Rezension: „Die Belagerung von Budapest“ von Michael Kretz und Adrian Matthes
Wenn Zahlen ein Gesicht bekommen
„Dieser Bericht soll zeigen,
dass die Welt nur bestehen kann,
wenn einer dem anderen die Hand reicht.“
Michael Kretz, Mosbach im November 2023,
im Vorwort seiner Lebenserinnerung
Es ist das Verdienst von Co-Autor und Herausgeber Adrian Matthes, dass er dieses Einzelschicksal davor bewahrt hat, vergessen zu werden. Dank seiner Bemühungen liegt der Lebensbericht des mittlerweile 102jährigen ehemaligen Soldaten der ungarischen Armee jetzt in Buchform vor. Es ist die Geschichte eines ganz gewöhnlichen jungen Mannes, dem sicher ein ganz normales, friedliches Leben beschieden worden wäre. Doch es wurde gleich zweimal hintereinander von historischen Großereignissen erfasst und brutal herumgewirbelt.
Erster Einsatz und Rückzug nach Budapest
Der Ungarndeutsche Michael Kretz wurde am 14. September 1922 im damals überwiegend von Ungarndeutschen bewohnten Budapester Vorort Pesthidegkút in sehr einfachen Verhältnissen geboren. Nach dem Besuch der Schule beginnt er im Oktober 1939 in der Budapester Nagydiófa utca eine Lehre zum Küfer. Die eingeschlagene Karriere findet jedoch ein abruptes Ende, als er im Herbst 1943 seine Einberufung zur ungarischen Armee (Honvéd) erhält.
Nach einer kurzen Ausbildung kommt seine Rekrutenkompanie bereits im März 1944 zum Einsatz und zwar im Rahmen der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht bei der Sicherung des Regierungsviertels auf dem Budaer Burgberg. Zum ersten richtigen Kampfeinsatz kommt es für den frisch ausgebildeten Aufklärer und Kradfahrer in Siebenbürgen. Über Debrecen, Szentes und Hatvan heißt es für Kretz und seine Einheit dann nur noch Rückzug, bis schließlich nach Budapest.
Im Kessel von Budapest
Am Heiligabend 1944 macht er sich dort auf den Weg, um seine Eltern zu besuchen. Er kommt noch am János-Krankenhaus im 12. Bezirk von Budapest vorbei, in der Nähe des Straßenbahndepots Budagyöngye ist aber Schluss. Der Kessel von Budapest ist auch an dieser Stelle bereits geschlossen. Später gehört er zu den letzten, die die Kettenbrücke unmittelbar vor deren Sprengung noch überqueren konnten. Mit seinem Motorrad hilft er beim Transport von Verwundeten und der spärlichen Güter, die von Lastenseglern zum Behelfsflugplatz auf dem Vérmező zwischen Burgberg und Südbahnhof gebracht wurden.
Bei einer seiner Missionen verletzt er sich am Fuß. Deshalb entscheidet er sich schließlich dafür, den Ausbruch aus dem Burgviertel nicht mitzumachen. Im Nachhinein sicher eine weise Entscheidung: von den rund 28.000 Soldaten, die den Ausbruch wagten, erreichten nur etwa 700 die deutschen Linien. Kretz entfernt sich also wieder von der Sammelstelle und begibt sich in einen Keller in der Úri utca nahe der damaligen deutschen Gesandtschaft und heutigen Botschaft. Von hier aus kann er den Ausbruch akustisch mitverfolgen. Nach einem Tag der plötzlichen Ruhe werden er und seine Kameraden jedoch von sowjetischen Soldaten gefangen genommen, die das Burgviertel systematisch durchkämmen.
Gefangenschaft und Flucht
Vom Burgberg werden die Gefangenen in einer langen Schlange Richtung Gellért-Berg getrieben. Zwischendurch werden Angehörige der Waffen-SS und sogenannte Hilfswillige, oder Leute, die dafür gehalten wurden, aussortiert und an Ort und Stellung sofort erschossen. Im letzten Augenblick kann sich Kretz, der irrtümlich ebenfalls zum Todeskandidaten geworden ist, geistesgegenwärtig retten.
Es folgt ein tagelanger Marsch ohne jegliche Verpflegung aus Budapest hinaus, durch Budaörs und dann weiter. Nach etwa fünf Tagen gelingt Kretz zusammen mit einem anderen Kameraden die Flucht. Sie machen sich wieder auf den Weg nach Budapest. Nach einer Zwischenstation in einem Haus am Margit körút, versucht er sich nach Pesthidegkút zu seinen Eltern durchzuschlagen. Dabei muss er zwangsläufig die heutige Szilágyi Erzsébet fasor passieren, wo Tage zuvor ein gewaltiges Blutbad stattfand.
Diese Beschreibung dessen, was er dann dort sieht, gehört sicher zum grauenvollsten Teil seiner Erinnerungen. Co-Autor Adrian Matthes berichtet, dass es Kretz auch nach bald 80 Jahren noch fast unmöglich ist, von diesem, sicher nur wenige Minuten dauernden Erlebnis zu berichten.
