Neue „Nationale Konsultation“
Mobilisierende 13 Fragen
Am Montag begann die nunmehr bereits achte „Nationale Konsultation“ der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán. Es geht darin vor allem um die Handhabung der Corona-Krise, aber auch erneut um Migration.
Zugleich endet der am 11. März ausgerufene und am 30. März ohne formale Befristung verlängerte Ausnahmezustand (Gefahrenlage), nachdem das Parlament sich einstimmig am Dienstag dafür aussprach. Wegen einer fehlenden Befristung für deren Ende war die Notstandslage von Regierungsgegnern, internationalen Medien und europäischen Politikern als der Beginn einer „unbefristeten Diktatur“ verschrien worden.
Dass sie nun nach weniger als nur drei Monaten endet, hindert die Opposition allerdings nicht daran, weiter von einer „Ausschaltung des Parlaments“ zu reden. Denn parallel zur Beendigung der „Gefahrenlage“ wurde (gegen die Stimmen der Oppositionsabgeordneten) ein Übergangsgesetz verabschiedet, das genau regelt, welche der Maßnahmen, die mit dem Ende des Ausnahmezustands ihre Gültigkeit verlieren, für eine Übergangszeit noch bestehen bleiben sollen. Dazu gehören beispielsweise Steuererleichterungen für Unternehmen, Kurzarbeitergeld und die Stundung von Kredittilgungen für Privatleute und Unternehmen.
Vorkehrungen für zukünftige Gesundheitskrisen
Es führt aber auch ein neues Rechtsinstrument ein, dass es so bisher nicht gab: Einen Mini-Ausnahmezustand für Epidemie-Situationen, genannt „Gesundheitskrise“. Die Opposition klagt, dass auf diesem Wege Orbán noch größere Macht erhält, als unter dem bisherigen Ausnahmezustand. Denn für die Ausrufung einer „Gesundheitskrise“ müsse das Parlament nicht befragt werden.
Das stimmt zwar, aber die neuen Regeln sind angelehnt an ähnliche Mechanismen in Deutschland und den USA: Ungarns „Landesoberarzt“ (in Deutschland das Robert Koch-Institut) stellt eine internationale Epidemie fest, woraufhin die Regierung (in Deutschland der Gesundheitsminister) auf dem Verordnungswege geeignete Maßnahmen treffen kann. Laut Gesetzestext dürfen solche Maßnahmen nur zur Bekämpfung der Epidemie und deren Folgen dienen, und zwar nur so lange, wie diese dauert und unter Beachtung einer angemessenen „Verhältnismäßigkeit“. Die „Gesundheitskrise“ ist auf sechs Monate befristet, aber verlängerbar.
Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung alles in allem zufrieden ist mit dem Krisenmanagement der Regierung. Wie um sich das bestätigen zu lassen, startete die Regierung am Montag eine „Nationale Konsultation“ zum Thema. Von den insgesamt 13 Fragen, die allen Wählern per Brief zugeschickt werden, betreffen 11 die Covid-19-Krise, wobei fünf Fragen auf wirtschaftspolitische Aspekte zielen. Die zwei letzten Fragen betreffen die Migrationspolitik.
Instrument der Regierungskommunikation
Von der Opposition als „suggestiv“ und „manipulativ“ kritisiert, von der Regierung als „demokratisch“ gepriesen – „Nationale Konsultationen“ sind ein eigenartiges Instrument der Regierungskommunikation. In anderen Ländern gibt es nichts Vergleichbares. Selten sind diese schriftlichen Befragungen der Bürger zu ausgewählten Themen in den Medien differenziert analysiert worden. Meist begnügt man sich damit, die „propagandistischen“ Aspekte zu beleuchten.
