Grenzöffnung 1989
Ein Bild, das um die Welt ging: Oberstleutnant Árpád Bella lässt die DDR-Flüchtlinge passieren. (Foto: Tamás Lobenwein)

Grenzöffnung / Dokumentarfilm „No Command!“ über zwei Schlüsselereignisse von 1989

Die Zeit der Oberstleutnante

Der Dokumentarfilm „No Command!“ (Nincs Paráncs!) von Péter Szalay beleuchtet die turbulenten Ereignisse rund um die beiden wichtigsten Grenzöffnungen von 1989 aus der Perspektive dreier Haupthelden von damals.

Ein roter Teppich wurde vor dem Uránia-Kino ausgerollt. Für eine Filmpremiere so üblich. Außergewöhnlich ist jedoch, dass vor dem Einlassportal links und rechts zwei Trabis aufgestellt wurden. In der Eingangshalle steht ein weiteres Trabi-Vorderteil mit montierten Flügeln, sowie ein Teil des ungarischen Grenztors, beides Originalstücke aus dem Soproner Raum, die eigens für die Premiere nach Budapest gebracht wurden.

Der geflügelte Trabi dient als Wahrzeichen für die Flucht der DDR-Bürger im Jahre 1989 über Ungarn. Wobei die Trabis damals keine Flügel bekamen, sondern oft vor der österreichischen Grenze zurückgelassen wurden, während ihre Besitzer die Flucht gen Westen zu Fuß unternahmen. Péter Szalays Film erzählt von diesen Zeiten, in denen der Traum von Freiheit den vierzigjährigen Ostblock erschütterte und die Grenzbefestigungen zum Einsturz brachte.

Nach seinen beiden Filmen „Grenzfall“ (2006) und „Traum von Europa“ (2017) widmet sich der Filmregisseur Péter Szalay mit seinem neuen Werk „No Command!“ nun abermals den Ereignissen des schicksalhaften Jahres 1989.

Der Titel führt uns direkt zu den beiden Hauptprotagonisten, die damals durch eigene Entscheidungen, bildlich gesprochen, erste Steine aus der Berliner Mauer schlugen. Der 9. November, also der Tag der Grenzöffnung zwischen Ost- und Westberlin, dürfte in seinem Ablauf den meisten Deutschen bekannt sein. Oft in Vergessenheit geraten ist jedoch die Bedeutung des in Ungarn organisierten Paneuropäischen Picknicks im August desselben Jahres für Deutschland bzw. das Ende der DDR.

Es brachte die Geschehnisse bereits vor der offiziellen ungarischen Grenz­öffnung am 11. September ins Rollen. Die ungarische Filmproduktion widmet sich diesen beiden neuralgischen Punkten und eröffnet sehr persönliche Perspektiven auf den Fall des Eisernen Vorhangs.

Unvermittelt in die Geschichte eingegangen

Beide Male erstürmte eine größere Menge von DDR-Bürgern gemeinsam die Grenze. Das erste Mal ereignete sich während des Paneuropäischen Picknicks am 19. August an der österreichisch-ungarischen Grenze. Ein symbolisches Grenzpicknick beider Länder sollte dort stattfinden, das kurzfristig von ungarischen Oppositionellen organisiert wurde.

Plötzlich jedoch trafen etliche DDR-­Flüchtlinge am Schauplatz ein, die das Ereignis überrannten und zur Flucht in den Westen nutzten. Diensthabender Kommandant vom ungarischen Grenzschutz war an diesem Nachmittag Oberstleutnant Árpád Bella. Von oben erhielt er keine Anweisungen, befand sich also praktisch in einem Befehlsvakuum. Er ließ die Menschen passieren und erteilte keinen Schießbefehl.

Eine ähnliche Situation ereignete sich am 9. November an den Berliner Grenzübergängen. Auf der Pressekonferenz der DDR-Regierung, die live im Fernsehen übertragen wurde, verlas der damalige Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung von Ost-Berlin, Günther Schabowski, am Abend eine neue Reiseregelung, die vorsah, dass ohne Visum in den Westen ausgereist werden dürfe.

Ein Journalist fragte nach, ab wann denn diese Regelung gelten solle. Schabowski suchte auf seinem Papier nach dem Datum, das – wie sich später herausstellte – auf der Rückseite stand, konnte allerdings keines finden, und verkündete so, dass das Gesetz „ab sofort“ in Kraft trete.

Der gebürtige Bautzener Oberstleutnant Harald Jäger verfolgte in der Kaserne am Grenzübergang Bornholmer Straße die Pressekonferenz. Ein langer Abend stand ihm bevor. Auch er hatte wie Árpád Bella keinerlei Richtlinien erhalten, wie er mit den Ausreisewilligen verfahren solle – NO COMMAND.

