Politische Landschaft
Neue Opposition, neuer Orbán?
Wer Ungarns Politik verfolgt, der kennt folgenden Frontverlauf: Die Opposition besteht aus Landesverrätern und Soros-Söldnern, die alles Ungarische hassen und durch muslimische Migranten ersetzen wollen (dieses Bild malt die Regierungskommunikation an die Wand). Ministerpräsident Viktor Orbán wiederum ist ein faschistoider Diktator, mit dem echte Europäer nicht einmal einen Kaffee trinken sollten, ruft man bei der Opposition. Die Regierungspartei Fidesz sei ein Verein korrupter Schurken und Ja-Sager.
Regierung und Opposition üben sich in neuem Stil
Das alles ist seit Mitte Oktober komplett verschwunden. Seit die plötzlich vereinte Opposition die Budapester Bürgermeisterwahlen am 13. Oktober gewann, und weitere Städte dazu, klingt Ministerpräsident Orbán wie ein perfekter „liberaler Demokrat“.
Er gratulierte dem neuen Oberbürgermeister Gergely Karácsony, kündigte an, ihn nach Kräften unterstützen zu wollen, um „besser zu regieren als sein Vorgänger“ (der Fidesz-treue István Tarlós), und erklärte sich bereit, auf seine Prestigeprojekte in Budapest zu verzichten, sofern die neue Stadtverwaltung diese nicht gut finde. Karácsony wiederum nannte das „konstruktiv“ und wollte ebenfalls ein „Partner sein zum Wohl der Budapester“. Orbán lud ihn zu einer Kabinettssitzung ein, und Karácsony ging hin. Karácsony hielt eine gemeinsame Pressekonferenz mit Kanzleramtsminister Gergely Gulyás. Auch sie nannten einander „Partner“. Gulyás empfahl im Gespräch mit dem Boulevard-Blatt „Blikk“, Karácsony Zeit zu lassen, statt ihn gleich zu kritisieren.
In früheren Zeiten galt ein anderer Stil. Da sprang man einander an die Gurgel, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot.
Orbán kalkuliert neu
Offenbar haben die Kommunalwahlen den immer nüchtern kalkulierenden Orbán zu einem neuen Kalkül bewegt. Bisher gewann er immer mit einer Strategie der Konfrontation. Er baute Frontlinien und Feindbilder auf, und von diesen Frontlinien ließ er beherzt auf diese Feindbilder schießen. In Budapest hieß der Wahlkampf-Slogan, Oppositionskandidat Karácsony sei „ungeeignet“ (eine Bewertung, die Orbán dankend von Karácsonys eigenem „Verbündeten“ übernahm, DK-Chef und Ex-Premier Ferenc Gyurcsány).
Aber diese konfrontative Masche mit schlichten Botschaften, so scheint es, funktioniert nicht mehr. Karácsony gewann haushoch.
Dass es ein echtes Problem gibt, wurde nicht einmal vorrangig durch die Kommunalwahl deutlich – da gewann die Opposition zwar in diversen Städten, aber rechnerisch und landesweit konnte der Fidesz seine Stimmenanteile und seinen Vorsprung seit der Europawahl vom 26. Mai sogar leicht ausbauen.
Aber eine Umfrage des regierungsnahen Nézőpont-Instituts kurz nach der Wahl und die Ergebnisse einer Wahlwiederholung in zehn Städten und Gemeinden wegen Regelwidrigkeiten verwiesen auf eine beunruhigende Dynamik. Die Nézőpont-Umfrage belegte zwei deutliche Änderungen. Erstens: Das Lager der Nichtwähler/Unentschlossenen, traditionell 30 bis 40 Prozent der Wahlberechtigten, war plötzlich auf 26 Prozent geschrumpft. Mit anderen Worten: Obwohl bis 2022 keine Wahl ansteht, sind die Wähler hochmotiviert und mobilisiert. Und die stärkste Oppositionskraft war plötzlich mit 13 Prozent die neue Momentum-Bewegung.