Diese gibt es tatsächlich. Aber die „Nationalen Konsultationen“ sind mehr als das. Sie sind auch ein vielschichtiges Instrument und eine raffinierte Antwort der Politik auf veränderte Ansprüche und Verhaltensweisen der Bürger im 21. Jahrhundert. Sie verbinden ein wenig Partizipation – immerhin werden die Bürger befragt – mit gezielter Wähler-Mobilisierung und politischem Messaging.
Seit gut zehn Jahren sind Politiker in aller Welt mit den politischen Folgen der digitalen Revolution konfrontiert. Jederzeit kann irgendwo eine Massendemonstration oder gar eine ganze Protestwelle quasi aus dem Nichts entstehen, weil die Bürger im Internet viel intensiver als früher die Nachrichten verfolgen, diskutieren und sich Meinungen bilden. „Irgendwie muss man darauf eine Antwort finden, es reicht den Wählern nicht mehr, alle vier Jahre wählen zu gehen – sie wollen mitreden“, sagte schon vor Jahren der heutige rumänische Staatspräsident Klaus Johannis diesem Reporter.
Er selbst setzte sich mitunter an die Spitze solcher Demonstrationen (gegen Korruption in Rumänien) und fabriziert neuerdings selbst Erregerthemen, damit die Wähler sich damit beschäftigen, statt auf eigene Ideen zu kommen. Etwa, als er jüngst davon fantasierte, Rumäniens Sozialdemokraten wollten „Siebenbürgen an Orbán verkaufen“.
Neue Herausforderung für die Politik
Aber es ist tatsächlich eine neue Herausforderung für die Politik, und entsprechend suchen Politiker nach Wegen, Wähler stärker einzubeziehen, ohne sich an deren Forderungen binden zu müssen. Ein Beispiel sind auch die neuen Europäischen Bürgerinitiativen (seit 2012), die es EU-Bürgern ermöglichen, Unterschriften einzureichen zu bestimmten Themen – wenn Mindestanforderungen erfüllt sind, muss sich die EU-Kommission mit dem Thema befassen (muss aber nicht handeln). Auch die ungarische Politik hat dieses Instrument entdeckt und versuchte auf diesem Wege beispielsweise, die Rechte der Minderheiten in den Nachbarländern zu stärken, mit einer Bürgerinitiative zum Schutz aller nationalen Minderheiten.
Ein anderes Beispiel ist die Petition-Webseite des Weißen Hauses in den USA. Dort kann man (seit 2011) zu jedem beliebigen Thema eine Petition starten. Schafft man 100.000 Unterschriften in 30 Tagen, so muss das Weiße Haus binnen 60 Tagen eine Antwort dazu geben – mehr nicht.
Ungarns „Nationale Konsultationen“ unterscheiden sich insofern, als sie keine Initiative der Bürger ermöglichen (dafür gibt es schon seit der Wende das Instrument der Volksbegehren). Die Nationalen Konsultationen, die Europäische Bürgerinitiative und die US-Petitionsseite sind aber alle zur selben Zeit entstanden (2010-2012), um den Bürgern das Gefühl zu vermitteln, sie könnten mitreden.
Darüber hinaus sind die Konsultationen ein probates Mittel, um Wähler zu mobilisieren. Überwiegend jene Bürger antworten auf die Fragen der Regierung, die mit ihr sympathisieren. Die Auswertung der Absender ergibt ein wertvolles Bild von der geografischen Verteilung und Größe der Anhängerschaft. Die oft suggestiven Fragen dienen dazu, die Wähler um bestimmte Themen herum zu mobilisieren.
Leitmotiv und Daten-Fundament für Parlamentswahlen
Das spielte eine wichtige Rolle beim überraschend deutlichen Sieg der Regierungspartei Fidesz bei den Wahlen 2018. Im Jahr davor hatte es gleich zwei Konsultationen gegeben, beide zur Migrationspolitik. „Lasst uns Brüssel stoppen“ war das Leitmotiv der ersten (1.680.000 Antworten), bei der zweiten ging es um den angeblichen Plan des US-Spekulanten George Soros, Flüchtlinge nach Europa zu lassen. Diese zweite Befragung sorgte überall in der EU für Empörung (weil „antisemitisch“) bei Linken, Liberalen und sonstigen Mainstream-Parteien. Mit 2.300.000 Antworten war es aber die wirkungsvollste Befragung dieser Art und gab das Leitmotiv und das Daten-Fundament für die Mobilisierung der Fidesz-Wähler 2018.
