Konferenz zum 30. Jahrestag der Selbstbefreiung Mittel- und Osteuropas
Kein Ende der Geschichte
Bei der Konferenz ging es nicht darum, die Ereignisse von vor 30 Jahren als nur noch historisch interessante Tatsachen darzustellen und zu würdigen. Vielmehr bemühten sich alle Referenten, auf die Aktualität der damaligen Prozesse und zahlreiche, seitdem offene und für die Zukunft Europas höchst relevante Fragen hinzuweisen. So müsse etwa ganz klar die abweichende Interessenlage im westlichen und östlichen Teil Europas anerkannt werden. Außerdem werde in den ehemaligen Ostblockländern etwa der Begriff der Nation und der nationalen Souveränität anders bewertet als im Westen, dessen Eliten sich darin gefallen, sich postnational zu geben und mit einer immer größeren Aggressivität gegenüber Andersdenkenden ihre geistige und visionäre Leere zu kaschieren.
Wer die Geschichte beherrscht …
Die Eröffnungsrednerin und Leiterin des Terrorhaus-Museums, Mária Schmidt, wies eingangs zunächst auf die große Bedeutung der Geschichte und ihrer Kontrolle hin. Die Kommunisten hätten sich mit „Zähnen und Klauen“ an ihre Darstellung der Geschichte geklammert und den von ihnen unterworfenen Nationen das Recht zur eigenen Interpretation ihrer Vergangenheit und zur Bewertung ihrer nationalen Standpunkte genommen. „In dem Moment, in dem die sowjetischen Besatzer die Alleinherrschaft über die Interpretation der Vergangenheit verloren hatten, glitt ihnen auch die Kontrolle über die Vergangenheit aus den Händen und sie konnten nicht länger über die Zukunft bestimmen“, unterstrich die Historikerin einen grundlegenden Zusammenhang.
Dem Streben nach nationaler Identität räumt Schmidt eine grundlegende Rolle bei der Selbstbefreiung der Ostblockländer vom Sowjet-Kommunismus ein. Gleichzeitig verwahrt sie sich entschieden gegen den Versuch westlicher Kräfte, die Rolle des Drangs der unterdrückten Völker nach Wohlstand überzubetonen. Würde, Glaube und Stolz seien mindestens ebenso große Triebkräfte wie das Streben nach Wohlstand, unterstrich sie.
Die Unabhängigkeit war kein Geschenk
Ebenso wies die Historikerin Versuche zurück, die Ereignisse vor 30 Jahren so hinzustellen, als hätten die Völker die errungene Freiheit und Unabhängigkeit vom Westen als Geschenk bekommen. Gleichzeitig wird die Bedeutung der nationalen Freiheit als Triebkraft für die Revolutionen bagatellisiert. Deshalb würden die westlichen Eliten auch gerne vom „Jahr der Wunder“ sprechen und davon, dass die Berliner Mauer gefallen sei, während sie und der Kommunismus in Wahrheit von den Bürgern der besetzten Länder hinweggefegt wurden. „Die unterdrückten Menschen haben die sowjetische Herrschaft gestürzt“, unterstrich Mária Schmidt. „Wir sind stolz darauf, dass wir gegen eines der gewaltigsten Reiche der Welt einen so großen Sieg erringen konnten.“
Gleichzeitig warnte sie vor dem Eindruck, dass mit dem Sturz des Kommunismus automatisch auch das marxistische Denken aus der Praxis verschwunden sei. Ganz im Gegenteil. So machte sie etwa unter anderem den Selbsthass der vielfach „marxistisch geprägten westlichen Elite“ für das selbstmörderische Verhalten des Westens bei der Migrationskrise verantwortlich. Nach dem Sturz der utopischen Ideologien des 20. Jahrhunderts hätte die westliche Elite nun in der offenen Gesellschaft ein neues utopisches Projekt gefunden, warnte die Historikerin. „Wir möchten davon nichts!“, schloss sie nachdrücklich.