Beunruhigende Entwicklungen für den Fidesz
Es ist die einzige Partei, gegen die der Fidesz keine zugkräftige Negativ-Botschaft hat. Die Sozialisten? Frühere Kommunisten. Jobbik? Faschisten und Rassisten. Demokratische Koalition? Die korrupte Bande des früheren Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány. Aber gegen die junge, relativ unideologische, zentristisch-liberale Momentum ist der fieseste Spruch, den der Fidesz bisher in Stellung bringen konnte, dass sie „hochnäsig“ seien. Was man, mit Verlaub, auch über den einen oder anderen Fidesz-Politiker sagen könnte.
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen war es doppelt beunruhigend, dass die Opposition bei der Wahlwiederholung in zehn Orten ihre Ergebnisse drastisch verbessern konnte. In Jászberény, wo der Regierungskandidat Tamás Szabó am 13. Oktober mit nur 14 Stimmen Unterschied verloren hatte, unterlag er diesmal mit mehr als 3.700 Stimmen Rückstand dem Oppositionskandidaten Lóránt Budai. Das war ein Schock: Da war die Stimmung also binnen weniger Tage gekippt, massiv und gegen die Regierung.
Das erkannte auch der örtliche Parlamentsabgeordnete János Pócs (Fidesz). Er muss 2022 bei den nächsten Wahlen um sein Mandat bangen. Die „Botschaften der Regierung“ über ihre „guten Ergebnisse“ habe man nicht gut kommuniziert, sagte er. Man habe auch inhaltlich Fehler gemacht, und sei von den Wählern abgestraft worden.
Kurzum, Pócs forderte eine Kursänderung seiner Partei. Wie er dürften mehrere Fidesz-Abgeordnete um ihre Sitze bangen, wenn 2022 das nächste Parlament gewählt wird – in erster Linie jene, deren Wahlkreise in den größeren Städten liegen. Das ist das greifbarste Ergebnis der Kommunalwahlen: Die Städter sind gegen, der ländliche Raum für den Fidesz und Orbán.
Fidesz-Anhänger warnen
András Bencsik, Chefredakteur des regierungsfreundlichen Blatts Magyar Demokrata, sprach gar von einer „Krise“ der Regierungspartei. Er argumentierte, der Fidesz könne es sich nicht leisten, nur auf das Land und auf „einfache Wähler“ zu setzen, während man die Städte verliere. Immer nur vom Kampf gegen Migration zu sprechen reiche nicht. Der Erfolg der Regierung in der Wirtschaftspolitik habe neue, größere Erwartungen bei den Wählern geweckt, die nun einen Wohlstand wie in Österreich verlangten. Eine Erwartungshaltung, die nur zu Enttäuschung führen könne.
In der Tageszeitung Magyar Nemzet, die von den meisten Beobachtern als eine Art Regierungsorgan betrachtet wird, schrieb der langjährige György Pihál, der Fidesz müsse sich „neu erfinden“ und wieder zu einer „Bewegung“ werden, die die Menschen zu begeistern vermöge.
Die bereits erwähnte Nézőpont-Umfrage ergab zwar, dass 52 Prozent der Wähler für den Fidesz stimmen würden, wenn am Sonntag Wahlen wären. Aber das betrifft vor allem die Listenmandate. 106 der 199 Parlamentssitze, mehr als die Hälfte also, sind jedoch Direktmandate. Hier kann wiederum die Opposition über einen Zusammenschluss wie bei den Kommunalwahlen punkten.
Aus der neuen Dynamik ergibt sich als erste Schlussfolgerung, dass der Fidesz es 2022 schwer haben dürfte, wieder eine Zweidrittel-Mehrheit zu erringen. Vielleicht wird es selbst für die absolute Mehrheit knapp. Strategisch muss die Partei also erstmals, zumindest insgeheim, Gedankenspiele anstellen zu der Frage, was sie denn tun könnte, sollte sie eines Tages einen Koalitionspartner benötigen, um an der Macht zu bleiben.
