Eine Schweigeminute in Solidarität mit den Opfern des Ungarnaufstandes veränderte das Leben von Karsten Köhler und seinen Klassenkameraden für immer. (Foto: BZT / Nóra Halász)

Hintergründe zum Film „Das schweigende Klassenzimmer“

„Der Ungarnaufstand hat mein Leben verändert“

Im Frühjahr 2018 sorgte „Das schweigende Klassenzimmer“ dafür, dass sich Medien und Kinozuschauer einmal mehr mit einer Episode des Kalten Krieges beschäftigten, die bis dato relativ unbekannt geblieben war. Nun kommt der Film über eine Abiturklasse in der DDR, die sich 1956 mit dem ungarischen Volksaufstand solidarisch zeigte, auch hierzulande in die Kinos. Wir sprachen am 25. Oktober in Budapest mit Karsten Köhler, dessen eigene Lebensgeschichte – sowie die seiner Klassenkameraden – Grundlage für den Film war.

28 Vorführungen des im Februar auf der Berlinale uraufgeführten Films „Das schweigende Klassenzimmer“ hat Karsten Köhler bereits begleitet. 28 Mal hat er in Diskussionsrunden und Publikumsgesprächen das filmisch Erlebte um seine eigenen Erinnerungen als Zeitzeuge ergänzt.

Heute ist er in Budapest, um es im Rahmen einer durch die Konrad-Adenauer-Stiftung Ungarn in Kooperation mit dem Nationalen Gedenkkomitee (NEB) organisierten Vorstellung ein 29. Mal zu tun. Wir treffen ihn gemeinsam mit seiner Frau, Sabine Wilkens-Köhler, die ihn häufig zu diesen Anlässen begleitet, in der Lobby eines Budaer Hotels am Donauufer und besprechen mit Blick auf das ungarische Parlament das Jahr, das sein Leben verändert hat: 1956.

Schweigeminute mit Folgen

In diesem Jahr hielt der Ungarnaufstand die Welt in Atem. Am 23. Oktober 1956 erhob sich die ungarische Bevölkerung gegen die kommunistische Regierung und die sowjetische Besatzungsmacht. Rund zwei Wochen lang sah es so aus, als würde sich der Wunsch nach Freiheit und Demokratie erfüllen, doch mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen nimmt der Freiheitskampf sein blutiges Ende. Berührt von den Geschehnissen, von denen sie über den westlichen Radiosender Rias erfahren, entschlossen sich zur selben Zeit im brandenburgischen Storkow, also auf dem damaligen Gebiet der DDR, die Schüler einer Abiturklasse dazu, im Unterricht eine solidarische Schweigeminute für die Freiheitskämpfer abzuhalten. Die Geste zog jedoch weitere Kreise als den Jugendlichen zunächst bewusst ist – von der Schulleitung übers Kreisschulamt bis zur Ministerebene in Berlin, wo die Abiturienten als „Konterrevolutionäre“ betrachtet werden. Da die Schüler die Rädelsführer der Protestaktion nicht aufgeben, löste man die gesamte Schulklasse auf. Ihre Schüler wurden vom Abitur in der DDR ausgeschlossen.

Karsten Köhler war Klassensprecher dieser Klasse, die daraufhin im Dezember 1956 – mit Ausnahme von vier Schülerinnen – geschlossen in den Westen floh. Die Schweigeminute für die Ungarn hat sein und das Leben seiner Mitschüler nachhaltig verändert.

Karsten Köhler besucht als Zeitzeuge regelmäßig Vorführungen des „Schweigenden Klassenzimmers“ und gibt den Zuschauern einen Einblick in die historischen Hintergründe. Seine Frau Sabine Wilkens-Köhler begleitet ihn dabei oft. (Foto: BZT / Nóra Halász)

Damit gerechnet hätten die Storkower Gymnasiasten jedoch zunächst nicht: „Wir konnten das ja gar nicht absehen, was das für Folgen haben würde“, beginnt Köhler seine Erinnerungen an den Herbst 1956. Dem heute beinahe 80-Jährigen, der aber gut zehn Jahre jünger wirkt, ist eine gewisse Routine anzumerken, wenn er in vom häufigen Wiederholen geschliffenen Sätzen die Erlebnisse von damals wiedergibt.

