Legutko
Philosoph und Politiker Ryszard Legutko: „Antikommunistische Regierungen sind von Anfang an wütend attackiert worden.“ (Foto: KKETTKK)

Rezension: „Der Dämon der Demokratie“ von Ryszard Legutko

Totalitäre Strömungen in liberalen Gesellschaften

Anfang März berichtete die Budapester Zeitung über eine Konferenz mit dem Titel „Erinnerungen an den Kommunismus und neue Bruchlinien in Europa“. Bei der vom Institut des XXI. Jahrhunderts zusammen mit der Fidesz-nahen Stiftung für ein bürgerliches Ungarn ausgerichteten Veranstaltung warnte der polnische Philosoph, Politiker und EU-Abgeordnete Ryszard Legutko vor der Rückkehr des Marxismus in neuem Gewande. Im vorliegenden Artikel widmet sich die BZ den Thesen seines Buches über die erstaunlichen Parallelen zwischen Kommunismus und zeitgenössischen Tendenzen innerhalb der liberalen Demokratie.

„Die westliche liberale Demokratie galt als Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit“, schreiben die liberalen Autoren Ivan Krastev und Stephen Holmes in ihrem 2019 erschienenen Buch „Das Licht, das erlosch.“ Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Schreckensherrschaft sei man selbstverständlich davon ausgegangen, dass die liberale Demokratie westlichen Stils das einzige lebensfähige Ideal sei, das Reformer in aller Welt anzustreben hätten.

Dass die liberale Demokratie ihren eigenen Ansprüchen womöglich nicht gerecht wird, dass die Annahme, die liberale Demokratie bedeute selbst schon unmittelbar Freiheit und Emanzipation, eine Illusion sein könnte, kommt den beiden Autoren nicht weiter in den Sinn. Dabei sieht alles danach aus, als gebe es sogar zusehends Ähnlichkeiten, wie Ryszard Legutko eindringlich offenlegt, zwischen der liberalen Demokratie und dem Kommunismus.

Die Ära der Wahrheit war von kurzer Dauer

„Mit dem Eintritt der vom Kommunismus befreiten Länder in das globale System der liberalen Demokratie war man davon überzeugt, dass Objektivität und Wahrheit die Grundlagen des Westens seien“, erinnert sich Ryszard Legutko. „Dort versorgten freie Medien und Journalisten die Welt mit freien und unverfälschten Informationen, dort genossen die Menschen die Segnungen der Demokratie.“ Freiheitskämpfer wie Legutko glaubten noch daran, dass „all diese großartigen Dinge“ nicht möglich seien „ohne die lange und institutionalisierte Tradition, die Wahrheit zu respektieren, und ohne die tiefsitzende Aversion gegenüber Ideologien“.

„Die hohen Erwartungen wurden jedoch enttäuscht“, schreibt der polnische Denker. „Die Ära der Wahrheit war in Osteuropa nur von kurzer Dauer. Sehr bald war die Welt wieder verborgen hinter einer neuen ideologischen Hülle und die Menschen wurden zu Opfern eines neuen ‚Newspeak‘ mit den alten ideologischen Mystifikationen.“

Mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung mit dem kommunistischen Totalitarismus stellten Menschen wie Legutko mit großer Klarsicht fest, dass die obligatorischen Rituale der Loyalität und der Verurteilungen wiederbelebt würden, diesmal mit neuen Feinden und einem neuen Objekt der Anbetung: der liberalen Demokratie.

Ein epochaler Vertrag zwischen Kommunisten und liberalen Demokraten

Nach und nach sei in ihm die Überlegung entstanden, dass Kommunismus und liberale Demokratie durch „gemeinsame Prinzipien und Ideale verbunden sein müssten.“ Der Eindruck bestätigte sich bereits 1989, als in Polen der „Anti-Antikommunismus sofort zu einem wichtigen Bestandteil der sich herausbildenden neuen politischen Orthodoxie wurde“.

