„Allein schon die Rechtssicherheit verbietet es, einen so nebulösen Begriff wie „Rechtsstaatlichkeit“ als Auflage einzuführen.“ (Foto: BZT/ Nóra Halász)

Interview mit Justizministerin Dr. Judit Varga

„Rechtsstaatlichkeit – Da verlassen wir uns auf das Wort der Kanzlerin“

Unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft kann das Artikel 7-Verfahren gegen Ungarn leicht beendet werden, sagt Ungarns Justizministerin im BZ-Interview – und erklärt, auf welche Weise.
28. August 2020 12:00

Frau Ministerin, auf dem jüngsten EU-Gipfel wurde etwas vereinbart, aber was? Ihre Regierung behauptet, es werde keine Rechtsstaatlichkeitsauflagen geben bei den Coronavirus-Hilfen, andere sagen das genaue Gegenteil. Wer vernebelt da etwas?

Man muss den Text – Punkt 22 und 23 der Schlussfolgerungen – genau lesen. Da steht, dass die Mitgliedsländer großen Wert auf den Schutz der finanziellen Interessen der EU legen. Das ist ein Satz. Die Mitgliedstaaten betrachten die Rechtsstaatlichkeit als einen Grundwert. Das ist der zweite Satz. Dann kommt ein anderer. Darin steht, dass eine Konditionalität eingeführt wird, um das EU-Budget zu schützen. Es sind dies aber drei verschiedene Sätze, in zwei verschiedenen Punkten. Die Konditionalität dient nicht der Durchsetzung des Rechtsstaatlichkeit-Kriteriums, sondern wird rein finanzieller Natur sein.

Wirklich? Punkt 22 betont „insbesondere“ den Artikel 2 des Europavertrages, in dem es um demokratische Grundwerte geht. Dann steht da: „Der Europäische Rat unterstreicht die Bedeutung des Schutzes der finanziellen Interessen der Union.” Und: „Der Europäische Rat unterstreicht die Bedeutung des Respekts der Rechtsstaatlichkeit.“ Nun Punkt 23: „Vor diesem Hintergrund wird eine Konditionalitätsregelung eingeführt, um das Budget und den Next Generation Fund“ – also die Coronavirus-Hilfen – „zu schützen.“ – Die Wendung „vor diesem Hintergrund“ stellt doch eine Verbindung her zwischen „Rechtsstaatlichkeit“ und der „Konditionalität“?

Der Ausdruck „vor diesem Hintergrund“ in Punkt 23 könnte nur dann so interpretiert werden, wenn diese Verbindung in Punkt 22 hergestellt worden wäre. Diejenigen, die dies glauben, versuchen, am falschen Ende in eine juristische Einbahnstraße zu gelangen. Wir interpretieren Punkt 22 so, dass jegliche neue haushaltsbezogene Konditionalität den in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union verankerten Werten und den sich daraus ergebenden Rechtsgrundsätzen entsprechen muss. In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof der Europäischen Union Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit, Nichtrückwirkung und Nichtdiskriminierung als solche Grundsätze identifiziert.

Also nicht der Grundwert „Rechtsstaatlichkeit” als Begriff, sondern nur dessen juristische Ableitungen sollen berücksichtigt werden?

Allein schon die Rechtssicherheit verbietet es, einen so nebulösen Begriff wie „Rechtsstaatlichkeit“ als Auflage einzuführen. Es ist keine klare, greifbare Norm, die man im Alltag anwenden kann, weil man deren Verletzung, die sanktioniert werden könnte, nicht klar definieren kann. Man braucht für ein funktionsfähiges System klare Normen und Definitionen. Der 2018 vorgelegte Vorschlag der Kommission wurde dieser Anforderung nicht gerecht. Auf dem Gipfel haben die Regierungschefs beschlossen, dass man für das Problem eine Lösung im Einklang mit den EU-Werten finden muss. Natürlich braucht man fiskalische Kontrollen und Garantien. Da müssen wir im Detail besprechen, wie das aussehen soll.

