Ryszard Legutko über die Gefahren des Neomarxismus
„Das System muss durchschaut werden!“
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“, schrieb Karl Marx 1848 in seinem Kommunistischen Manifest. Heute scheint dieses Gespenst tausende von Masken zu tragen, das ursprüngliche Phänomen jedoch ist nicht so einfach zu erkennen. In diesem Fall kann, wie Gábor Tallai, Programmdirektor des Terrorhaus-Museums, bei der Veranstaltung im Burggarten-Basar sagte, nur Bildung weiter helfen. Durch sie kann das den unterschiedlichen Erscheinungen zugrunde liegende gemeinsame Wesen erkannt werden.
Ryszard Legutko verwies in diesem Zusammenhang auf Elemente eines neuen Despotismus, die nicht zuletzt auf der Ebene der EU zusehends an gewisse Praktiken aus den Tagen der Sowjetunion erinnern. Es breite sich eine Atmosphäre der permanenten Selbstzensur aus, die – langsam, aber sicher – die geistige Freiheit ersticken könnte. Dagegen helfe nur Wachsamkeit, Aufklärung und eine deutliche Erkenntnis der neomarxistischen Bedrohung.
Ungarn und Polen stehen Seite an Seite
Als geistiger Schirmherr schwebte der große ungarische Philosoph, Romancier und liberale Staatsmann József Eötvös (1813-1871), der sich sein Leben lang für politische und individuelle Freiheit einsetzte, über der Veranstaltung. Eötvös ging, wie Programmdirektor Tallai betonte, davon aus, dass Freiheit nur durch Bildung wirklich gewährleistet werden könne.
Im Anschluss an einen kurzen Dokumentarfilm über das Leben und Wirken von József Eötvös, des „ungarischen Tocqueville“, ergriff Kanzleramtsminister Gulyás das Wort. Er würdigte Ryszard Legutko und betonte, dass dieser im Europaparlament konservative und christdemokratische Werte verteidige, während viele andere – „in politischer Korrektheit ertränkt“ – nichts mehr zu sagen wagten. Legutko, der im Kommunismus gelebt habe, wisse ganz genau, was die Freiheit wert sei. „Er hat immer an den Rechtsstaat, die Demokratie und die Freiheit geglaubt“, so Gulyás. Es müsse ihn also niemand belehren.
In diesem Zusammenhang verwies der ungarische Minister auf die ungarisch-polnische Freundschaft. Polen sei immer ein Verbündeter Ungarns gewesen. „Wir konnten uns schon immer aufeinander verlassen“, erinnerte Gulyás. Man sei sehr stolz darauf, dass „Ungarn und Polen vor 30 Jahren gemeinsam die Freiheit erobert haben“. Auch heute müssten die beiden Länder wieder zusammen stehen und Europa „vor denjenigen beschützen“, die es aus machtpolitischen und finanziellen Interessen verändern wollten. „Europa kann nur dann fortbestehen, wenn die nationale und kulturelle Vielfalt erhalten bleibt und die EU nicht zu den Vereinigten Staaten von Europa wird“, warnte Gulyás.
Quer durch die westliche Zivilisation
In seinem berühmten Buch „Kampf der Kulturen“ schrieb Samuel P. Huntington Ende der 90er Jahre, dass die ausschlaggebende Teilung der Welt jene zwischen „dem Westen und dem Rest“ sei. Heute jedoch, so der polnische Philosoph Legutko, gebe es „neue Bruchlinien“, die quer durch die eigene, westliche Zivilisation hindurch verliefen. Diese Bruchlinien sind nicht zuletzt weltanschaulicher Natur.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hätten sich die Kommunisten in Mitteleuropa zwar dem Mainstream angeschlossen und seien begeisterte Europabefürworter geworden. Bei dieser Gelegenheit aber „hat sich der Mainstream insgesamt nach links bewegt“, so Legutko. So werde beispielsweise die polnische christdemokratische PiS-Partei von der Europäischen Union herablassend behandelt, weil sie in Widerspruch zum politischen Mainstream stehe.