Tatsächlich hätten sich die früheren Mitglieder der Kommunistischen Partei „problemlos in die liberale Demokratie gefügt“. „Das Bündnis mit ihnen wurde als epochaler Vertrag gefeiert, der in seiner Bedeutung nur der Gründung der Republik in der Geschichte der Vereinigten Staaten entsprach“, schreibt Legutko.

Auch im Westen seien die postkommunistischen Führer und Funktionäre begeistert aufgenommen worden, „ganz im Gegensatz zu den Antikommunisten, die weit weniger freundlich behandelt wurden“. Antikommunistische Regierungen – wie die der polnischen PiS oder des ungarischen Fidesz – seien dagegen von Anfang an wütend attackiert worden.

Das Vergessen auf dem Weg zum neuen Menschen

Bald habe sich – ganz ähnlich wie der Kommunismus – auch die liberale Demokratie „als großer Vereinheitlicher“ erwiesen, die ihren Anhängern vorschreibe, wie sie denken, was sie tun, wie sie etwas bewerten und welche Sprache sie benutzen sollten. Die Folgen dieser Tendenz zur Vereinheitlichung könne man in der gesamten westlichen Zivilisation beobachten. „Man erlebt, wie die Sprache zerstört wird, und ein ‚Newspeak‘ entsteht, wie meist auf ideologischer Grundlage eine surreale Welt erschaffen wird, welche die reale Welt verdeckt.“

Dabei werde in der liberalen Demokratie die menschliche Natur ebenso betrachtet wie im Kommunismus: sie sei nichts als ein Substrat, das in beliebige Formen gepresst werden könne. Beide Systeme würden die Vergangenheit relativieren oder verhöhnen, beide würden einen Kampf gegen Tradition und Erinnerung führen, da das Vergessen eine wichtige Voraussetzung sei, wenn es darum gehe, „den neuen Menschen zu formen.“

Raumgewinn der Ideologie seit den 60er Jahren

„Man müsste annehmen, dass die liberale Demokratie von ideologischen Versuchungen relativ frei ist“, schreibt Legutko im Kapitel „Ideologie“. Tatsächlich schien in den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine liberal-demokratische Welt mit viel weniger Ideologie in Aussicht. Bereits mit den 60er Jahren jedoch kündigte sich ein „Raumgewinn der Ideologien ungeahnten Ausmaßes an“: „Eine revolutionäre Rhetorik erweckte erstaunlich starke Sympathien in der ganzen westlichen Welt. Noch erstaunlicher war, dass die Ideen hinter der Rhetorik eine starke marxistische Einfärbung hatten, bzw. direkt oder indirekt vom Marxismus inspiriert waren.“

Erneut wurden unzählige Menschen von der hypnotischen Kraft der „Utopie“ in ihren Bann geschlagen; wieder träumte man von einer besseren Welt, einer Welt der Liebe, des Friedens, der sexuellen Freiheit und der Spontaneität.

Kapitalismus und Staat waren die Hauptgegner, aber auch Universitäten, Schulen, Familien, Gesetzgebung und Sitten wurden heftig attackiert; und auch wenn die „Blumenkinder“ bald von der Bühne verschwanden, blieben ihre Werte und Ideale in Form einer neuen Ideologie – der „Ideologie der liberalen Demokratie“. Diese neue Ideologie „eroberte große Bereiche des öffentlichen Lebens und des individuellen Denkens“, stellt Legutko fest. „Ein Zustand, der bis heute anhält.“

Unterdessen fand in den liberal-demokratischen Gesellschaften des Westens eine allmähliche Verschiebung des Mainstreams nach links statt. „Die damals ausgebrochene kraftvolle politische Revolution brachte die Linke in eine dominante Position.“ Dabei habe die Idee der Gleichheit an erster Stelle gestanden, so Legutko, der sich in diesem Zusammenhang auf den französischen Historiker François Furet bezieht: „Die Gleichheit gab dem Westen den entscheidenden moralischen Impuls und bestimmte die Richtung, in welche die Kämpfer von ihrer Phantasie im Kampf um eine bessere Welt geleitet wurden.“