„So, wie die Rechtsstaatlichkeitsdebatte derzeit geführt wird, erinnert sie sehr stark an die Zeit vor dem Regimewechsel.“ (Foto: BZT/ Nóra Halász)

Ratspräsident Charles Michel, der die Verhandlungen leitete, spricht dagegen von der Einführung eines Mechanismus zum „Schutz der Rechtsstaatlichkeit“.

Die Regierungschefs werden im Herbst wieder zusammentreffen, um die Details auszuarbeiten, klare Normen zu definieren und festzulegen, wie deren Verletzung sanktioniert werden soll. Dazu wird ein einstimmiger Beschluss der Regierungschefs erforderlich sein. Sicher wird da auch von der Bedeutung der Grundwerte nach Artikel 2 die Rede sein, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit, womit alle Mitgliedstaaten einverstanden sind. Mit den am 21. Juli angenommenen Schlussfolgerungen wurde jedoch endgültig entschieden, dass auf diesen schwer definierbaren Begriffen kein Sanktionssystem aufgebaut werden kann. Da wird es ein ganz anderes, objektives Kriteriensystem geben, um finanziellen Missbrauch zu verhindern. Um das zu gestalten, arbeiten wir im Hintergrund eng mit unseren deutschen Freunden zusammen, denn wir wollen ja auch, dass es gelingt, und dass die deutsche Ratspräsidentschaft ein Erfolg wird.

Der Think Tank „European Stability Initiative“ (ESI), der auch einst die Grundidee für den Flüchtlingsdeal mit der Türkei formulierte, schlägt vor, in Sachen Rechtsstaatlichkeit den Europäischen Gerichtshof zur obersten Instanz zu machen. Wenn der EuGH ein Urteil fällt unter Bezug auf Art. 19 des Europavertrages, der von Rechtsstaatlichkeit handelt, und dieses Urteil nicht umgesetzt wird, dann soll der Geldhahn abgedreht werden. All das zusätzlich zum bisherigen Kommissionsvorschlag, „allgemeine Mängel“ bei der Rechtsstaatlichkeit zu ahnden.

Es ist schon immer unser Standpunkt gewesen, dass auch Artikel 7-Verfahren nur dann gerechtfertigt sind, wenn der betreffende Staat EuGH-Urteile miss­achtet. Ungarn hat noch nie ein Urteil des EuGH missachtet. Unsere Grundhaltung ist: Konkrete Vorwürfe müssen an konkrete Rechtsvorschriften gebunden sein. Übrigens gibt es bereits ein sehr ausgefeiltes Auflagen- und Kon­trollsystem der EU zur Verwendung der Kohäsionsgelder, auch da ist schon jetzt ein Entzug der Mittel möglich. Nach den Jahresberichten der Kommission ist dieses System wirksam. Sollte dies jedoch aus irgendeinem Grund nicht mehr ausreichen, dann kann man dieses System natürlich weiterentwickeln. Die Lösung kann aber nicht die Einführung solcher schwammigen Begriffe sein wie „allgemeine Mängel“ bei der Einhaltung der Grundwerte. Das erinnert mich an den Kommunismus.

Jetzt kommt wieder die Phrase, die EU sei so wie die Sowjetunion?

Auch damals wurden Leute bestraft, nicht weil sie gegen ein konkretes Gesetz verstoßen hatten, sondern weil sie „ideologisch nicht ausreichend bewusst“ waren. Eines der größten Ergebnisse unseres Regimewechsels ist, dass man heute in Ungarn nur bei Gesetzesverstößen verurteilt werden kann. So, wie die Rechtsstaatlichkeitsdebatte derzeit geführt wird, erinnert sie sehr stark an die Zeit vor dem Regimewechsel.

Immerhin soll es ja einen konkreten Mechanismus geben. Ratspräsident Charles Michel erwähnte, dass dafür als Verhandlungsgrundlage ein Vorschlag aus dem Jahr 2018 dienen soll, der eine „umgekehrte Mehrheit“ vorsieht – Ungarn bräuchte in dem Fall eine qualifizierte Mehrheit, um Sanktionen zu verhindern –, anstatt dass eine Mehrheit erforderlich wäre, um Sanktionen zu beschließen. Das wäre für Ungarn denkbar ungünstig, oder?