Legutko berichtete, wie er in seiner Funktion als EU-Abgeordneter darauf hingewiesen habe, „dass der Kommunismus sogar noch mörderischer gewesen sei als der Nationalsozialismus“. Damit habe er einen Sturm der Entrüstung im Parlament ausgelöst. „Der Kommunismus hat doch auch seine guten Seiten gehabt!“, so die Proteste vieler EU-Abgeordneter.
Kommunisten als Befürworter der EU
„Es scheint, als sei die kommunistische Bedrohung aus der Welt verschwunden“, erläuterte Legutko. Es gebe sehr viele Institutionen, die sich der „Bekämpfung des Faschismus“, aber nicht allzu viele, die sich dem „Kampf gegen den Kommunismus“ widmen würden. Dabei habe „Faschismus“ als Begriff seine ursprüngliche Bedeutung weitgehend verloren und werde heutzutage eher recht wahllos als Kampfmittel gegen politische Gegner genutzt.
„Und der Kommunismus?“, fragte der polnische Philosoph. „Wir haben keinen Fünfjahrplan mehr, kein Politbüro und keine Sowjetunion.“ Auch die Kommunistischen Parteien hätten kaum noch eine Bedeutung – und doch sei es nicht so rosig, wie es scheinen mag.
Die Kommunisten seien heute Befürworter der EU und führten als solche „ihren alten Kampf gegen die Unterdrücker fort“, so Legutko. Unter anderem nannte er die deutsche Politikerin Gabriele Zimmer, die von 2000 bis 2003 Bundesvorsitzende der PDS und von 2004 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlamentes war.
Ein weiteres prominentes Beispiel sei der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker, der „wahrscheinlich Karl Marx nie richtig gelesen hat“, aber dennoch sage, „was von ihm erwartet werde“ – beispielsweise als er zum 200. Geburtstag von Karl Marx eine von der Volksrepublik China gestiftete, fast sechs Meter hohe Statue des geistigen Vaters des Kommunismus in Trier einweihte. „Man muss Karl Marx aus seiner Zeit heraus verstehen“, hatte Juncker in Trier gesagt. „Dass einige seiner späteren Jünger die Werte, die er formuliert hat, und die Worte, die er zur Beschreibung dieser Werte gefunden hat, als Waffe gegen andere einsetzten, dafür kann man Karl Marx nicht verantwortlich machen“, meinte Juncker.
Gedankenverbrechen
„Obwohl sich das kommunistische Erbe verändert hat, kann man es doch immer noch gut erkennen“, erläuterte der polnische Philosoph. In diesem Zusammenhang sprach er von zwei exemplarischen Funktionen der kommunistischen Ideologie, von der die eine darin bestand, „Feinde zu identifizieren“. Bekanntlich setzte der Kommunismus einen der Geschichte inhärenten Klassenkampf voraus, der seit der Oktoberrevolution unmittelbar dazu führte, dass sich niemand mehr sicher fühlen konnte.
Auch wenn in alltägliche Praxis nach Stalins Tod weniger brutal war, blieb doch die allgemein einschüchternde Atmosphäre der Angst und des Misstrauens bis zum Ende der Diktatur bestehen. „Man musste ständig aufpassen, was man sagt“, so Legutko, der nun auf das Phänomen der Gedankenverbrechen zu sprechen kam. Dabei handelt es sich um die Vorstellung, dass der bloße „ideologisch inkorrekte“ Gedanke zu einer Straftat erklärt werden kann.
Auch heute, da der Neomarxismus einen starken Einfluss auf die öffentliche Meinung ausübe, müsse man wieder gehörig aufpassen, was man öffentlich äußere, erklärte Legutko. Tatsächlich ist die Zahl der möglichen Gedankenverbrechen heute um einiges größer, als zurzeit der sowjetischen Schreckensherrschaft.