Von der Gleichheit als höchstem Wert

„Der Hauptgrund für die überwältigende Präsenz der Ideologie sowohl in liberal-demokratischen als auch kommunistischen Gesellschaften ist die Tatsache, dass beide Regime der Gleichheit den höchsten Wert zumessen und sie zu ihrem leitenden Prinzip gemacht haben“, betont der polnische Philosoph. Dabei sei die Gleichheit ein „Monster mit unstillbarem Appetit“. Auch wenn die Menschen vor dem Recht gleich sind, wird das die Sorgen des überzeugten Egalitariers nicht zerstreuen. „Andere Typen von Ungleichheit existieren fort und können nicht toleriert werden.“

Bald wende sich das Misstrauen gegen den menschlichen Geist und das Denken, „weil sie der Ort sind, an dem die Akzeptanz der Ungleichheiten entsteht“. Anschließend dauere es nicht mehr lange, so Legutko, bis die egalitäre Ideologie damit beginne, sich gegen die Bildung zu richten, wo der Geist geformt wird, gegen die Familie und die Gemeinschaften, wo die Gedanken ihre soziale Fundierung erhalten, und schließlich gegen die Kunst, die Sprache und die Wissenschaft.

Diese vom linken Denken inspirierte Verschiebung der Werte sei von Intellektuellen wie von Politikern schließlich ohne großen Widerstand gebilligt und als die Richtung des politischen Fortschritts definiert worden. Seither könne man von einer „Mainstream“-Politik und „Mainstream“-Parteien sprechen. „Das Attribut“, so Legutko, „bezeichne heute einen parteiübergreifenden Konsens, den so gut wie alle politischen Kräfte teilen.“

Verlust des republikanischen Charakters

Ursprünglich ging der Liberalismus von der hypothetischen Situation aus, dass relativ unabhängige Individuen durch ein System von Verträgen miteinander kooperierten. Die 68er Revolution jedoch wurde unter dem Banner der Befreiung diverser unterdrückter Gruppen geführt. Dies habe den demokratischen Liberalismus in eine Dok­trin verwandelt, in der die handelnden Einheiten nicht mehr die Individuen, sondern Gruppen und Institutionen des demokratischen Staates sind.

Plötzlich tauchten nun Personen auf, die im Rahmen organisierter Gruppen gewisse Forderungen aufstellten. „Nach einer Zeit gelang es ihnen auch, die juristischen Entscheidungen der Gerichte zu beeinflussen und so die gesetzliche Verankerung ihrer Position und der erworbenen Privilegien zu sichern.“

Legutko fügt hinzu, dass der Staat in der liberalen Demokratie damit nicht nur „seinen ursprünglichen republikanischen Charakter verlor“, sondern auch aufgehört habe, das Gemeinwohl zu vertreten. Schließlich entdeckten die Politiker, dass es ihnen Vorteile verschaffte, den Forderungen nach immer neuen Privilegien und Rechten nachzukommen. „Die Fortsetzung der Gleichstellungspolitik war die beste Methode“, stellt Legutko heraus, „um Wählerstimmen zu sichern und an der Macht zu bleiben.“

Wer heute die Aufgabe der liberalen Demokratie, für die Emanzipation immer neuer Gruppen zu arbeiten, an­zweifle, laufe sofort Gefahr, beschuldigt zu werden, „Feind der liberalen Demokratie schlechthin zu sein“.

Gedankenverbrechen

Das in der liberalen Demokratie allgegenwärtige Phänomen der „Political Correctness“ ist Ryszard Legutko zufolge eine „praktische Konsequenz der Ansicht, dass es die Aufgabe aller Bürger der liberal-demokratischen Gesellschaft ist, sich am großen kollektiven Unterfangen zu beteiligen“. In diesem Rahmen seien das Familienleben, der Inhalt eines Buches oder ein Witz keine irrelevanten Trivialitäten. Was auf der Oberfläche ein kaum wahrnehmbares Zeichen sei, verweise auf „in der Tiefe brodelnde Strömungen von Hass, Intoleranz und Rassismus“.

