Dr. Mária Schmidt: „In den 80er Jahren gingen die unterworfenen Nationen daran, ihr geschichtliches Gedächtnis freizulegen.“ (Foto: KKTTKK)

Essay zum 30. Jahrestag der Selbstbefreiung Mittel- und Osteuropas / Teil 1

Die Geschichte ist zurück, aber vielleicht war sie ja immer präsent

Die Geschichte war das Wichtigste. Genauer gesagt: das Beherrschen der Vergangenheit. Darauf bestanden die Kommunisten, die diese marxistische, auf dem Klassenkampf basierende Geschichtsinterpretation zur allmächtigen Doktrin erklärten.

Indem sich die Kommunisten die Geschichte aneigneten, nahmen sie den unterdrückten Völkern das Recht, ihre eigene Vergangenheit aus dem nationalen Blickwinkel zu interpretieren. Sie nötigten diese Völker, ihre Helden, Feiertage und Symbole auszutauschen, sie wollten sie ihren Schmerz, ihre Erfolge, ja jeden Grund für nationalen Stolz vergessen machen. Doch sobald ihre Kraft nachließ, drängte der unbändige Wille der unterdrückten Völker an die Oberfläche, neuerlich in Besitz zu nehmen, was ihnen gebührt.

Die Wahrheit auszusprechen war von entfesselnder, befreiender Kraft

In den 80er Jahren gingen die unterworfenen Nationen daran, ihr geschichtliches Gedächtnis freizulegen, indem sie erreichten, dass sie wieder ihre nationalen Farben, Symbole und Fahnen verwenden durften. Die Wahrheit auszusprechen – insbesondere in Verbindung mit der Geschichte des Widerstands gegen die Sowjets und den antikommunistischen, nationalen Aufständen und Freiheitskämpfen – war von entfesselnder, befreiender Kraft. Mit ertrotzten Zugeständnissen wurde die Diktatur der Kommunisten dazu gebracht, das Monopol über die Vergangenheitsdeutung aufzugeben, was letztlich zu einer Aushöhlung der kommunistischen Ideologie und dazu führte, dass sich die Legitimierung dieses Systems in Schall und Rauch auflöste.

In dem Augenblick, da die versklavten Nationen ihre Vergangenheit zurückerlangten, schüttelten die für kommunistisch erklärten Länder die fremden Besatzer von sich ab, und mit diesen die ihnen auferlegte kommunistische Ideologie. Sobald die sowjetischen Besatzer die Alleinherrschaft über die Deutung der Vergangenheit verloren, entglitt ihnen auch die Kontrolle über die Gegenwart, so dass sie nicht länger über die Zukunft bestimmen konnten.

“It’s the nation! Stupid!”

Es ist wichtig zu verstehen, was 1989/90 jene erdrutschartigen Veränderungen verursachte, die viele als „das Jahr des Wunders“ bezeichnen. Der polnischstämmige Zbigniew Brzezinski, ein guter Kenner dieser Region und einer der Mitgestalter der Politik der Vereinigten Staaten von Amerika zu jener Zeit, vertrat die Auffassung, dass 1990 Demokratie und freie Marktwirtschaft über die Zwangsjacke von Diktatur und Planwirtschaft triumphierten. In seiner Interpretation feierte somit das amerikanische Modell einen Sieg über das sowjetische, um jene Amerikanisierung Europas zu Ende zu führen, der sich die Vereinigten Staaten von Amerika schon seit dem Ende des Ersten Weltkriegs verpflichtet fühlten.

Die wahren Triebkräfte von 1989/90

Aber war das wirklich alles? Lässt sich tatsächlich all das, was am Ausgang der 80er Jahre in dieser Region und mit dieser Region geschah, auf den Zusammenprall zwischen den Wirtschaftsmodellen und Staatsformen reduzieren? Das höhere Lebensniveau der westlich geprägten Konsumgesellschaften, deren besseres und freieres Leben übten durchaus eine starke Anziehungskraft in unserer Region aus, was freilich auch von unseren Sozialleistungen gesagt werden konnte – dennoch gaben nicht diese Dinge den Ausschlag. Denn schließlich bestimmen den Menschen nicht allein seine materiellen Verhältnisse und Konsumgewohnheiten, schließlich hat der Mensch auch eine Seele.

Seine Würde, der Glaube und Stolz und noch viele Dinge mehr sind mindestens ebenso wichtig wie die Frage, welche Güter er besitzt. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass die nationale Frage, also der Wille, die nationale Souveränität zurückzuerlangen, was gleichbedeutend mit dem Verlangen nach Freiheit war, eine weitaus größere Rolle beim Zerfall des Sowjetreichs spielte, als dies manche Vordenker wahrhaben wollen.