„Die Schweigeminute fand Ende Oktober statt, die Geschehnisse, die dann für uns dramatisch wurden im Dezember 1956. Da lagen also sechs, acht Wochen dazwischen, die völlig ruhig verliefen. Für uns hatte sich die Sache eigentlich schon erledigt. Erst als plötzlich dieses große Auto vor der Schule vorfuhr und der Minister in unserer Klasse auftauchte, wussten wir, das gibt Ärger.“

Die vielleicht auch einem gewissen jugendlichen Leichtsinn geschuldete Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat eskaliert für die Oberschüler schließlich in der Aufforderung und dem damit verbundenen Ultimatum, die Drahtzieher der Schweigeminute zu benennen. Damals sei der Zusammenhalt der Abiturklasse auf eine harte Probe gestellt worden, erinnert sich Köhler. Es habe auch Misstrauen und Zweifel gegeben. „Diese eine Woche in meinem Leben würde ich nicht mal meinen schlimmsten Feinden wünschen.“

Doch die Schüler hielten zusammen. Denn auch zu diesem Zeitpunkt habe man sich nicht vorstellen können, so Köhler, dass die Protestaktion tatsächlich dazu führen könne, dass die Obrigkeit des noch jungen DDR-Staates eine ganze Klasse schließt. „Wir haben uns gesagt, die blamieren sich bis auf die Knochen, wenn die das machen. Doch da haben wir uns getäuscht, denn in der DDR ist der Vorfall niemals öffentlich geworden“, erzählt Köhler. Heute weiß er, dass nach der Auflösung seiner Klasse und bis zur Wende kein Oberschüler mehr sein Abitur in Storkow ablegen sollte.

Vom Buch bis zur Verfilmung

Dass die Geschichte 62 Jahre später, nun doch einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, ist auch Köhlers Klassenkameraden Dietrich Garstka zu verdanken. Dieser verarbeitete die dramatischen Erlebnisse der Abiturklasse in Form eines Buches, welches er 2006 im Ullstein-Verlag unter dem Titel „Das schweigende Klassenzimmer – Eine wahre Geschichte über Mut, Zusammenhalt und den Kalten Krieg“ veröffentlichte. „Dietrich war der Fachmann für unsere Klassengeschichte, ihre Auswirkungen und Hintergründe. Er hat mehr als zweieinhalb Jahre für das Buch recherchiert. Es ist sein Lebenswerk“, so Köhler. Das Material wurde zur Grundlage für den in diesem Jahr veröffentlichte gleichnamigen Film von Lars Kraume.

Über 360.000 Zuschauer haben den Film „Das schweigende Klassenzimmer“ in Deutschland gesehen. Am 1. November kam der Streifen auch in Ungarn in die Kinos. (Foto: BZT / Nóra Halász)

Der vielfach preisgekrönte Regisseur (unter anderem 2016 für den Politthriller „Der Staat gegen Fritz Bauer“ mit dem Deutschen Filmpreis), begann im Februar 2017 mit den Dreharbeiten und gewann für die Produktion nicht nur vielversprechende Nachwuchstalente wie Leonard Scheicher und Tom Gramenz, sondern auch etablierte Gesichter des deutschen Kinos, wie Florian Lukas und Ronald Zehrfeld.

Köhler lobt die Verfilmung, die über 360.000 Zuschauer in die Kinos lockte, für ihren hohen Grad an Authentizität: „Der Film hält sich ganz nah an unserer Geschichte.“ Dafür habe auch Garstka gesorgt, der an der Erstellung des Drehbuchs beteiligt gewesen sei. Der kurz nach Veröffentlichung des Filmes, im April 2018, verstorbene Chronist der Klasse habe immer wieder Einfluss genommen: „Erst der achte Entwurf des Drehbuches wurde verfilmt. Das war bestimmt nicht immer einfach für Kraume, ich kenne ja meinen Klassenkameraden“, scherzt Köhler leicht schwermütig.

Er räumt jedoch auch ein, dass der Film an einigen Stellen von den historischen Begebenheiten abweicht: „Es ist ja schließlich ein Spielfilm und keine Dokumentation. Die gibt es übrigens bereits aus dem Jahr 2006 vom RBB.“ So spielt die Handlung im Film beispielsweise nicht in Storkow, sondern in Eisenhüttenstadt, damals Stalinstadt, da sich dort leichter authentische Drehorte finden ließen. Auch die Figuren im Film, allen voran die Schüler Theo, Kurt und Lena – in denen Kraume die zentralen Konflikte des Films austrägt –, entsprechen nicht eindeutig dem einen oder anderen der Klassenkameraden. Trotzdem erkenne Köhler Aussagen und Reaktionen im Film wieder, die mal mehr auf ihn, mal mehr auf Garstka zugeschnitten seien.