Viele Osteuropäer waren vom Ende der Geschichte überzeugt
Es folgte der bulgarische Philosoph Ivan Krastev. Zunächst warf er einen Blick zurück auf die Jahre vor der Wende. Zwei universalistische Systeme waren aufeinander geprallt, und man fragte sich: Welches ist das legitime? Welches wird sich durchsetzen? Dann war schließlich die Sowjetunion zusammengebrochen.
In seinem 1992 erschienen Buch „Das Ende der Geschichte“ vertrat der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama die Auffassung, dass sich von nun an die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft auf globaler Ebene durchsetzen würden – und zwar endgültig.
Es gab auch sehr viele Osteuropäer, die nach der Wende die These vom Ende der Geschichte bereitwillig akzeptierten. Der Grund dafür, so Krastev, sei die Tatsache, dass die Osteuropäer durch den Kommunismus daran gewöhnt waren, in solchen Kategorien zu denken. Immer wieder war ihnen von jenem Ziel berichtet worden, auf das nach Karl Marx die Geschichte zusteure: das finale Ziel einer globalen Gesellschaft, in der es keine Widersprüche und also auch keine Klassen mehr geben werde.
IVAN KRASTEV (1965, Lukovit/Bulgarien) ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies (CLS) in Sofia und Mitglied des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Er ist Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations (ECFR), Mitglied im Beratungsgremium der Open Society Foundations, New York, sowie Mitglied des Kuratoriums der International Crisis Group. Krastev schreibt regelmäßig für die Meinungsseite der New York Times. Der SPIEGEL bezeichnete ihn kürzlich als „einen der wichtigsten Denker unserer Zeit“.
Der Zusammenbruch des Kommunismus schien den dialektischen Marxismus jedoch unmittelbar zu widerlegen: Nicht der Kommunismus war dieses ultimative Ziel, sondern ein sich global durchsetzender Liberalismus. Dabei hatte nicht einfach der Westen den Osten besiegt – vielmehr war es die Geschichte selbst, die den Sozialismus überwunden hatte. Fukuyama hatte die perfekte Antithese zu Karl Marx geliefert.
Das Prinzip der Nachahmung
Krastev betonte, dass mit dem Ende des Kalten Krieges auch die liberalen Demokratien des Westens ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass ihnen der Rest der Welt über kurz oder lang nacheifern würde. Dabei gab es schon damals genügend Gegenbeispiele. So habe etwa China die kommunistische Partei mit in die neue Zeit „hinübergerettet“. Und für den radikalen Islam war der eigentliche Wendepunkt Afghanistan, als es den Islamisten gelang, eine der globalen Supermächte zu besiegen.
Anders war es bei den Mittel- und Osteuropäern, die bestrebt waren, dem siegreichen Westen zu folgen. Sie eiferten dem westlichen Modell nach, sie imitierten es und passten sich bis zur eigenen Unkenntlichkeit daran an. Es sollte auch das Ende aller Experimente sein. „Normalität“ wurde zum neuen Schlüsselwort und die Rollen waren eindeutig verteilt: der Osten als gelehriger Schüler, der Westen als wohlwollender Lehrer. Irgendwann jedoch rächt sich ein solches Ungleichgewicht.
In psychologischer Hinsicht verglich Krastev die Situation mit der von Migranten: Während es für die erste Generation noch als Erfolg gewertet wird, sich an den Lebensstil des Ziellandes anzupassen, kommen bei der zweiten Generation irgendwann Ressentiments mit ins Spiel. Man fühlt sich unzulänglich oder gar minderwertig und stellt sich Fragen nach der eigenen Identität.
Hinzu komme das Problem, dass in westlichen Gesellschaften ausgerechnet Originalität und Wandel wichtige Werte darstellten. So konnte es auf Dauer kaum befriedigend sein, einem Modell nachzueifern, das einer ständigen Veränderung unterworfen war. Wie sollte man auch jeweils ankommen?