Die Historikerin DR. MÁRIA SCHMIDT ist Gründerin und Leiterin des Museums Terrorhaus, das sich mit den beiden Diktaturen des letzten Jahrhunderts beschäftigt, sowie Direktorin des Instituts des XXI. Jahrhunderts. Außerdem ist sie Regierungsbeauftragte für die Organisation der Erinnerungsfeierlichkeiten aus Anlass des 30. Jahrestages der antikommunistischen Revolution von 1989/90.

Ein unverzichtbarer Teil dieses Souveränitätsstrebens war, das Recht auf die eigene nationale Deutungshoheit zurückzuerlangen. Mit anderen Worten waren der Kampf für die Emanzipierung der Völker Mittel- und Osteuropas und ihr Antikommunismus entscheidende Faktoren, die zum Sturz des Sowjetsystems führten. Die Forderung nach Gleichrangigkeit setzte sich durch gegen Demütigungen, Erniedrigungen und die aufgezwungene Rolle als Menschen zweiter Klasse, wie sie über Jahrzehnte praktiziert wurden. Dass die nationalen Bewegungen neuerlich Verbreitung fanden, ließ die utopische Ideologie des kommunistischen Internationalismus unwirklich erscheinen, der die Überwindung der nationalen Frage verkündete.

„Warum war die Intervention der Sowjets im November 1956 notwendig? Weil die Ungarn versuchten, sich in ihre eigenen inneren Angelegen­heiten einzumischen.“

1989/90 siegten somit die Nationen über die Klassen, die Nationalstaaten über Imperien, Privateigentum und Marktwirtschaft über das staatliche Wirtschaftsmodell von Plänen und Anweisungen, die unauslöschliche Sehnsucht nach der Freiheit über ein Los in Knechtung und Versklavung, aber vor allem war es ein Sieg über jene, die sich angemaßt hatten, die Vergangenheit endgültig auslöschen zu können. Wir könnten es auch mit den Worten formulieren, die Geschichte kehrte zurück und bereitete den Ideologien ein Ende. Jenem utopischen Modell der Standardisierung, das Internationalismus und Weltfrieden sowie eine Gesellschaft frei von Ausbeutung, also eine perfekte Gesellschaftsform versprach, das uns aber bis zur Erfüllung damit vertröstete, uns solange mit der grauen, auf Lügen basierenden Wirklichkeit des Sozialismus abzufinden.

Nur dass wir uns nicht länger damit abfinden wollten.

Die Nation triumphierte

Das neuerliche Erstarken der nationalen Bewegungen und nationalstaatlichen Ziele sowie deren schlussendlicher Triumph überrumpelte die vom Marxismus infizierten und der Sowjetpropaganda erlegenen Experten, jene intellektuelle Schicht, deren Weltbild der Zusammenbruch des Kommunismus ohnehin schwer erschütterte. Bis heute konnten diese Leute nicht verdauen, wie es möglich war, dass der nationale Gedanke das Sowjetreich in seine Bestandteile zerlegen und auf den Müllhaufen der Geschichte befördern konnte. Stattdessen teilen sie weiterhin die Ansicht des in Deutschland umschwärmten Philosophen der Linken, Jürgen Habermas, wonach das Ziel der damaligen Revolutionen von 1989 in Mittel- und Osteuropa in einer Restauration bestand, also darin, den Westen einzuholen. Schließlich wollten auch die Gesellschaften Mittel- und Osteuropas an jenem materiellen Wohlstand und jener Freiheit teilhaben, wie sie den Westeuropäern vergönnt waren. Das Dreiermotto lautete: Freiheit, Brüderlichkeit und Normalität.

Was Restauration und Einholen, also die Rückkehr zu Normalität betrifft, bestehen zwischen uns keine Differenzen. Der Unterschied ist darin gegeben, dass sich nach meiner Ansicht die Restauration in erster Linie auf ein Zurückerlangen der Souveränität der Nationalstaaten bezog, denn wir wollten unsere nationale Unabhängigkeit und auf diese Weise unsere Freiheit und die diese gewährleistenden demokratischen Rechte zurückerlangen. Normalität bedeutete für uns, als gleichberechtigte Partner nach Europa zurückzukehren, vor dessen Tür man uns befördert hatte. Selbstverständlich wirkten auch die materiellen Güter motivierend. Auch wir wollten teilhaben an den unzähligen Vorteilen der Konsumgesellschaft – der sozialistische Versuch, an dem wir notgedrungen teilnehmen mussten, hatte uns dieser beraubt.