Entscheidend wird, was am Ende im Europäischen Rat entschieden wird. Einstimmig. Aber in den Schlussfolgerungen des Gipfels ist sowieso keine Rede mehr von einer „umgekehrten Mehrheit” im Rat. Das bedeutet, dass die Regierungschefs sich bereits gegen eine solche Regel entschieden haben.

„Die politische Legitimität des Europäischen Parlaments wird niemals die gleiche sein, wie die der Regierungen der Mitgliedstaaten.“ (Foto: IM)

Scheitert am Ende das ganze Paket im Herbst daran, dass man sich letztendlich im Detail doch nicht einigen kann?

Es scheitert vielleicht bereits am Europäischen Parlament. Es war ja schon in der Covid-19-Krise Teil des Pro­blems, nicht Teil der Lösung. Statt mit der Epidemie beschäftigten sich die Abgeordneten damit, einzelne Länder wegen deren Schutzmaßnahmen zu attackieren, vor allem natürlich uns. Da war sogar im EU-Parlament die Fake News zu hören, unser Parlament sei suspendiert. Wir haben wenig Grund zu der Annahme, dass das Parlament jetzt seiner Verantwortung gerecht wird und den historischen Deal akzeptiert, auf den sich die Regierungschefs geeinigt haben.

Sie kritisieren da das Parlament, das die Bürger Europas repräsentiert. Hätten Sie lieber eine EU ohne demokratische Europawahlen?

Die politische Legitimität des Europäischen Parlaments wird niemals die gleiche sein, wie die der Regierungen der Mitgliedstaaten. Das Grundpro­blem ist ja, dass Europawahlen meist ein Tummelplatz für Protestwähler sind und oft Protestparteien ins Parlament gelangen, die daheim keine Regierungsverantwortung tragen müssen. Die Regierungschefs sind jene, die jeden Beschluss vor den eigenen Wählern daheim verantworten müssen, deswegen ist der Rat der Regierungschefs das beste Forum für verantwortungsbewusste Entscheidungen. Andererseits könnte das Europäische Parlament den Regierungen der Mitgliedstaaten ähnlich sein, die versuchen, zur Lösung von Problemen beizutragen, anstatt sie zu generieren. Leider habe ich bisher wenig Anzeichen dafür gesehen.

Die dominanten Parteienfamilien, Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale tragen vielerorts sehr wohl Regierungsverantwortung. Aber kommen wir zum Artikel 7-Verfahren gegen Ungarn. Ihre Regierung hat behauptet, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe auf dem Brüsseler Gipfel versprochen, das Verfahren noch vor Ende des Jahres, also während der deutschen Rats­präsidentschaft, zu beenden. Von deutscher Seite ist zu hören, dass es kein solches Versprechen gab. Was stimmt?

Kanzlerin Merkel hat versprochen, alles zu tun, um darauf hinzuwirken. Ihr Wort genügt uns. Aber sie kann das Verfahren natürlich nicht selbst beenden.

Wie soll das technisch gehen?

Man braucht im Rat eine Vier-Fünftel-Mehrheit, um festzustellen, dass eindeutig die Gefahr schwerwiegender Verstöße gegen die Grundwerte in einem Mitgliedsland besteht. Wenn eine solche Mehrheit nicht zustande kommt, dann ist das Verfahren meiner Auffassung nach abgeschlossen.

Und wenn gar nicht abgestimmt wird, weil sich die Mitglieder nicht darauf einigen können oder die jeweilige Ratspräsidentschaft keine Abstimmung ansetzt?

Dann kann das Verfahren bis zum Ende der Zeiten dauern. Es wäre aber gut, möglichst bald abzustimmen und diese miserable Sache zum Abschluss zu bringen. Umso mehr, als das Europäische Parlament, die Kommission und viele Mitgliedstaaten, wenn ich das richtig verstehe, dasselbe wollen wie wir: das Verfahren beschleunigen.

Eine etwaige deutsche Hilfestellung könnte also einfach darin bestehen, als Ratspräsident eine Abstimmung anzusetzen?

Ja.

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