Schließlich mussten die Länder Mittel- und Osteuropas erleben, wie der Westen selbst zu etwas „Abnormalem“ wurde – speziell hinsichtlich seiner Auffassungen von sexueller Freiheit, in Bezug auf den Multikulturalismus oder den Umgang mit der Massenimmigration.
In diesem Zusammenhang ging Krastev auch auf Viktor Orbán ein, der im Zuge der „Flüchtlingskrise“ davon ausgegangen sei, dass nun der Westen umgekehrt anfangen würde, Länder wie Ungarn oder Polen zu imitieren. Das werde Krastev zufolge jedoch allein schon wegen der ethnischen Zusammensetzung der verschiedenen Gesellschaften nicht geschehen: Während die Bevölkerungen in Ostmitteleuropa weitgehend homogen seien, würden sich die westlichen Gesellschaften durch eine hohe Diversität auszeichnen. Das mache eine Politik wie im Osten ganz unmöglich.
Für einen geläuterten Liberalismus im 21. Jahrhundert
Auf der anderen Seite warnte das Mitglied der Open Society Foundation vor einer „Essentialisierung“ der jeweiligen Unterschiede, bei der ganze Gesellschaften durch ganz bestimmte und quasi unveränderliche Merkmale charakterisiert werden. Damit würde man den Menschen in Ost und West nicht gerecht werden. Die wahren Unterschiede würden letztlich vielmehr zwischen den Städten und dem ländlichen Bereich liegen – und zwar in allen Ländern. Während also die Städter eine sehr viel offenere, internationalere Haltung hätten, zeichneten sich die ländlichen Regionen durch Konservatismus und eine gewisse Geschlossenheit aus.
Wenn man diesen Gedanken von Ivan Krastev zu Ende denkt, so würde das bedeuten, dass die heutigen Unterschiede zwischen Ost und West darauf zurückzuführen seien, dass die Politik des Westens von ihren jeweiligen Städten geprägt sei, während die des Ostens ein ländliches Gepräge auszeichne. Anders ausgedrückt seien Länder wie Ungarn und Polen, wenn sie eine konservative und patriotische Politik betrieben, lediglich etwas rückschrittlich im Sinne des Ländlich-Bäuerlichen. Es müsste folglich, wenn man diesen Gedanken noch weiter spinnt, nur eine Frage der Zeit sein, bis sich auch diese Länder im Zuge der allgemeinen Verstädterung einer multikulturellen Politik der „Open Borders“ verschreiben würden. Ob sich diese Sicht jedoch bewahrheitet, kann nur wieder die Geschichte zeigen.
Tatsächlich scheint Ivan Krastev aber gar nicht davon auszugehen, dass sich der Liberalismus notwendig durchsetzen werde. In seinem mit Stephen Holmes kürzlich veröffentlichten Buch „Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung“ schreibt Krastev: „Wir können die weltweit vorherrschende liberale Ordnung, die wir verloren haben, endlos betrauern. Oder wir können unsere Rückkehr in eine Welt ständig miteinander rangelnder politischer Alternativen feiern – und erkennen, dass ein geläuterter Liberalismus, wenn er sich von seinem unrealistischen und selbstzerstörerischen Streben nach weltumspannender Hegemonie erholt hat, noch immer die politische Idee ist, die dem 21. Jahrhundert am ehesten entspricht.“
Souveränismus
Im Anschluss ergriff der 1992 geborene italienische Kolumnist und Schriftsteller Francesco Giubilei das Wort. Giubilei ist Gründer des Verlages „Giubilei Regnani“ und der konservativen Bewegung „Nazione Future“. Er ist Präsident der konservativen Stiftung „Fondazione Tatarella“ und Autor verschiedener Bücher, darunter das 2019 auf Englisch erschienene „The History of European Conservative Thought“, in dem er die wichtigsten Vertreter, Orte und Ideen des Konservatismus von Edmund Burke bis zur Moderne bespricht.