Linke im Schockzustand

Seither sind dreißig Jahre ins Land gegangen, die Linken aber haben sich aus jenem Schockzustand, der damals ihre Sicht verklärte, bis heute nicht erholt. Deshalb feierten sie nicht die im Kalten Krieg errungenen Siege des Westens. Deshalb versuchen sie, die Ereignisse von vor dreißig Jahren so hinzustellen, als hätten wir die damals erstrittene Freiheit und Unabhängigkeit als Geschenk vom Westen erhalten, das wir im Übrigen nicht wirklich verdient hätten. Was zugleich erklärt, warum wir damit nicht umgehen können. Andere wiederum wollen das Platzen des sowjetischen Modells als eine Art historischen oder Betriebsunfall sehen, weshalb sich an der Gültigkeit der These überhaupt nichts ändere, wonach der Sozialismus als Ideologie ein anstrebenswertes Ziel bleiben müsse.

„Wir sind stolz, einen derart großartigen Sieg über eines der mächtigsten Imperien der Welt errungen zu haben. Es war kein Wunder und auch kein Geschenk, sondern vor allem und in erster Linie die erfolgreiche antikommunistische Revolution Europas, die wir zugleich für die menschliche Würde und die Freiheit fochten.“

Diese Leute stellen deshalb laufend darauf ab, die epochale Bedeutung der siegreichen antikommunistischen Revolutionen zur Befreiung von Nationen zu bagatellisieren, deren Folge eine Zäsur gewesen sei. Aus diesem Grunde sprechen sie lieber von einem „Jahr der Wunder“, davon, dass die Berliner Mauer beziehungsweise die Sowjetunion einstürzten, statt zu sagen, dass wir die Berliner Mauer niederrissen, zerschlugen und zum Einsturz brachten, wie man es eigentlich sehr gut auf authentischen Fotos und Filmmaterialien sehen kann, oder dass wir die Macht der Sowjets kippten, dass wir die Sowjet­union besiegten und aufrieben.

Deshalb schenken sie den zunehmend selbstbewussteren und sich emanzipierenden Massenbewegungen, die Ende der 80er Jahre diese Region erschütterten, keine Beachtung. Sie sind bestrebt, jene Welle antikommunistischer, die Nationen befreiender Revolutionen, die das internationalistisch-kommunistische Sowjetreich hinwegfegte, zu einem zufällig eingetretenen Unfall zu degradieren, um bloß nicht die Lehre von Marx, Engels und Lenin und das von ihnen gesteckte Endziel von der Allgemeingültigkeit des Sozialismus in Frage stellen zu müssen.

Welthistorischer Sieg über den Kommunismus soll übertüncht werden

Das kommt in der Verwendung von Deckwörtern zum Ausdruck, mit denen übertüncht werden soll, dass die in der Sklaverei sowjetischer Kolonialherren darbenden Völker einen welthistorischen Sieg über das „Reich des Bösen“ erringen konnten. Stattdessen schwafeln sie etwas von einer Wende. Dabei haben wir nicht ein System „gewendet“ oder umgestaltet, sondern den Kommunismus besiegt und uns aus der würgenden Umarmung der sowjetischen Kolonialherren befreit.

Wir wurden unabhängig und frei und nahmen die Gestaltung unseres Schicksals wieder in die eigenen Hände. Es war also keine Wende und es ereignete sich auch kein himmlisches Wunder. In Wirklichkeit zeigten der Wille und die Entschlossenheit von Millionen in eine Richtung, nämlich die Herrschaft der Kommunisten zu stürzen und die Freiheit ihrer Nationen zu erringen. Es handelte sich um jene Millionen und Abermillionen, die den Sozialismus nicht aus Büchern oder dem romantischen und prickelnd spannenden Alltag westlicher Bewegungen kannten, sondern die gezwungenermaßen darin leben mussten.

Sie konnten seine Brutalität am eigenen Leib erfahren. Sie erstickten fast an seinen Lügen. Sie wurden vom Entzug ihrer Freiheit gelähmt. Wer den Sozialismus erlebt hat, der weiß und versteht, dass sich 1989/90 eine gewaltige antikommunistische Welle von Revolutionen und nationalen Befreiungsbewegungen über die von den Sowjets besetzte Region ergoss.

Wir sind stolz, einen derart großartigen Sieg über eines der mächtigsten Imperien der Welt errungen zu haben. Es war kein Wunder und auch kein Geschenk, sondern vor allem und in erster Linie die erfolgreiche antikommunistische Revolution Europas, die wir zugleich für die menschliche Würde und die Freiheit fochten.

Das Essay entstand auf der Grundlage des Manuskripts einer Rede, die Dr. Mária Schmidt Mitte November bei einer Konferenz zum 30. Jahrestag der Selbstbefreiung Mittel- und Osteuropas gehalten hat. In der kommenden Ausgabe lesen Sie den zweiten und letzten Teil dieses Essays.

Aus dem Ungarischen von Rainer Ackermann.

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