Rezension: Gefahrenzone von Mária Schmidt
Aufstieg und Untergang des sowjetischen Terrorregimes
„Europas westliche Hälfte blickt seit Jahrhunderten mit verachtungsvoller Herablassung auf die hier lebenden Völker herab“, schreibt die ungarische Historikerin und einflussreiche Leiterin des Terrorhaus-Museums Mária Schmidt in ihrem Buch „Gefahrenzone“. Tatsächlich scheint im sogenannten Westen das Desinteresse an der anderen, wiedergewonnenen Hälfte Europas, an den Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen der Menschen, die hinter dem Eisernen Vorhang leben mussten, ein typisches Phänomen zu sein.
Desinteresse des Westens
Das fehlende Interesse ist ein großer Verlust für das kollektive Gedächtnis Westeuropas; gerade in den jetzigen Zeiten könnte der Blick nach Mittel- und Osteuropa dem Westen bei der dringend anstehenden Selbstreflexion helfen. Wie Alexander Solschenizyn bereits 1978 in seiner berühmten Rede an der US-Universität Harvard in Bezug auf die unter dem Kommunismus leidenden Menschen in der Sowjetunion sagte: „Durch tiefes Leid haben die Menschen in unserem eigenen Land nun eine spirituelle Entwicklung von solcher Intensität erreicht, dass das westliche System in seinem gegenwärtigen Zustand der geistigen Erschöpfung nicht attraktiv aussieht.“ Mit Solschenizyn könnte man also davon ausgehen, dass der Mangel an Interesse auf Gegenseitigkeit beruht. Wie aber sollte man sich ohne ein solches Interesse, aus dem Verständnis erst erwachsen kann, füreinander öffnen?
Aus der Gewissheit heraus, dass Europa – auf einer geistig-kulturellen Ebene – von jeher eine faktische Einheit bildet, und im Bewusstsein, dass es in Europa in erster Linie auf die Völker, auf die Menschen und ihre Kulturen ankommt, werden wir uns etwas eingehender mit den Gedanken der Historikerin auseinandersetzen. Ihre Einsichten sind nicht nur deshalb von besonderem Interesse, weil sie als Vertraute und „Vordenkerin“ des ungarischen Premierministers Viktor Orbán gilt, sondern auch, weil sie die kommunistische Terrorherrschaft am eigenen Leibe erfahren hat und somit höchstpersönlich weiß, was es bedeutet, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen.
Folterungen und Hinrichtungen gehörten dabei ebenso zum Alltag, wie unter dem Nationalsozialismus
Ausgehend von persönlichen Erfahrungen mit der kommunistischen Diktatur beschreibt Mária Schmidt in ihrem 2017 auch auf Deutsch erschienenen Buch den Kampf Mitteleuropas für Freiheit und Unabhängigkeit. Sie schreibt, dass ein Großteil der Ungarn, nachdem sie die 133 Tage währende Räterepublik, das heißt die „Schreckensherrschaft des Béla Kun“ erlebt hatten, bereits sehr früh gegenüber der „verführerischen Kraft des Kommunismus“ immun gewesen sei. Nur jene, die durch die „freiwillig angenommene ideologische Blindheit geschlagen waren“, konnten nicht wahrnehmen, wie unmenschlich der Kommunismus von Anfang an war.
Auch am Ende des Zweiten Weltkrieges hätte sich eigentlich jeder von der „Menschenfeindlichkeit der kommunistischen Ideologie“ überzeugen können, als „etwa siebenhundert Tausend ungarische Staatsbürger“ zur Sklavenarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurden. Folterungen und Hinrichtungen gehörten dabei ebenso zum Alltag, wie unter dem Nationalsozialismus. „Die in den Zwangsarbeitslagern offiziell festgehaltenen 4.126.964 Gefangenen mit fremder Staatsbürgerschaft kamen aus 23 Nationen“, schreibt die Historikern. „Ihr überwiegender Anteil waren Deutsche, Japaner und Ungarn.“
Über das Schicksal all dieser Menschen durfte niemand sprechen. Schnell wäre man selbst wegen „antisowjetischer Hetze“ verhaftet worden. Außerdem passte die Leidensgeschichte der Verschleppten nicht „in das offizielle Geschichtsbild des sozialistischen Systems.“
Doch auch heute werde der verbrecherische Charakter des Kommunismus zum Teil noch immer geleugnet. „Anstatt der Vergangenheit ins Auge zu blicken, wollen uns die einstigen Täter semantische Diskussionen darüber aufzwingen, ob der ‚real existierende Sozialismus‘ mit dem von ihnen vorgestellten übereinstimmte, sie reden von Modernisierung und darüber, dass die Idee gut war“, beklagt die Leiterin des Terrorhauses. Die einstigen Täter seien ebenso wie die heutigen Anhänger der kommunistischen Ideologie nicht fähig zu erkennen, „dass der Kommunismus ein Produkt mit DNS-Fehler, das heißt lebensunfähig ist.“
Totalitarismus – von Lenin bis Gorbatschow
„Die von Stalin gesteuerte totalitäre Diktatur wollte den selbstständigen, denkenden und verantwortlichen Menschen vernichten“, schreibt die Historikerin. Das kommunistische System, dessen Institutionen, die Prinzipien der Machtausübung, auch dessen Absichten, vor allem die durch und durch inhumanen Züge, seien – von Lenin bis Gorbatschow – stets erhalten geblieben. Daran änderte auch die Rede von Nikita Chruschtschow vom 25. Februar 1956 nichts, in der er den menschenfeindlichen Stalinismus zu einer Art Entgleisung, zu einer Abkehr vom „Leninschen Weg“ erklärte – als ob „Stalin nicht der beste Schüler Lenins gewesen wäre und nicht genau das verwirklicht hätte, was sein Meister begonnen hatte.“
Jedenfalls folgte dem Tod Stalins bereits eine Führungskrise, die zu einer inneren als auch äußeren Verunsicherung geführt habe. Mit jedem weiteren Aufstand in „Osteuropa“ wurde die Autorität der Sowjets weiter untergraben – von Ostdeutschland über Ungarn und Polen bis zum Prager Frühling.