In seinem Vortrag kam er zunächst auf die Wirtschafts- und Finanzkrise des Jahres 2008 zu sprechen und meinte, dass insbesondere Länder wie Portugal, Italien, Griechenland und Spanien davon in Mitleidenschaft gezogen wurden. In Italien seien besonders Menschen „am Rande der größten Städte“ von einer zunehmenden Verarmung betroffen. Entsprechend fühlten sie sich von den traditionellen linken und anderen Mainstream-Parteien im Stich gelassen und begannen, den traditionellen Parteien den Rücken zu kehren.
Hier begann nun der Aufstieg der Souveränisten, wie Giubilei sie nennt – jene politischen Kräfte, deren Aufgabe darin bestünde, die nationale und öffentliche Souveränität zu verteidigen. In Italien sehe darin vor allem die „Lega“ ihre Mission.
Die Lega und die EU
Giubilei verwies darauf, dass die Lega in den Medien regelmäßig als „rechtsextrem“ bezeichnet werde. Dabei sei sie in seinen Augen eine „postideologische Partei“, weil sie nicht nur die Wähler traditioneller Mitte-Rechts-Parteien anspreche, sondern auch viele Wähler der linken Parteien.
Während die Lega in Bezug auf die Familien-, die Sicherheits- und die Einwanderungspolitik eine klar konservative Linie verfolge, trete sie gleichzeitig mit dem ausdrücklichen Ziel an, „das System zu revolutionieren“. Und auch wenn bei den Souveränisten die Idee der Nation im Mittelpunkt stehe, so wolle die Lega um Matteo Salvini keineswegs die EU abschaffen. Man sei lediglich gegen die gegenwärtige Politik der EU. Giubilei betonte, dass man stattdessen ein Europa der Nationalstaaten anstrebe.
Das Problem sei jedoch die „deutsch-französische Hegemonie“, welche die „Gefahr einer zunehmenden Zentralisierung“ mit sich bringe. Um dem entgegenzuwirken, bliebe zunächst nur die bilaterale Zusammenarbeit zwischen einzelnen Staaten der EU und die Kooperation einzelner EU-Mitglieder mit Staaten außerhalb der EU wie den USA.
Der Sieg und die innere Leere
Nach Francesco Giubilei war nun Frank Füredi, Professor für Soziologie an der University of Kent in Großbritannien, an der Reihe, der einen weiteren sehr interessanten Aspekt beleuchtete: wie Europa seinen Weg nach dem Ende des Kalten Krieges verlor.
Zunächst erinnerte Füredi daran, wie am Anfang alle davon ausgingen, dass der Westen gewonnen habe. Doch genau in diesem Moment, da die USA scheinbar triumphierten und der ideologische Konflikt wegfiel, wurde man plötzlich mit der eigenen inneren Leere konfrontiert. Nun plötzlich zeigte sich, dass „ein bedeutender Teil des westlichen Establishments nicht mehr wirklich an etwas glaubte“. Entsprechend vermied man eher grundlegende Fragen moralischer Natur und bediente sich mehr und mehr einer technologischen Sprache der Sachzwänge und Notwendigkeiten.
In Brüssel rechtfertigte man sich beispielsweise mit dem Argument, dass die EU die einzige Institution sei, die noch zwischen Krieg und Frieden stehe – ganz so, als würden die Europäer nur darauf warten, wieder Krieg gegeneinander zu führen. Es war diese im Grund leere, „rein technokratische Idee“, die dann auch nach Osteuropa exportiert wurde, wo sie wiederum viele Anhänger fand.