Zuerst versuchte er, die anstürmende Menge zurückzuhalten, später ließ auch er sie passieren. Er öffnete damit die Grenze. Beide Oberstleutnante schrieben Geschichte und verhinderten wahrscheinlich ein Blutbad, das damals durchaus nicht ausgeschlossen gewesen wäre. Als „die Zeit der Oberstleutnante“ bezeichnete Bella diese Situation im Nachhinein.

Eine sehr persönliche Grenzreise

Im Film von Péter Szalay treffen sich die beiden Ex-Grenzschützer an den emblematischen Orten der Geschehnisse und nehmen den Zuschauer auf eine Erinnerungsreise ins Jahr 1989 mit. Begleitet werden die beiden Oberstleutnante vom dritten Protagonisten László Nagy, der damals ein Mitorganisator des Paneuropäischen Picknicks war und der heute die Stiftung des Paneuropäischen Picknicks als Pressesprecher vertritt.

Natürlich fanden 1989 viele weitere Ereignisse statt. Der Film konzentriert sich aber ganz konkret auf die Öffnungspunkte des Eisernen Vorhangs. Die Gedanken und Erinnerungen der Haupthelden werden einerseits durch zahlreiche Interviews mit weiteren Augenzeugen, aber auch durch eine Fülle an Originalfilmaufnahmen und Fotos ergänzt.

Zugleich bietet der Film anschaulichen Geschichtsunterricht – von der Errichtung des „Antifaschistischen Schutzwalls“, wie die Mauer in der DDR-Propaganda bezeichnet wurde, über Ronald Reagans Aufforderung an Gorbatschow im Jahr 1987, „das Tor zu öffnen“, bis zu den genauen Umständen der offiziellen Grenzöffnung Un­garns am 11. September.

Im Mittelpunkt von NO COMMAND! steht aber auch die dramatische Fluchtgeschichte einer ostdeutschen Familie. Zwei Tage nach der „friedlichen“ Flucht von über sechshundert DDR-Bürgern während des Picknicks wird Kurt-Werner Schulz zum letzten Opfer am Eisernen Vorhang. Bei der Flucht über die ungarisch-österreichische Grenze wird er erschossen.

Kurt-Werner Schulz wird am 21. August 1989 zum letzten Todesopfer am Eisernen Vorhang. (Foto: Stiftung Paneuropäisches Picknick)

Frau und Sohn müssen nach dem tragischen Verlust alleine in das Gießener Aufnahmelager weiterziehen. Die dramatische Situation wird von seiner Witwe Gundula Schlafitel als auch von dem damaligen Schützen geschildert. Der Film leistet hier einen Beitrag zur Versöhnung oder zumindest zum Verständnis des ergreifenden Vorfalls, der das Leben beider Seiten zutiefst erschütterte.

Vielschichtiges Kinoerlebnis

NO COMMAND! überzeugt in seiner Machart durch die Montage unterschiedlichster Medien und visueller Materialien. Neben den persönlichen Eindrücken und Reflexionen der Protagonisten gibt es zahlreiche Originalaufnahmen.

NO COMMAND!

(ungarisch: Nincs parancs! | 2020, Dokumentarfilm, 71 Minuten)

Nach der Präsentation in Budapest sind Vorstellungen in Veszprém, Pécs, Győr, Miskolc und Sopron sowie auf Festivals in Planung.

Mehr Informationen erhalten Sie unter: www.facebook.com/nincsparancs

Hier geht es zum ungarischsprachigen Trailer.

Neben der ergreifenden Dramatik der Erzählungen und der informativen Einbettung in die historischen Vorgänge bietet der Film darüber hinaus auch noch einen poetischen Zugang. Ein Bertolt Brecht-Zitat zu Beginn, Fotos von Graffitis der Berliner Mauer oder die bizarren Grafiken des Malers István Orosz, die an die unmöglichen Figuren und Räume des Künstlers M.C. Escher erinnern, geben dem Film eine philosophisch-künstlerische Dimension. Erwähnenswert ist hier vor allem die Sandanimation des ungarischen Künstlers Ferenc Cáko, die den historischen Moment der Öffnung des Grenz­übergangs Bornholmer Straße abbildet.

Die Grenzöffnung an der Bornholmer Straße, gesehen vom ungarischen Animationskünstler Ferenc Cáko. (Foto: Screenshot aus dem besprochenen Film)

Eine überzeugende Narration von einem soliden, männlichen Sprecher verbindet die einzelnen Stationen des Films. Kritisch zu nennen bleibt allenfalls die Sprecherin, die hauptsächlich die Tagebucheinträge von Gundula Schlafitel vorträgt. Dabei verliert sie sich zu sehr in einer überzogen bedeutungsschwangeren Intonation.

Untermalt wird der Film von den melancholisch-träumerischen und angenehmen Klängen des Trompeters und Komponisten Barabás Lőrinc. Insgesamt ein lohnenswerter und packender Film, der gleichzeitig auch die feineren Töne trifft.

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