Nun stehen 2022 wieder Wahlen an, und man kann getrost davon ausgehen, dass die jetzige Konsultation bereits ihrer Vorbereitung dient (eine weitere ist für nächstes Jahr geplant).
Unter Punkt Eins werden die Bürger gefragt, welche Maßnahmen die Regierung ergreifen soll, falls es eine zweite Welle in der Covid-19-Epidemie gibt, von Maskenpflicht bis zu digitalem Lernen. Die zweite Frage: Soll eine Art Alarmbereitschaft bleiben, solange das Risiko einer zweiten Welle besteht? Diese Frage könnte zur Legitimierung der Einführung des oben erwähnten neuen Mini-Ausnahmezustands „Gesundheitskrise“ dienen.
Punkt Drei: Sollten Altenheime besser gegen Infektionen geschützt werden? Vierte Frage: Sollte Ungarn selbst die nötigen Schutzausrüstungen herstellen, um nicht auf andere Länder angewiesen zu sein? Und fünftens, sollte, so lange das Bildungssystem auf Online-Lernen angewiesen ist, das Internet für die Familien und Lehrer gratis sein? Sechs: Braucht das Land einen eigenen Epidemie-Beobachtungsdienst? Gemeint ist wohl so etwas wie das Robert Koch-Institut in Deutschland.
Das sind alles Fragen, die vernünftigerweise wohl nur mit „Ja, natürlich“ zu beantworten sind und nebenbei dazu dienen, die Bürger auf Zustimmung zur Regierungspolitik einzustimmen.
Teils heikle wirtschaftliche Fragen
Es folgt eine Reihe teilweise heikler wirtschaftlicher Fragen, die dazu dienen könnten, der Regierung „demokratische Legitimation“ zu liefern für Maßnahmen, die bei der EU auf Widerstand stoßen dürfen. Etwa, ob Banken und multinationale Konzerne an den Kosten der Covid-19-Krise beteiligt werden sollten, und ob man zur Stärkung der Wirtschaft ungarische Produkte und Dienstleistungen bevorzugt kaufen sollte. Diese beiden Fragen, sieben und acht, lassen Maßnahmen erahnen, die in Brüssel als protektionistisch interpretiert werden könnten, als ein Verstoß gegen die Regeln des Binnenmarktes. Das gilt auch für Frage 11, ob man ausländische Firmen daran hindern sollte, wichtige ungarische Unternehmen „unfreundlich“ aufzukaufen. Das ist nur dann nicht problematisch aus Sicht der EU, wenn es sich um Firmen aus Drittländern handelt, etwa China.
Frage Neun: Soll auch nach der Krise das Maßnahmenpaket zur Schaffung und Rettung von Arbeitsplätzen beibehalten werden? Auch hier ist wohl ein dankbares „Ja, natürlich“ der Bürger anvisiert.
Fragen 10, 12 und 13 sollen wohl helfen, den Wahlkampf 2022 vorzubereiten. George Soros, der als Feindbild in der Nationalen Konsultation zu Migration 2017 so gut „funktionierte“, ist Gegenstand der 10. Frage: Sollte man dessen Vorschlag ablehnen, „ewige“ Kredite aufzunehmen, die nie zurückgezahlt werden müssen, dafür aber endlos Zinsen kosten? Damit die Wähler nicht ins Grübeln geraten, steht als Zusatz dabei, Experten betrachteten dies als eine Form von Schuldknechtschaft.