OB ohne Führungsstärke
Aber auch für die Oppositionsparteien ist die Lage nach den Kommunalwahlen nicht so ganz einfach. Sie haben Budapest und einige Städte gewonnen, das gibt ihnen eine neue Machtbasis, eine positive Dynamik, und zwingt sie zu einer weiteren Zusammenarbeit in den nächsten Jahren. Aber schon werden Bruchlinien deutlich. Der Budapester Stadtrat und die Führung der städtischen Betriebe (Wasserwerke, Nahverkehr usw.) wurden mit gut einem Dutzend Figuren aus den früheren Linksregierungen von Péter Medgyessy und Ferenc Gyurcsány besetzt. Ex-Finanzminister Tibor Draskovics beispielsweise wurde ins Direktorium des BKK (Nahverkehrsbetrieb) berufen.
Karácsony sagte zu dieser und anderen, teilweise umstrittenen Personalien, das habe nicht er entschieden. Seine Koalitionspartner hätten Forderungen gestellt, die er erfüllen musste.
So ist das, wenn man keine eigene Machtbasis hat. Karácsonys Partei, „Dialog für Ungarn“ (Párbeszéd Magyarországért), kann laut Umfragen auf nicht einmal ein Prozent der Wählerstimmen zählen. Er ist daher angewiesen auf die Sozialisten, die DK und die Jobbik. Das aber so offen zu sagen ist problematisch. Im Grunde heißt es nämlich, dass Karácsony zwar als Oberbürgermeister gewählt wurde, aber die Stadt nicht wirklich führen kann. Denn Führung, das weiß jeder Unternehmer, beginnt mit Personalentscheidungen.
Gyurcsánys DK positioniert sich
Hinter seinem Rücken beginnt schon das Fingerhakeln der „Verbündeten“. Gyurcsánys Demokratische Koalition (DK), die schon bei der Oppositions-Vorwahl versucht hatte, Karácsony den Dolch in den Rücken zu stoßen (indem sie überraschend eine Gegenkandidatin aufstellte), sorgte rasch für Empörung im Oppositionsbündnis. Zwei neu gewählte DK-Bezirksbürgermeister in Budapest beauftragten den DK-nahen Rechtsanwalt Csaba Czeglédy, die Amtsgeschäfte ihrer Fidesz-Vorgänger zu durchleuchten. Dafür bekommt er zwei Millionen Forint (knapp 6.000 EUR). Jobbik, Momentum und Karácsonys MSZP-Párbeszéd protestierten – das sei nämlich so, als beauftragte Orbán seinen Lieblingsanwalt.
Es wird also bereits mit harten Bandagen gespielt in der Oppositionskoalition. Auch da mag sich die eine oder andere Partei die Frage stellen: Was ist, wenn nach den Wahlen 2022 eine Koalition mit dem Fidesz die stabilste Machtbasis bietet?
Karácsony jedenfalls versprach, keine „Hexenjagd“ zu betreiben gegen Fidesz-Funktionäre in Budapest. In der linken Zeitschrift „168 óra“ warnte Kommentator Péter Somfai die Oppositionsparteien vor Kämpfen um Posten und Pfründe in den nun von ihnen geführten Städten, und auch davor, dort allzu hart gegen Fidesz-Beamte vorzugehen.
Vielleicht bekommt Ungarn also eine neue, mildere Opposition – und einen neuen, milderen Orbán. Auch auf der europäischen Bühne. Da ist Orbán schon seit Monaten sehr umgänglich, gibt sich konstruktiv und kompromissbereit. Der Lohn: Ungarns Kandidat für einen Posten in der EU-Kommission, der bisherige EU-Botschafter Olivér Várhelyi, bekam in den Ausschüssen grünes Licht für den Job als Erweiterungskommissar. Ein wichtiger Posten und ein Erfolg für Orbán, nachdem sein erster Kandidat, Ex-Justizminister László Trócsányi, gleich bei der ersten Anhörung noch im Rechtsausschuss gescheitert war.