„Es bot sich mir dort ein Bild, dass sich in meinem Gedächtnis eingraviert hat und welches ich nicht mehr löschen kann. Auf der ganzen Straßenbreite lagen viele hundert Leichen – was aufzuschreiben mir unendlich schwer fällt. Die Körper in der Fahrspur waren von den Ketten der vorbeifahrenden russischen Panzer zermalmt worden, so dass diejenigen, die weiterwollten, in das blutige Menschenfleisch zu treten gezwungen waren! Auch ich konnte nicht anders. Mir war klar, dass auch meine Kameraden dabei lagen. Zu furchtbar, zu abscheulich der Gedanke und ich war der Ohnmacht nahe! Aber ich wollte heim und musste immer weiter entlang der Hauptstraße gehen. Den vorbeirollenden Fahrzeugführern schien die Tatsache, dass sie über tote Menschen fuhren, völlig gleichgültig zu sein. Keiner der Russen dort zeigte sich in irgendeiner Weise erschüttert vom sich bietenden grausigen Anblick. Man kann seinen Gegner verachten, aber was dort geschehen ist, das war einfach unmenschlich. Menschen tun anderen Menschen so etwas einfach nicht an!“
Heimkehr und Vertreibung
Wie durch ein Wunder schafft er es trotzdem bis nach Haus. Kaum angekommen wird er aber verhaftet, weil er trotz Zivilkleidung für einen ehemaligen Soldaten gehalten wird. Nur durch viel Glück kommt er wieder frei. Es folgen Monate der Angst vor einer erneuten Verhaftung und der damit sicheren Deportation in ein sowjetisches Arbeitslager. Als sich die Familie gerade mit dieser Situation arrangiert hat und wieder etwas noch vorne schaut, kommt der nächste Paukenschlag für sie alle.
Die bewusst geschürten antideutschen Ressentiments haben zur Entscheidung der damaligen Machthaber geführt, die bereits Jahrhunderte in Ungarn lebende deutsche Minderheit zu vertreiben. Rund 250.000 Ungarndeutsche verlieren daraufhin ihre angestammte Heimat, auch die Familie Kretz. Am 7. Mai 1946 geht es für sie im Viehwaggon Richtung Deutschland, wo sie eine Woche später ankommen.
Es folgt im Buch eine beeindruckende Schilderung vom extrem harten Vertriebenenalltag im Nachkriegsdeutschland. Steter Hunger stand auf der Tagesordnung. Es gab so gut wie keine Hilfe. Mit dem Wenigen, was die Vertriebenen besaßen, und das war kaum etwas, waren sie gezwungen, sich selbst aus der Misere herauszuarbeiten. Erst 1954 konnten Kretz und seine Frau das Flüchtlingslager, ein ehemaliges Gefangenenlager, verlassen und die Hausmeisterwohnung einer Schule beziehen.
Bemerkenswert ist der Zusammenhalt unter den vertriebenen Ungarndeutschen. Der gemeinsamen Pflege des Brauchtums kommt dabei eine große Bedeutung zu. Sie wird von Kretz ausführlich beschrieben. Ein Höhepunkt ist für seine Familie, als sie 1966 mit ihrem ersten neuen Auto zu ihrem ersten gemeinsamen Familienurlaub nach Ungarn fahren können. Dabei statten sie natürlich auch Pesthidegkút einen Besuch ab.
Geschichte mit einer Geschichte erzählt
Die Schilderung des Jahrhundertlebens von Michael Kretz ist flüssig in der ersten Person geschrieben. Stellenweise liest sie sich wie ein packender Roman. Behutsam hat Co-Autor Adrian Matthes immer wieder dort, wo es dem besseren Verständnis der Handlung und ihrer Einordnung dient, einige Korsettstangen mit historischen Daten eingezogen. Das Buch ist aber kein Geschichtsbuch, vielmehr erzählt es die Geschichte anhand eines konkreten Menschenschicksals. Statt wenig berührenden abstrakten Zahlen und der Aufzählung von Ereignissen können wir das zweifache Grauen eines konkreten Menschen hautnah miterleben.
„Herr Kretz dürfte im 102. Lebensjahr vermutlich zu den letzten noch lebenden Verteidigern von Budapest zählen sowie zur kleinen Gruppe der noch lebenden Vertriebenen der ersten Generation. Es ist sein ausdrücklicher Wunsch, dass dieses Buch dazu beitragen möge, jungen Menschen die Realität des Krieges nahe zu bringen sowie auf das Schicksal der Donauschwaben aufmerksam zu machen.“
Siehe dazu auch das Interview mit Co-Autor Adrian Matthes.
Michael Kretz: Die Belagerung von Budapest, Lebensbericht eines Vertriebenen, bearbeitet von Arian Matthes, Carpe Diem Publishing, 2023. Das Buch kann zum Preis von 19,99 Euro zuzüglich Versandkosten via adrian.matthes@gmx.net direkt beim Co-Autor bestellt werden.