Deutsche Auswanderung nach Ungarn
Jahrhundertelange Tradition
Beginnend mit dem ersten ungarischen König, Stephan I., kamen viele deutsche Kolonisten nach Ungarn, um hier ihr neues Leben zu beginnen. Obwohl ihre Motivation und die wirtschaftliche Situation unterschiedlich waren, haben deutsche Auswanderer Ungarn immer wieder wesentlich bereichert.
Ungarns erste Königin war eine Deutsche
Sie hieß Gisela und kam aus Bayern. Ihr war ein für damalige Verhältnisse sehr langes Leben beschieden, sie lebte von 984 bis 1065, wovon sie mehrere Jahrzehnte in Ungarn verbrachte. Wenn wir den Chroniken glauben dürfen, dann fand ihre Eheschließung 996 im Kölner Dom statt, also im sehr zarten Alter von 12 Jahren. Der Name Gisela leitet sich übrigens vom althochdeutschen Wort „gisal“ ab. Übersetzt heißt es „Geisel“, „Bürge“ oder auch „Unterpfand“. Der Name der ersten ungarischen Königin könnte also durchaus etwas mit ihrer geopolitischen Bestimmung in Bezug auf Bayern und Ungarn zu tun gehabt haben.
Es kam später im Laufe der Jahrhunderte immer wieder vor, dass ein ungarischer Prinz, Herzog oder anderer Adelige eine Dame deutscher Muttersprache heiratete. Allerdings muss man in diesem Fall vorsichtig formulieren: damals gab es nämlich kein Deutschland im heutigen Sinne, nur das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, zu dem auch Österreich, Tschechien und die Schweiz gehörten.
Im Gefolge dieser Bräute – wie auch mit der später seliggesprochenen Gisela – kamen immer wieder auch Geistliche, Adelige, Ritter, Knechte, Hofdamen und Handwerker ins Land. Sie ließen sich nicht nur in den jeweiligen Hauptstädten nieder – Székesfehérvár, Veszprém, Esztergom, Visegrád und später Buda –, sondern auch außerhalb. Im Mittelalter gab es in vielen ungarischen Städten einen „Stadtteil der Deutschen“ – lateinisch: „vicus germanorum“.
Bergleute und Handwerker
Die Ungarn waren ursprünglich ein nomadisches Volk: sie verstanden sich auf Tierzucht, und später den Ackerbau. Nachdem im damaligen Nordungarn (heute: Slowakei) Erzvorkommen gefunden wurden, wurden Bergleute und Industrielle ins Land gerufen. Dieser erste größere Zuzug fand Mitte des 12. Jahrhunderts statt. In dessen Ergebnis entstand in immer mehr Städten ein deutschsprachiges Bürgertum.
In Anlehnung an die westeuropäischen Bergmannsrechte, Stadtrechte und anderen Vergünstigungen entstanden auch im Königreich Ungarn entsprechende Privilegien – in erster Linie für die von Deutschen bewohnten Regionen. So erließen die Könige im Laufe der folgenden Jahrhunderte mehrere Freibriefe, in denen etwa die Rechte der Zipser (heute Nordslowakei und Südpolen) und die der Siebenbürger Sachsen (heute Südsiebenbürgen, Rumänien) festgeschrieben wurden.
In diese Periode fällt auch die Entstehung der freien königlichen Städte. Das war ein juristisches System, das diesen Siedlungen eine große Selbstständigkeit zusprach. Diese war aber nicht umsonst: die Bürger, die zu diesen Gemeinschaften gehörten, mussten immer königstreu sein. Ihre Steuern entrichteten sie direkt dem König. Sie mussten auch für entsprechende Einnahmequellen sorgen, wie etwa für Bergwerke, Manufakturen oder auch Transportunternehmen.
Beim Blick auf Landkarten des mittelalterlichen Ungarns fallen einem Ortsnamen in unterschiedlichen Sprachen auf, so zum Beispiel Buda / Ofen, Esztergom / Gran, Kassa / Kaschau (heute Kosice), Pozsony / Pressburg (heute Bratislava), Nagyszeben / Hermannstadt (heute Sibiu) oder auch Segesvár / Schäßburg (heute Sighisoara). Der Muttersprache der jeweiligen Bürger kam damals keine große Bedeutung zu. Alle Nationalitäten gehörten zum Königreich Ungarn. Dessen Amtssprache war übrigens bis 1844 das Lateinische.
Die große Auswanderung aus Südwestdeutschland
Ulmer Schachtel – so nennt man den Bootstyp, mit dem zigtausende Deutsche im 18. Jahrhundert ins Königreich Ungarn kamen, um ein neues Leben zu beginnen. Diejenigen, die auf der Donau diese lange Reise antraten, nennt die Geschichtswissenschaft „Donauschwaben“. Ihre späteren Siedlungsgebiete lagen und liegen teils auch heute noch an der Donau, so etwa in den Komitaten Gran/Esztergom, Pest, Bács-Kiskun, Tolnau/Tolna und Branau/Baranya, sowie in der Woiwodina im früheren Jugoslawien und im Banat, Rumänien.