Der im Film gezeigte nonkonforme Onkel Edgar, gespielt von DDR-Schauspiellegende Michael Gwisdek, der den verschworenen Jugendlichen eine Art Hauptquartier bietet und am Ende des Filmes dafür von der Staatssicherheit abgeholt wird, sei wiederum eine reine Kunstfigur. „Allerdings ist der für meine Begriffe eine tragende Rolle. Der macht für den Film wichtige Kernaussagen, erklärt den Schülern zum Beispiel, wo sie Grenzen überschritten haben und warum sie ihre Handlungen in einem autoritären System zu ‚Klassenfeinden’ machen. Das ist für das Verständnis der damaligen Zustände wichtig“, erklärt Köhler.

„Nach der Ausreise fingen die Probleme erst richtig an“

Kraumes Film endet mit der Ausreise der Jugendlichen nach Westberlin. Wie es für die Republikflüchtlinge weiterging, wird in „Das schweigende Klassenzimmer“ nicht verraten. „Dabei fingen ab da die Probleme für uns erst richtig an“, erinnert sich Köhler, der wenige Tage vor Weihnachten 1956 seine Familie verließ und – um nicht aufzufallen – nichts weiter als eine Aktentasche unter dem Arm mit sich nehmen konnte. „Wir waren 17 und 18 Jahre alt, hatten keinen Pfennig in der Tasche und keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Die meisten hatten bis dahin noch daheim gelebt“, schildert der Zeitzeuge.

„Wir waren keine Helden, wir waren einfach nur von der Schule geflogen“, sagt Karsten Köhler 62Jahre nach der Protestaktion, die ihn im Arbeiter und Bauernstaat zum ‚Klassenfeind‘ machte. (Foto: BZT / Nóra Halász)

Natürlich habe die jungen Leute besonders die Trennung von Eltern und Geschwistern geschmerzt, zumal man nicht wissen konnte, wann man sie das nächste Mal sehen würde, aber auch die Angst vor Repressalien, die den Zurückgebliebenen in der DDR drohen würden. Allerdings habe sich die Stasi letztendlich sehr zurückhaltend verhalten, befindet Karsten Köhler rückblickend. „Klar, alle haben danach versucht, möglichst unauffällig zu bleiben und sich bloß nicht politisch zu äußern. Trotzdem wundert es mich bis heute, wie wenig unsere Familien – bis auf Ausnahmen – drangsaliert wurden. Wahrscheinlich wollte man einfach nicht unnötig Staub aufwirbeln. Unser Fall sollte ja bloß nicht bekannt werden, sonst hätte man einige unangenehme Fragen beantworten müssen“, erklärt er. Einzig der Bürgermeister habe sich einmal öffentlich zu den in den Westen geflohenen Schülern geäußert: „Der meinte: ‚Bis Ostern sind die alle wieder da!‘ Nur das Jahr hat er nicht dazugesagt“, scherzt Köhler.

Einige Konsequenzen habe es dann aber doch gegeben: So sei etwa der Schuldirektor der Storkower Oberschule noch vor Weihnachten 1956 seines Postens enthoben worden. „Der hat danach über Jahrzehnte nur noch eine untergeordnete Funktion innegehabt“, erzählt Köhler.

Während die Ereignisse in der DDR jedoch relativ klein gehalten wurden, sei die Ankunft der geflüchteten Abiturienten in der BRD jedoch von der Presse mit Interesse aufgenommen worden – „die Bild-Zeitung“, erzählt Köhler, „titelte damals: ‚Schicksal einer Klasse: 15 flüchten’“ Aber Ende 1956, keine fünf Jahre vor der Errichtung der innerdeutschen Mauer, verließen Zehntausende Menschen jeden Monat die DDR. Da drohte das Schicksal der Schüler trotz allem in der Masse unterzugehen: „Was sind 15 gegenüber 10.000“, bemerkt Köhler. „Wir wussten, wenn wir Abitur machen wollen, müssen wir als Klasse zusammenbleiben.“

