Ministerpräsident Viktor Orbán – hier auf der letzten Pressekonferenz des alten Jahres – präsentierte zum Jahreswechsel eine neue Strategie, wonach Ungarn noch stärker als bisher von Netzwerken profitieren will. Foto: MTI/ Szilárd Koszticsák

Neue Strategie für das nächste Jahrzehnt

Orbán: „Wir kombinieren die Vorzüge von Erfolgsmodellen“

Mit dem Abschied vom abgelaufenen Jahr ist ein vorsichtiges Aufatmen erlaubt: Die Risiken sind die gleichen, aber wenigstens kennen wir sie schon. Ein Spazierritt wird 2023 für Ungarn ganz sicher nicht.

In den Jahren 2020 und 2022 sorgten Coronavirus und Ukraine-Krieg für Schockstarren. Leider begleiten beide Katastrophen die Menschheit und speziell uns Europäer auch im neuen Jahr. Wie es bereits der Name verrät, stellt die Corona-Pandemie eine globale Herausforderung dar. Der Ukraine-Krieg ist derweil nur den Europäern „am nächsten“; weltweit gibt es freilich jede Menge sonstige kriegerische Konflikte.

Weil sich die Europäische Union infolge der russischen Aggression unmissverständlich gegen ihren bisherigen Haus- und Hoflieferanten für Rohstoffe gestellt hat, muss Ungarn seine Strategie der Ostöffnung überdenken. Das trifft erst recht zu, wenn jene neue Strömung in der sogenannten freien Welt Oberhand gewinnen sollte, die nach Jahrzehnten ungehemmter Globalisierung und friedlicher Koexistenz auf eine weitgehende Isolierung der „bösen Mächte“ setzt. Im Klartext würden diese Kräfte neben Russland auch China lieber heute als morgen an die Kandare nehmen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán sieht das mal wieder ziemlich anders.

Status einer regionalen Mittelmacht

Zur Weihnachtszeit hielt der Ministerpräsident auf Einladung der Kálmán-Széll-Stiftung einen Vortrag im geschlossenen Rahmen. Sein politischer Direktor sorgte dafür, dass Kerngedanken daraus öffentlich wurden. Balázs Orbán fasste die Strategie des Ministerpräsidenten für das kommende Jahrzehnt Anfang Januar in einem Artikel für das konservative Wochenmagazin Mandiner zusammen.

Als strategische Herausforderung formulierte der Regierungschef demnach, Ungarn müsse der sogenannten Falle des mittleren Einkommens entgehen und zu den hochmodernen westlichen Staaten aufschließen. Diese These ist nicht neu, ungefähr seit Mitte der dynamischen Wachstumsphase der 2010er Jahre diskutierten Ökonomen hierzulande diese für jede aufstrebende Volkswirtschaft reale Gefahr. Im geopolitischen Sinne strebt Viktor Orbán zudem innerhalb Mitteleuropas den Status einer regionalen Mittelmacht für Ungarn an. Auch dieser Ansatz lässt sich in früheren Grundsatzreden entdecken, als der Ministerpräsident beispielsweise die Zukunft des Karpatenbeckens mit all seinen Völkern einschließlich der Ma­gyaren umriss.

Ungarn als regionale Mittelmacht? – Viktor Orbán (l.) im Kreis der Ministerpräsidenten der Visegrád-­Staaten, des Tschechen Petr Fiala (M.l.), des Slowaken Eduard Heger (M.r.) und des Polen Mateusz Morawiecki (r.). Foto: MTI/ Zoltán Fischer

Komplette Weltordnung im Umbruch

Eine Rückkehr zur Ära des Kalten Krieges mit seinem Blockdenken wäre verheerend für Ungarn. Das Land brauche ein alternatives Globalisierungsmodell. Orbán meint, das neoliberale Modell der Globalisierung sei gescheitert, was sich eindrucksvoll im Ausmaß der Weltwirtschaftskrise von 2008 zeigte. Nach seiner Einschätzung fehlte damals ein starker Staat, der die drastischen Folgen des Kollapses hätte mindern können. Zudem hätten die ohne Industrie gebliebenen Mächte des Westens stärker unter der Krise gelitten, als Asien und insbesondere China. Die Konservativen in Ungarn zogen bereits zu jener Zeit den Schluss, die gesamte Weltordnung befinde sich im Umbruch.