Es war eine Art Völkerwanderung, die durch die Habsburger und zahlreiche österreichisch-ungarischen Ämter initiiert wurde. Der Grund war einfach: Nach dem Ende der türkischen Besetzung waren die südlichen und mittleren Teile Ungarns dermaßen entvölkert, dass es für die überlebenden Ungarn nahezu unmöglich war, sie aus eigener Kraft wieder zu bevölkern. Da die dünn besiedelten Gebiete dem jeweiligen Grundbesitzer kaum Einnahmen abwarfen, hatten diese ein vitales Interesse daran, sie so schnell wie möglich wieder zu bevölkern. Zur Lösung dieses Problems rückte das heutige Süddeutschland in den Fokus, wo damals Überbevölkerung und vielerorts Armut herrschten.
Die ersten Kolonisten kamen aus dem heutigen Baden-Württemberg, so werden die im 18. Jahrhundert in Ungarn angekommenen Deutschen als „Schwaben“ bezeichnet. Sodann kamen auch Familien aus Hessen, Bayern und Franken. Im 18. Jahrhundert kann man drei große deutsche Auswanderungswellen nach Ungarn unterscheiden. Die erste Welle machte sich in den 1720-er Jahren auf den Weg, die zweite im Zeitraum von 1740–1760 und eine dritte in den Jahren nach 1780.
Von Ulm nach Ungarn
Die Sammelstelle, also der Hafen zum Einstig war das süddeutsche Ulm. Hier waren die Auswanderer willkommen: Sie sorgten in der nach dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) wirtschaftlich stagnierenden, aber als Sitzungsort des Schwäbischen Reichskreises politisch immer noch bedeutsamen Reichsstadt für wichtige wirtschaftliche Impulse.
Da die Durchreisenden Kost und Logis benötigten und natürlich die Fahrtkosten für die Schiffsreise auf der Donau bezahlen mussten, war die Auswanderung auch ein bedeutender wirtschaftlicher Faktor für Ulm. Am meisten profitierten natürlich die Wirte und Schiffsleute – was deren Berufskollegen in den weiter donauabwärts gelegenen Städten Günzburg, Lauingen und Donauwörth recht bald auf den Plan rief. Die sogenannten Ulmer Schachteln waren Einweg-Boote: Nachdem sie in Ungarn angelegt hatten, wurden sie zerlegt und das Holz als Baumaterial verwendet.
Die Neuankömmlinge erhielten Grundstücke und genossen Steuerfreiheit. Trotz aller Versprechungen hatten die Auswanderer am Anfang kein leichtes Los. Die zeitgenössischen Aufzeichnungen berichten von Klagen über verödete Landstriche, Mangel an Werkzeug, ja sogar von Armut und Seuchen. Treffend hieß es: Die erste Generation bekam den Tod, die zweite die Not und erst die dritte das Brot. Bis die donauschwäbischen Siedlungen langsam auf den grünen Zweig kamen, vergingen also Jahrzehnte.
Wie ging es weiter?
Nicht zuletzt mit Hilfe der zahlreichen deutschen Einwanderer folgte nach den verheerenden Jahrhunderten der Türkenzeit eine Periode des Wiederaufbaus und der Konsolidierung des gesellschaftlichen Lebens. Mit den Gesetzen und Verordnungen von Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn, und ihres Sohn Joseph wurden die Grundlagen für einen aufgeklärten Staat und eine erstarkende Wirtschaft gelegt. Dass diese Rahmenbedingungen mit Leben erfüllt werden konnten, ging maßgeblich auf das Mitwirken der deutschsprachigen Einwanderer zurück.
Ende des 18. Jahrhunderts lebten im damaligen Vielvölkerstaat Ungarn mehr als eine Million Deutsche, die vor allem in der Landwirtschaft tätig waren. Die letzte größere Einwanderungswelle fand in den 1820-er Jahren statt. Danach kann eher von einer Binnenwanderung im Rahmen der Doppelmonarchie gesprochen werden. Insbesondere Handwerker und Gewerbetreibende zog es aus dem deutschsprachigen Raum nach Ungarn.
Recht bald gab es in den ungarischen Städten ein blühendes deutsches Leben mit Handwerksbetrieben und anderen Unternehmen, ja sogar mit eigenen Zeitungen und Theatern. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten etwa 1,5 Millionen Deutsche im Königreich Ungarn, deren Siedlungsgebiete 1919 zwischen den Staaten Ungarn, Jugoslawien und Rumänien aufgeteilt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand das Deutschtum in der Region ein jähes Ende: Hunderttausende von ihnen wurden umgebracht, deportiert, vertrieben oder zwangsassimiliert.
In Ofen (heute West-Budapest) gab es im 19. Jahrhundert noch eine deutsche Mehrheit. Aber schon nach dem Ausgleich, in der ungarischen Autonomie, kam die Magyarisierung, obwohl der österreichische Kaiser noch ungarischer König war. Da zogen die meisten ab. Nach 1918 wurde die Magyarisierung schärfer, und als Gegenwehr kam die ungarndeutsche Hymne.
Zu der Volksabstimmung in Ödenburg 1921 gibt es Berichte, daß Ungarn Soldaten schickte, um die Einwohner an der Stimmabgabe zu hindern, und statt der Einwohner die Soldaten abstimmen ließ.
Schon in den 50er Jahren soll aber ungarndeutsche Kulturarbeit erlaubt worden sein.