„Der Kapitalismus hat keine intellektuelle Unterstützung“, bemerkte Füredi. Schon der große US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman soll in den 70er Jahren gesagt haben, dass der Kapitalismus nur solange gute Argumente habe, solange es die Sowjetunion gebe. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus jedoch war der Westen „intellektuell erschöpft“.
Der verzweifelte Versuch einer Re-Vitalisierung
Die Europäische Union versuchte dieser Leere und Erschöpfung entgegenzuwirken, indem das Ziel einer neuen Welt ausgegeben wurde, die mit der Gegenwart nicht mehr verbunden sei. Man setzte also eine Utopie, mit der man fortan die Menschen beglücken wollte. Hinzu kam die „Identitätspolitik“, mit der man sich in Kreisen der EU einen höheren Sinn verleihen wollte. Füredi betonte, dass es heutzutage in „Brüssel mehr Identitäten gebe als Ratten“.
Schließlich kultivierte man den Hass auf den Souveränismus. Dieser wurde als Populismus verteufelt und verkörperte nun alles denkbar Schlechte, als sei er unmittelbar mit dem Faschismus gleichzusetzen. Dabei ging Füredi auch darauf ein, dass man in der EU die Gefahr eines neuen Faschismus tatsächlich ernst nehme.
Frank Füredi nannte noch weitere „Dynamiken“, die in der EU immer mehr die Oberhand gewinnen würden und allesamt gegen die Völker Europas gerichtet seien. Die eine bestehe im Hang zu einer „Entterritorialisierung“, die sich unter anderem darin zeige, dass die EU-Funktionäre unter sich und wie in internationalen Blasen leben würden. Wenn man sich beispielsweise zum Essen oder Arbeiten treffen würde, sei es völlig gleichgültig, ob man sich gerade in Madrid, Paris oder Warschau aufhalte. Die Politik der EU schwebt über allem.
Als nächstes müsse die Politik „dehistorisiert“ werden. Spreche man über die Vergangenheit, sei ausschließlich der Faschismus als negatives Beispiel zu nennen. Als drittes müsse man die Politik „dekulturieren“ und traditionelle kulturelle Institutionen als archaisch brandmarken.
Statt der Menschen, ihrer jeweiligen Geschichte und Kultur bevorzuge man in Brüssel die „Zivilgesellschaft“. Allerdings betonte Füredi, dass diese „weder zivil noch eine Gesellschaft“ sei. Vielmehr handle es sich um „Institutionen, die installiert werden, um den Leuten zu sagen, was sie zu denken haben“.
Um die Aussagen Füredis zusammenzufassen, strebt man also in der EU – und das letztendlich aus einer inneren Leere heraus – eine utopische Gesellschaft an, in der es keine konkrete Heimat gibt. Ziel ist ein Gebilde, das – den Faschismus ausgenommen – frei von historischen Wurzeln sei und auch darüber hinaus keine besonderen kulturellen Eigenheiten aufweise. Für Frank Füredi, der aufgrund seiner Meinungen drei sehr gute Freunde verloren habe, seien die heutigen „kulturellen Kriege“ ebenso gefährlich wie die ideologischen.
Am Ende seiner Rede sprach er noch über die heutigen Ungarn und ihre Auffassung, dass die Nachahmung des Westens ein Ende haben müsse. „In den Kulturkriegen sollten die Ungarn verstärkt die Werte der Aufklärung verteidigen,“ riet er. Ungarn könnte anderen ein Beispiel geben.
Die Zukunft Europas gehört der bisherigen Peripherie
Als letzter ergriff der Forschungsdirektor des Terrorhaus-Museums, Márton Békés, das Wort. Er ging zunächst darauf ein, dass Westeuropäer, wenn sie von Europa sprechen würden, eigentlich stets Westeuropa meinten. Auch charakterisierte er die EU-Osterweiterung als eine Form des Kolonialismus, der schon in der Wortwahl zu erkennen sei. Denn warum würde man nicht stattdessen von einer „europäischen Wiedervereinigung“ sprechen?