Hier sei es inzwischen Aufgabe des Staates, „dass diese schrecklichen Tendenzen nicht an die Oberfläche gelangen.“ Zu diesem Zweck schaffe der Staat den legalen Rahmen, er ordne den öffentlichen Raum und die Bildung neu, sodass die Menschen die „Regeln des politisch korrekten Denkens“ verinnerlichten. Was daraus folgt, hat mit dem ursprünglichen Liberalismus, der die menschlichen Aktivitäten im Wesentlichen als unpolitisch und die Individuen als private Personen beschrieb, nicht mehr viel zu tun. Wenn die Einmischung in das Leben der Menschen heutzutage keine Grenzen mehr kennt, geht es letztlich um die Vorherrschaft über das Bewusstsein der Menschen.

Ryszard Legutko
Der Dämon der Demokratie – totalitäre Strömungen in liberalen Demokratien

192 Seiten, übersetzt von Krisztina Koenen, Wien 2017
Das gebundene Buch kann zum Preis von 23 Euro ­­bei Amazon erworben werden.
(Die englische Ausgabe kostet nur 17,18 Euro.)

Dabei sei der erste Akt des Ungehorsams gegenüber den heiligen Prinzipien der Political Correctness das gedankliche Verbrechen: eine mentale Sünde, die sich in der Sprache zu erkennen gibt. „Wer nach einer Abhilfe gegen gedankliche Verbrechen sucht, muss mit der politischen Therapie des menschlichen Geistes beginnen“, beschreibt Legutko die heutigen Praktiken der liberalen Demokratie, die gerade in diesem Kontext eine erschreckende Ähnlichkeit mit dem Kommunismus aufweist. Das Ergebnis sei eine zunehmende Gleichschaltung des Denkens und des Verhaltens, gegen die kaum noch protestiert wird, weil die Mehrheit der Menschen davon überzeugt wurde, „dass sie Zeugen der Entstehung einer globalen Zivilisation der Freiheit seien“.

Legutko sieht Christentum als letzte Hoffnung

Ryszard Legutko stellt abschließend fest, dass die liberal-demokratische Ideologie schon lange aufgehört hat, offen zu sein, und nun in eine Phase der rigiden Dogmatik eingetreten ist. „Der liberal-demokratische Mensch bestimmt die Grenzen der menschlichen Natur und leugnet alles, was über diese enge Perspektive hinausweist.“

„Ein Hinweis auf das Christentum als einen wichtigen Teil der europäischen Identität in der Präambel des EU-Verfassungsvertrags hat derart wütende Reaktionen hervorgerufen, dass er, weil angeblich mit den ‚europäischen Werten‘ unvereinbar, fallengelassen werden musste“, schreibt Legutko. Selbst die Anerkennung der historischen Rolle des christlichen Erbes gelte heute als eine „derart extravagante Idee“, dass sie nicht mehr toleriert werden könne.

Legutko dagegen begreift das Christentum als ein wertvolles Korrektiv zur allgegenwärtigen Ideologisierung und Politisierung der Menschen, eine echte Alternative zur „Öde der liberal-demokratischen Anthropologie“. Schließlich sei auch der Widerstand, der schließlich zum Zerfall des kommunistischen Systems geführt habe, vor allem von religiösen Gruppen und der Religion selbst gekommen.

Am Ende legt der polnische Philosoph Ryszard Legutko schließlich seine begründete Hoffnung darein, dass es nicht möglich sei, „die Menschen langfristig durch eine einzige Ideologie einzuschläfern, ihre Gedanken und Gefühle auf die immer gleiche Weise zu organisieren“.

Hier geht es zum BZ-Bericht über den kürzlichen Budapester Vortrag von Legutko.

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