiss”.