Das DDR-Regime wurde das erste Mal bereits 1953 „an den Rand des Zusammenbruchs gebracht“. Während überall Panzer der Roten Armee durch die Städte rollten und den Aufstand niederschlugen, habe die öffentliche Meinung des Westens beinahe überhaupt nicht reagiert. Mária Schmidt erklärt, dass es damals ganz allgemein für den Westen und für die sozialdemokratischen Politiker der Bundesrepublik im Besonderen am wichtigsten gewesen sei, den „ostdeutschen Genossen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten“.
„Die politische Linke war weder in Deutschland noch anderswo in der Lage, sich vollkommen vom Marxismus zu trennen, demzufolge gegen den Staat des Volkes, gegen die sozialistische Revolution beziehungsweise gegen die Diktatur des Proletariats keine Revolution ausbrechen könne – höchstens eine „durch die Imperialisten geschürte Konterrevolution“, schreibt sie. Dabei habe es sich schon 1953 in Ostdeutschland um eine authentisch antikommunistische, die deutsche Einheit fordernde Volksbewegung von elementarer Kraft gehandelt, auf die man stolz sein sollte.
Die Völker Mitteleuropas ergreifen die Initiative
In der Zeit des Kalten Krieges strebte keine der Supermächte danach, das Gesellschaftssystem des anderen zu stürzen. Das änderte sich in den Achtziger Jahren, als die USA, „den Sieg über die Sowjetunion auf ihre Tagesordnung setzte, „was sie bis zum Ende des Jahrzehnts auch mit Erfolg verwirklicht hatte“. Als Gorbatschow die Führung übernahm, so Mária Schmidt, „hatte der Spielraum der Sowjets auf das Minimalste abgenommen.“
Gorbatschow hoffte, das kommunistische System reformieren zu können. Offensichtlich wusste er nicht, „dass es nur vom Terror und dem Trägheitsmoment zusammengehalten wurde und in Folge der kleinsten Veränderung in sich zusammenstürzen würde“.
Als offensichtlich wurde, dass Gorbatschow die Zukunft nicht mehr würde bestimmen können, als kaum noch jemand in der Sowjetunion glaubte, „Verwalter der historischen Notwendigkeit“ zu sein, nahmen die Polen, Ungarn, Rumänen, Bulgaren, Tschechen und Slowaken sowie die baltischen Völker ihr Schicksal wieder in die eigene Hand. „Wir haben uns unsere nationale Unabhängigkeit und die Freiheit erkämpft“, schreibt die Historikerin. Und auch die Völker der Sowjetunion waren des Sowjetreiches müde geworden. „Auch sie wählten die Freiheit und die nationale Unabhängigkeit.“
Kampf für Demokratie, Freiheit und nationale Unabhängigkeit
„Nie habe ich einen derartigen Sturm erlebt wie an jenem Nachmittag auf dem Kossuth-Platz, als wir am 11. Juli 1989 auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten, George Bush, warteten“, erinnert sich Mária Schmidt. „Ihm gegenüber stand auf dem sturmgepeitschten Transparent des Bunds Junger Demokraten in englischer und ungarischer Sprache: ‚Befreie uns von Jalta!‘ “ Der Countdown für den Untergang des Einparteienstaates hatte begonnen.
Als die Ungarn den Eisernen Vorhang öffneten und die sich nach Freiheit sehnenden Ostdeutschen durch ihn hindurchließen, begann das Kartenhaus in sich zusammenzufallen. Deutschland und Europa würden sich endlich wiedervereinigen können.