Damals hätten der Gruppe zwei Glücksfälle zum Vorteil gereicht: „Zum einen wurden wir in Westberlin auch von Geheimdienstlern verhört, Storkow war ja eine Garnisionsstadt. Der amerikanische Offizier, der mit uns sprach, war ein ausgewanderter Jude und sprach Deutsch. Er versprach, uns zu helfen. Zum anderen wurden wir zum Schulsenator von Berlin geladen, der in der Zeitung von uns gelesen hatte. Ihm haben wir gesagt, wir wollen als Klasse zusammenbleiben – und wir wollen raus aus Berlin. Denn damals war die Grenze ja noch offen und es wurden fortlaufend Leute gekidnappt und in die russische Zone entführt. Wir wollten natürlich vermeiden, dass die einen oder zwei von uns schnappen, um dann den Rest von uns zu erpressen. Schon wenige Tage später sind wir ausgeflogen worden und kamen nach Bensheim an der Bergstraße“, so Köhler. In der südhessischen Stadt zwischen Darmstadt und Heidelberg machten die Gymnasiasten 15 Monate später ihr Abitur. Auch wenn die verschworene Truppe sich danach in alle Winde verstreute, sei man bis heute im engen Kontakt miteinander und komme regelmäßig zu Klassentreffen zusammen, erzählt Köhler.

„Ich würde es wieder tun“

Er selbst, erzählt er, habe nach dem Abitur beim westdeutschen Pharmakonzern Merck in Darmstadt Karriere gemacht. Nach der Wende baute er für das Unternehmen den Außendienst im Osten auf und zog mit seiner Familie zurück nach Brandenburg. „Ich wollte einfach nach Hause“, bemerkt Köhler. Nach seiner Flucht dauerte es Jahrzehnte bevor Köhler überhaupt erneut seine alte Heimat zu Gesicht bekam. „Mitte der 70er gab es eine Amnestie für Republikflüchtlinge und 1978 bin ich dann das erste Mal wieder in die DDR gefahren“, erinnert sich Köhler. Während er seine Großmutter offiziell habe besuchen dürfen, konnten er und sein Onkel, der bei der staatlichen Forstwirtschaft arbeitete, sich nur im Geheimen treffen. „Wir haben deshalb damals ein Treffen im Wald arrangiert“, erzählt Köhler.

Foto: BZT / Nóra Halász

Doch trotz aller ausgestandenen Unbill habe er es niemals bereut, an der Schweigeminute teilgenommen zu haben: „Ich würde es wieder tun. Und ich glaube, das gilt auch für die Mehrzahl meiner Klassenkameraden. Im Gespräch mit zwei Klassenkameradinnen, die im Osten geblieben waren, sind wir außerdem zu dem Schluss gekommen, dass uns, also denjenigen, die in den Westen gegangen sind, nichts Besseres hätte passieren können.“

Auf die Frage, ob die Schüler von damals Helden gewesen seien, wiegelt Köhler ab. „Natürlich wurden wir von der Presse öfters so dargestellt, als seien wir besondere Menschen – dabei waren wir einfach nur von der Schule geflogen.“ Trotzdem ist er froh, dass er in seiner Rolle als Zeitzeuge einer letztendlich doch bemerkenswerten Episode der deutsch-deutschen und im erweiterten Sinne auch der ungarisch-deutschen Geschichte einen kleinen Beitrag zur Pflege des kollektiven Gedächtnisses leisten kann.

In diesem Zusammenhang mahnt Köhler, der sich bis heute einen kritischen Blick auf das Weltgeschehen bewahrt hat, allerdings auch die deutsche Politik an. Diese lege seiner Meinung nach im Bereich der Bildung viel zu wenig Wert auf die jüngere Geschichte: „Es kann nicht sein, dass in manchen Bundesländern der Geschichtsunterricht mit dem Zweiten Weltkrieg endet.“

Den Ungarn fühlt sich Karsten Köhler bis heute in besonderer Weise verbunden. „Der Ungarnaufstand hat mein Leben verändert. Natürlich haben wir die Geschehnisse in diesem Land danach über Jahrzehnte hinweg verfolgt, vielleicht nicht im Detail, aber immer so, dass wir in etwa wussten, was hier passiert“, erklärt er.

Doch obwohl Ungarn in seiner Lebensgeschichte so eine herausragende Rolle spielte, ist es jetzt das erste Mal, dass Karsten Köhler Budapest besucht. Die Stadt gefalle ihm sehr gut, auch wenn er nicht viel habe sehen können, denn zwischen Presseterminen, der Kinovorstellung mit anschließender Diskussionsrunde und einem Essen mit Vertretern verschiedener ungarischer, deutscher und österreichischer Zivilorganisationen bleibt für Sightseeing nicht viel Zeit.

Seit dem 1. November läuft „Das schweigende Klassenzimmer“ auch in ungarischen Kinos. In Budapest ist der Streifen in Originalsprache und mit ungarischen Untertiteln unter anderem im Kino Cafe mozi, Művész mozi, Premier Kultcafé, dem Uránia Nemzeti Filmszínház und dem Puskin mozi zu sehen.

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