Bei der 12. Frage will die Regierung wissen, ob die Bürger weiterhin eine harte Politik gegen Einwanderung befürworten, der Text enthält wieder einen Hinweis auf die finsteren Absichten von George Soros.
Der Knaller aber ist die 13. Frage: Soll die Regierung einen „offenen Konflikt mit der EU“ riskieren, um an ihren einwanderungsfeindlichen Rechtsvorschriften festzuhalten? Dabei wird darauf verwiesen, die EU plane, Ungarns Verfassung zu attackieren – was die EU-Kommissarin für Werte und Demokratie, Vera Jourova, als „Fake News“ kritisierte.
Ungarns Verfassung verbietet Asylgesuche von Bewerbern, die über sichere Drittländer (Transitländer) kamen. Dagegen läuft ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission, welches derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) liegt. Wenn dieser in seinem Urteil fordern sollte, die ungarische Verfassung zu ändern, dann könnte das zu einem rechtlichen Meilenstein werden. Dann nämlich, so sagte Kanzleramtsminister Gergely Gulyás gegenüber der Budapester Zeitung, dürfte das ungarische Verfassungsgericht mit dem Thema befasst werden.
Im Klartext: Es könnte dies der erste Fall werden, in dem Ungarn ein EuGH-Urteil ablehnt. Das wäre dann der „offene Konflikt“, von dem in Frage 13 die Rede ist. Und ein Thema, mit dem sich wunderbar Wähler mobilisieren lassen.
Welches europäische Land wird denn nun demokratisch regiert? Wobei im März 2020 ein Lockdown (Covid-19-Krise) ohne zeitlich konkrete Begrenzung über Ungarn von der Regierung verhängt wurde. Was wurde der bewundernswerte Ministerpräsident Herr Viktor Orban von europäischen Politikern und besonders aus Deutschland als Diktator gescholten. Und ohne Nachdruck aus dem ungarischen Parlament, hebt doch dieser “Diktator” nun den Lockdown auf. Ja, wer die verfügbaren Medien kennt, weiß, dass der Milliardär Georg Soros für eine unkontrollierte Migration wahrlich eine finstere Figur ist und alles getan werden muss, um diesen Mann und Geldgeber zu stoppen. Auch wir in Deutschland würden wir uns sehr freuen, wenn die Regierung einmal die Bürger über Nationale Konsultationen befragen würde. Einen Herrn Viktor Orban brauchen wir auch in Deutschland ganz besonders.
Erst klauen und dann verkaufen.
Etwa, als er (Johannis) jüngst davon fantasierte, Rumäniens Sozialdemokraten wollten „Siebenbürgen an Orbán verkaufen“. Da hätten die europäischen Sozialdemokraten und Sozialdemolierer tatsächlich ein lobenswertes Projekt, mit dem die Welt ein wenig gerechter würde. Erdély/Siebenbürgen ist ungarisches Kernland überweigend von Ungarn bewohnt und die deutschen Vorfahren von Johannis sind da, weil die Ungarn es vor Jahrhunderten so wollten. Aber Spasss beiseite. Die Regierung in Budapest hat ganz andere Sorgen und Projekte.
Wieder mal ein Artikel der Spitzenklasse von Kálnoky, informativ, konträr und amüsant. Schade nur, dass er ihn so im Hauptstroms der linksliberalen Meinungsmedien der BRD nicht unterbringen könnte. Nur bei Tichy und eventuell Cicero. Die Deutschen sind da sehr empfindlich wenn es um andere Meinungen geht!! Es ist wie damals, 33, gleiche Mentalität, gleiche Intoleranz, gleiche Dummheit.
Wenn man bedenkt, wie sehr die EU seit Jahren ihre eigenen großen Vorgaben über Bord wirft, (Maastricht, Dublin, Schengen, EZB-Gestze…) so erscheint es wie ein Witz, dass Brüssel in Sachen Verstöße intervenieren könnte.