Schon Václav Havel musste jedoch feststellen, dass „der Westen mit dem Zusammenbruch des Kommunismus nichts anfangen konnte“. Die linke politische und Medienelite des Westens sei „vollkommen überrascht gewesen“, schreibt auch Mária Schmidt und fügt hinzu: „Wir haben sie sehr enttäuscht, indem wir das Projekt der Gesellschaftsumwandlung beendeten, das für sie die Zukunft hätte herausexperimentieren müssen.“ Auch damit habe man den seit Jahren „tagtäglich einströmenden Hass der deutschen Presse und der Intellektuellen ausgelöst.“
Die unaustauschbare Geschichte
„All das haben wir erst gestern erlebt“, schreibt Mária Schmidt. „So ist es verständlich, dass es noch andauert und eine lange Zeit dauern wird, bis wir über das Trauma hinweggekommen sind, das es verursacht hat. Denn solange sich diese Wunde unserer Vergangenheit nicht schließt, hat sie Macht über uns.“
Was die Opfer des Kommunismus angeht, so Schmidt, würden „die einstigen und heutigen Kommunisten sowie ihre Gesinnungsgenossen und ihre Verbündeten im In- und Ausland, im Osten und Westen seit Jahrzehnten danach streben, dass die Opfer des Kommunismus nicht einmal eine moralische Wiedergutmachung erhalten“. In diesem Sinne leugneten sie „auf jede erdenkliche Weise den verbrecherischen Charakter des Kommunismus“. Die Verantwortung für „die umgebrachten Millionen, die zerstörten Leben, die zerstörten Schicksale“ haben sie „niemals übernommen und übernehmen sie auch jetzt nicht“.
In diesem Zusammenhang schrieb erst kürzlich der Historiker Hubertus Knabe über die Partei die Linke: „Die Linke gilt in Deutschland vielfach als demokratische Partei. Dabei stößt man in ihren Reihen auf viel undemokratisches Gedankengut. Nachdem auf einer Strategiekonferenz davon die Rede war, ein Prozent der Reichen zu erschießen, hat kürzlich ein Kreisverband nachgelegt. In einem Tweet pries er einen Massenmörder als Kämpfer für die Demokratie.“ Mit dem „Massenmörder“ war Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin, gemeint, der am 22. April 150 Jahre alt geworden wäre. Der Fall macht deutlich, „dass viele Mitglieder der Partei bis heute mit menschenverachtenden Diktaturen sympathisieren.“
Demgegenüber ist Mária Schmidt der Überzeugung, dass „wir unsere Pflicht nicht erfüllen würden, solange wir „unsere Verluste nicht zu erfassen versuchen“. Dabei spricht sie als Ungarin nicht nur über die ungarischen Opfer, sondern über alle, die Opfer des Kommunismus und seiner durchgängig menschenverachtenden Regimes geworden sind.
Nationen und Völker als Kultur- und Geistesgemeinschaften
„Die Bestrebung der Ungarn zur Bewahrung ihrer Identität“, schreibt Mária Schmidt im Kapitel „Die unaustauschbare Geschichte“, sei vor allem die Äußerung eines „gesunden Nationalbewusstseins“. Dies sei es, „was das ungarische Volk seit nunmehr über mehr als tausend Jahren aufrecht erhält“, so Schmidt.
Angemessen würdigen wird man eine solche Äußerung eines „gesunden Nationalbewusstseins“, wenn man begreift, dass Nationen keine Blutsgemeinschaften sind, sondern Geistes- und Kulturgemeinschaften. Jeder, der also Ehrfurcht vor dem Geist empfindet, wird auch eine solche Ehrfurcht vor dem nationalen Gedanken in seiner kulturellen Dimension empfinden und sich dafür einsetzen, dass nicht nur die verschiedenen Minderheiten und ihre jeweiligen Kulturen geschützt und respektiert werden, sondern auch die Nationen bewahrt und gepflegt werden.
Die kulturelle Vielfalt in Europa ist zunächst die Frage nach der Vielfalt des geistig-kulturellen Lebens, das sich historisch in seinen unterschiedlichen Völkern und Nationen entwickelt hat – Völker und Nationen, die einander ergänzen und kulturell schon längst eine existierende Einheit bilden. In diesem Rahmen erweist sich auch der Freiheitskampf Mitteleuropas als Ausdruck jener geistigen und gesellschaftlichen Entwicklung der europäischen Völker und Nationen, der jener tiefe Drang des Menschen zur freien, sich selbst bestimmenden Individualität zugrunde liegt, und als innere, gegen alle Widerstände gärende und treibende Kraft.
Mária Schmidt: Gefahrenzone – Rollen, Partien, Chancen.
327 Seiten, Budapest 2017
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