Im darauffolgenden Jahrzehnt zeigten Migrationskrise, Brexit und der Wahlsieg von Donald Trump in den USA, dass die neoliberale Weltordnung fortwährend an Legitimation verliert. Nach der Corona-Pandemie sei der Ukraine-Krieg der letzte Beleg dafür, dass die Herausforderer des Westens erstarkt sind. Die Antwort des weiterhin von den USA geführten Westens laute Orbán zufolge „Entkopplung“ (Decoupling). Als versuchte man die gleiche Blockbildung wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Die EU und insbesondere Ungarn an der Peripherie des westlichen Blocks hätten in diesem hierarchischen System nicht viel zu bestellen. Für den Ungarn werden da Erinnerungen gleich Alpträumen an die Zeiten unter Osmanen, Habsburgern und Sowjets wach.

In Netzwerken denken

Was aber wäre der Ausweg für das kleine Land im Herzen Europas? Der Ministerpräsident sieht diesen im englischen Begriff „Connectivity“, also eine Art Funktionieren in Netzwerken. Dazu müssten die Handelsbeziehungen zwischen West und Ost unbedingt aufrechterhalten werden, denen Krieg und Sanktionen enormen Schaden zufügen. Für Ungarn ergibt sich der einzige Fluchtweg über den Balkan Richtung Türkei bis hin nach Usbekistan, meint der Ministerpräsident mit dem Hinweis einer steigenden strategischen Bedeutung dieser Staaten. Von „seinem“ Wirtschaftsmodell verspricht er sich eine erhöhte Widerstandsfähigkeit des Landes, höhere Amortisationsraten von Investitionen und allgemein eine höhere Produktivität.

Auch wenn ihm die Beispiele Südkoreas, Finnlands und Irlands vorschweben, die eine erfolgreiche Modernisierung bewerkstelligen konnten, seien diese Länder bestenfalls inspirierend, ohne zu dem Versuch zu verleiten, ein Erfolgsmodell eins zu eins zu kopieren. Ungarns Wirtschaftsstruktur erlaube vielmehr, die Vorzüge der durch die drei genannten Länder verfolgten Modelle zu kombinieren. Dazu gehören ein intensives Engagement des Staates, ein investitions- und unternehmerfreundliches Steuerumfeld, der spürbare Anstieg der Reallöhne und die maßgebliche Rolle von Wirtschaftszweigen mit hoher Wertschöpfung. Schließlich sollen die einheimischen Großunternehmen wie MOL, OTP oder 4iG zu regionalen Champions avancieren.

Nachdem Ungarn hinsichtlich des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf zuletzt 76 Prozent des EU-Durchschnitts erreichte, sieht der Ministerpräsident den historischen Augenblick für gekommen, das Land mit Hilfe des Netzwerkmodells auf eine neue Wachstumsbahn zu stellen. Neben weiteren Rekorden beim Zustrom von Auslandskapital will Orbán die Zusammenarbeit in der Region als wichtigstes Element des Modells stärken, wofür dem Karpatenbecken seine wirtschaftliche und geographische Einheit entgegenkomme.

Bleibt der Peripherie nur der Niedergang?

Kaum hatte der politische Direktor die neue Strategie des Ministerpräsidenten an die Öffentlichkeit gebracht, meldeten sich Kritiker zu Wort. Der bekannte Investment-Experte Viktor Zsiday brachte in Erinnerung, dass die Kálmán-Széll-Stiftung ein auserlesener Kreis einfluss­reicher Geschäftsleute ist. Was Viktor Orbán in diesem Kreis von sich gibt, sollten alle beachten, die sich mit Wirtschaftsfragen beschäftigen.

Zunächst gab Zsiday dem Ministerpräsidenten bezüglich der Einschätzung Recht, was die Krise des neoliberalen Modells betrifft. Ebenso sei es ein Fakt, dass die Position des Westens (der demokratischen Rechtsstaaten) innerhalb der Weltwirtschaft fortlaufend schwächer wird. Die naive Vorstellung (s. Fukuyama), den Rest der Welt mit Freihandel und einem expandierenden Kapitalismus zu demokratisieren, ist längst widerlegt: Vor allem die Chinesen, aber auch die Russen machten sich Freihandel und Kapitalströme asymmetrisch zunutze. Damit profitierten sie einseitig von dem System, worauf der Westen (restriktiv) reagieren musste. Die neuerlich forcierte Blockbildung ist ebenfalls ein Faktum, die Orbán-Logik vom Niedergang der Peripherie-Staaten aber wenig nachzuvollziehen.

Ein kapitaler Denkfehler

Sollten nämlich diese „untergeordneten“ Länder in der Einkommensfalle gefangen bleiben, lautete die Konklusion, sich vom europäischen Bündnis abzusetzen. Zsiday sieht den Huxit als Ex­tremszenario, eher wäre eine Umgestaltung der EU in eine weitaus lockerere Freihandels-Gemeinschaft denkbar. Dass Orbán aber die Wachstumserfolge der letzten zwölf Jahre eben der Brückenrolle Ungarns zuschreibt, hält der Wirtschaftsexperte für einen kapitalen Denkfehler. Die seit 2010 erlebte Konvergenz zum EU-Durchschnitt trifft für nahezu sämtliche Länder Mittelosteuropas zu, die sich auf gut qualifizierte, dabei unterbezahlte Arbeitskräfte stützen konnten, um Investoren zuhauf anzulocken. Für Wachstum und Konvergenz sorgten vor allem die Multis, indem sie sich die Lohnkosten-Arbitrage zunutze machten.