Als Beispiel nannte er den Klimawandel und seine Ursachen, über die es praktisch keine öffentliche Debatte mehr gebe. Bezogen auf den sogenannten Green Deal der Europäischen Union stelle Legutko fest: „Die Akzeptanz des neuen Green Deals ist eine religiöse Vorschrift geworden.“ Beim Klimaschutzprogramm der EU würden die europäischen Institutionen „Andersdenkende nicht mehr tolerieren“. Man betrachte sie im ideologischen Sinne vielmehr als „Sünder“. Der religiöse Charakter solcher Vorschriften und die aus einer Missachtung oder Kritik resultierenden Repressalien und Verurteilungen erinnern zusehends an vergangene Zeiten. „Das ist wie unter dem Kommunismus“, erklärte Legutko eindringlich.
Auf Grund dieser Vergehen sei man geistig ständig mit den persönlichen Konsequenzen bei einer möglichen Übertretung beschäftigt, was zu einer ununterbrochenen Selbstzensur führe, erklärte Legutko. In einer „ideologisch gefährlichen Welt“ würden sich deshalb viele lieber auf die Seite der Angreifer schlagen, als selbst zu Opfern zu werden.
Ein weiteres „Gedankenverbrechen“ drehe sich um die Definition der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau. Wer die Ehe solchermaßen definiere, mache sich ebenfalls schuldig. Dementsprechend gefährlich sei die Tatsache, dass sich die Ungarn erlaubt hätten, eine solche Definition auch noch in die Verfassung des Landes zu schreiben. Artikel L der ungarischen Verfassung schreibt den Schutz der Ehe und der Familie als Staatsziel fest und definiert die Ehe als Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau. Gleichgeschlechtliche Ehen sind damit ausgeschlossen – nach modernen Maßstäben ein Sakrileg.
Legutko las eine beeindruckende Liste heutiger Gedankenverbrechen vor, die den Zuhörern einzeln sicher wohl vertraut sind, doch in dieser Zusammenstellung eine gewisse Belustigung im Publikum hervorriefen. Es handle sich um „Misogynie, Sexismus, Rassismus, Homophobie, Transphobie, Islamophobie, Eurozentrismus, Phallozentrismus, Logozentrismus, Altersdiskriminierung, Populismus, Antisemitismus, Nationalismus, Xenophobie, Hassrede, Euroskeptizismus und viele, viele andere.“
Neomarxismus, Liberalismus und der gemeinsame Feind
Legutko geht davon aus, dass der Neomarxismus heute einen Verbündeten im Liberalismus gefunden habe. Viele Liberale würden inzwischen auf die Marxisten zugehen. Potenziell drohende Sanktionen führten zu einem perversen Mechanismus der permanenten Selbsterniedrigung. „Ständig hat irgendjemand etwas Verurteilungswürdiges gesagt, wofür er sich anschließend entschuldigen muss“, stellt Legutko fest. Und während im Kommunismus Dissidenten auch gerne in Psychiatrien eingewiesen wurden, so herrschten nun „etwas weniger brutale Methoden“ vor. So gebe es beispielsweise in Firmen eine entsprechende Beratung, die den jeweiligen Personen zur Seite stehen würde, damit sie ihr Verhalten im Sinne der Politischen Korrektheit korrigieren könnten.
„Wie kann es sein, dass dies alles in liberalen Gesellschaften toleriert wird?“, fragte Legutko und verwies darauf, dass auch der Liberalismus historisch gesehen durchaus Sinn für den „Begriff des Feindes“ habe: auch liberale Denker wie John Locke, John Stuart Mill oder Karl Popper würden in Kategorien des „wir gegen den Rest“ denken, was den Liberalismus für Maßnahmen des Social Engineerings empfänglich machen würde – also eine Praxis der politischen und gesellschaftlichen Steuerung und Beeinflussung von Gesellschaften mittels der Kommunikation mit dem Ziel, bei Personen bestimmte Verhaltensweisen hervorzurufen.