Auf die Frage nach den europäischen Werten meinte Békés, dass sie entweder nicht definiert würden oder einfach gar nicht existierten. Vielmehr würde der Westen nun einer Utopie nachjagen und sich auf gefährlichen Abwegen befinden. Die eigentlichen Werte Europas seien dagegen nur noch in Mittel- und Osteuropa lebendig. Dementsprechend könne man Békés zufolge auch sagen, dass man es nicht eigentlich mit Kulturkriegen zu tun habe, sondern mit einem Krieg um das kulturelle Phänomen als solches.
Békés kam hier auf die Rede von Alexander Solschenizyn sprechen, die dieser am 8. Juni 1978 an der Universität Harvard gehalten hatte. Damals kritisierte Solschenizyn, dass der Westen seine christlichen Wurzeln, generell eine „übergeordnete Einheit“ verloren habe, die in der Lage sei, „unsere Lüste und Verantwortungslosigkeit einzudämmen.“
Da er sich in Richtung einer sinnentleerten „Verehrung des Menschen und seiner materiellen Bedürfnisse“ begeben habe, sei der Westen Solschenizyn zufolge nicht mehr dafür gewappnet, mit seinen Herausforderungen und Gegnern umzugehen. Im Vergleich zum standardisierten westlichen Wohlstands-Dasein habe das komplexe, harte Leben im Osten stärkere, tiefere und interessantere Charaktere hervorgebracht.
„Auch in Ungarn sind die Menschen von gewissen westlichen Einflüssen verschont geblieben“, meinte Békés. Aus diesem Grunde seien sie auch für die Bewahrung der Souveränität, der nationalen Identität und der Nationalstaaten. Insofern rief auch Békés dazu auf, das eigene Denken zu „dekolonisieren“. Schließlich gehöre die Zukunft den bisherigen Vororten von Europa.
Eine gemeinsame Zivilisation
Bei der anschließenden Paneldiskussion erinnerte sich Frank Füredi daran, wie enttäuscht er 1990 bei seiner Rückkehr nach Ungarn über die Menschen hierzulande war. Alle hätten nur darauf gewartet, dass „man ihnen ein Skript geben möge, damit sie wissen, was sie denken oder sagen sollten.“ Außerdem gab es durchaus einen gewissen „milden neokolonialen Impuls“, sodass es lange dauerte, „bis das kulturelle Leben seine eigene Dynamik aufnehmen konnte“.
Ivan Krastev entgegnete, dass man den „kolonialistischen Impuls“ nicht übertreiben dürfe. Immerhin gab es sehr viele Menschen, die „nicht wussten, was sie tun sollten“. Wenn es einen Zwang des Westens gab, so hatte man ihn doch selbst herbeigesehnt. Der gesamte Prozess war ganz natürlich und dazu auch eine ganz banale Frage des Geldes.
Mária Schmidt meinte dagegen, dass man von Anfang an enttäuscht war. Letztendlich hatte der Westen schon während des Kalten Krieges sehr gut mit den Kommunisten zusammengearbeitet. Auch nach der Wende sah der Westen die ehemaligen Kommunisten als Partner an, und nicht die Vertreter der Freiheitsbewegung.
Auch dies fand Ivan Krastev „ganz normal“ und verglich es mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Westen mit ehemaligen Nazis zusammengearbeitet habe. Man hatte eben Angst vor Chaos und Bürgerkrieg.
Zum Ende hin erinnerte Francesco Giubilei an das Gemeinsame in Ost und West. Man sei doch letztlich eine „gemeinsame Zivilisation“, die von einer neuen Form des Kommunismus, genannt „Globalismus“ bedroht sei. Diese richte sich gegen das Christentum, gegen die Person und gegen die Nation. Aus diesem Grunde müsse man die Menschen auch wieder an ihre christlichen Wurzeln erinnern und die EU in eine Föderation von Nationen umwandeln.