Nicht die Ostöffnung Ungarns, sondern die europäische Integration und die direkten Beihilfen der Gemeinschaft stehen Zsiday zufolge hinter der erfolgreichen Konvergenz. Obendrein ist nicht Ungarn der Wachstums-Champion der Region: Ungeachtet einer einmaligen politischen Stabilität mit vier Orbán-Regierungen am Stück konnte Ungarn seit 2010 einzig die Slowakei abhängen, die sich quasi zurückentwickelte. Prozentual kam Ungarn jenen Tschechen und Slowenen ein wenig näher, die als Spitzenreiter der Region aber selbst heute noch die besten Chancen haben, der wirtschaftlichen „Mittelmäßigkeit“ zu entgehen. Gleichzeitig wurde Ungarn von den Balten abgehängt und bewegt sich heute auf Augenhöhe mit Polen und Rumänien.

Nachdem das Land die Vorteile der EU-Mitgliedschaft weitaus weniger ausnutzen konnte, als die meisten anderen Länder der Region, erscheint die Vision des Ministerpräsidenten von einem gelockerten Bündnis verhängnisvoll. Ein Ausstieg aus der EU käme einem wirtschaftlichen Harakiri gleich. Denn für den Osten ist Ungarn – wie Zsiday die Ansicht zahlreicher Wirtschaftsexperten zusammenfasst – nur solange von Interesse, wie es als Brückenkopf zur EU dienen kann.

Nicht Multis das Maß aller Dinge

Im Oppositionslager formulierte der Co-Vorsitzende der grün-alternativen LMP, Péter Ungár, gescheite Reflektionen zur neuen Orbán-Strategie. Für den Grünen gehört die Vision von der regionalen Mittelmacht in die Reihe hochtrabender Gedanken ungarischer Politiker, zumal sich der Artikel mit globalen Themen zuhauf beschäftige, nicht aber mit der Region. Die größten Widersprüche würden sich jedoch im Verhältnis zum Neoliberalismus ergeben, wo als Antwort auf die kriselnde Globalisierung eben nicht die Multis das Maß aller Dinge sein sollten, sondern jene Sektoren, die aus einheimischen Ressourcen den Eigenbedarf des Landes zufriedenstellen.

Die neue Weltordnung an den Waffenlieferungen für die Ukraine festzumachen, empfindet der Oppositionspolitiker als geradezu absurd. Der Niedergang des Westens werde seit allmählich 250 Jahren prophezeit; wenn damit gemeint sei, dass die Niederlande kein maßgeblicher Faktor der Weltwirtschaft sein werden, sei das in Ordnung. Das Lebensniveau der Bürger der einstigen Kolonialmacht wird aber nicht deshalb sinken, weil die Wirtschaftskraft der ehemaligen Kolonien zunimmt.

Einen weiteren Widerspruch in der Strategie macht Ungár an der Stelle aus, dass ausgerechnet die Orbán-Regierung zu den Verfechtern des TTIP, des Freihandelsabkommens zwischen EU und USA, gehörte. Wirtschaftliche Bündnisse gingen in der Geschichte häufig mit militärischen Bündnissen einher, wer außen vor bleibt, büßt seine Souveränität sehr schnell auf dem Altar spontaner geopolitischer Übereinkünfte ein. Sich vom Westen abwenden zu wollen, gleichzeitig aber das Vorbild Finnlands, Irlands und Südkoreas zu bemühen, sieht der Oppositionspolitiker als größten Widerspruch in den Darlegungen des Ministerpräsidenten an.

Ein Gedanke zu “Orbán: „Wir kombinieren die Vorzüge von Erfolgsmodellen“

  1. Die Beispiele Südkoreas, Finnlands und Irlands?

    Die USA sind Südkoreas Schutzmacht.
    EU-Mitglied Finnland will in die Nato.
    Irland blühte in der EU auf.

    Orban und seine Vernetzung mit undemokratischen Staaten führt letztlich zu Krisen, wie der aktuellen. Die Vernetzung mit Russland erfordert nun eine rasche und schmerzhafte Umstellung.

    Innerhalb einer zunehmend integrierten EU kann ein zuverlässiges Wachstum gelingen.
    Investitionen fließen nicht primär nach Ungarn, sondern in das EU-Mitgliedsland Ungarn.

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