Dies komme nun besonders zum Tragen, da Neomarxisten und Liberale „einen gemeinsamen Feind ausgemacht hätten: die Konservativen“. Das zeige sich auch daran, dass die maßgebliche Waffe im Kampf des Liberalismus – die Idee der Menschenrechte – nun zu einem Instrument des Neomarxismus geworden sei.
Teleologisches Denken
Legutko ging nun auf die zweite Analogie ein, die es auf ideologischer Ebene zwischen der Sowjetunion und der Europäischen Union gebe. Dabei gehe es um die Rolle der Utopie. Im traditionellen Marxismus steuere die gesamte Menschheit auf einen objektiven Zielpunkt der geschichtlichen Entwicklung zu: auf eine sich über den gesamten Globus erstreckende kommunistische Gesellschaft, in der alle Menschen ausnahmslos der gemeinsamen Glückseligkeit teilhaftig werden können. „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, heißt es bei Marx und Engels.
Dieses teleologische Denken, dass sich also die Menschheit auf ein bestimmtes Ziel hin zubewegt, finden wir auch wieder bei dem Philosophen Francis Fukuyama, demzufolge es – nach dem Ende des Kommunismus – keine denkbare Alternative mehr zum Liberalismus gebe, erklärte Legutko.
Auch im Falle der EU würden wir auf ein solches teleologisches Denken stoßen – und zwar schon seit ihrer Gründung. Von Anfang an wird die Finalität eines immer weiteren Integrationsprozesses verfolgt, der in einer unbestimmten Zukunft kulminieren werde. Dabei werde wie im Falle des Brexit die „empirische Evidenz einfach negiert.“ Anstatt sich der Realität zu stellen und gewisse Fehlentwicklungen zu korrigieren, setzte man wie Angela Merkel oder Jean-Claude Juncker im Gegenteil darauf, einen weiteren, großen Schritt in Richtung der Vereinigten Staaten von Europa zu vollziehen.
„Innerhalb der EU gibt es ähnlich wie in der Sowjetunion praktisch keine relevante Opposition“, betonte Legutko. Es gebe dort kaum noch einen echten Unterschied zwischen Sozialisten, Christdemokraten und vermeintlichen Konservativen. „Europa hat sich nach links bewegt“, wenn es um die Politik des Mainstreams gehe. Wer nicht dazu gehöre, dem werde die Legitimität einfach abgesprochen. Legutko bedauerte zutiefst, dass man Entscheidungen kaum blockieren könne, wenn Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen. Somit werde die EU praktisch von einem Ein-Parteien-System beherrscht. „Wahrscheinlich ist die Europäische Union die einzige Institution, in der Wahlen keinerlei Einfluss haben“, stellte der polnische Philosoph fest.
Die psychologischen Wurzeln sind noch immer da
Abschließend erklärte Ryszard Legutko, dass zu den alten Bruchlinien innerhalb Europas neue dazugekommen seien. Eine große Rolle spiele dabei der Neomarxismus, der einen immer größer werdenden Einfluss auf Millionen von Bürgern ausübe. „Der Kommunismus beruht auf psychologischen Mechanismen, die immer noch da sind“, meinte Legutko. „Die Wurzeln sind immer noch da.“ Wer Karl Marx kritisiere, zeige nur, dass er nicht zum heutigen Europa gehöre. So seien wir Zeugen der „allmählichen Entstehung eines neuen sanften Despotismus“.
Was ihm Hoffnung mache? Dass immer mehr Leute mitbekommen, dass diese schöne neue Welt, die sich vor unseren Augen zeigt, „völlig inakzeptabel ist“. „Sobald eine kritische Masse an Menschen erreicht ist, die das System durchschauen, wird das System in die Defensive geraten. Je früher, desto besser.“