Ukraine
Hans-Henning Paetzke: „Friedensbewegte junge Leute, mit denen ich einst sympathisierte, haben sich an den Schalthebeln der Macht von Friedensengeln zu enthusiastischen Kriegsbefürwortern gewandelt.“ Foto: Privat

Essay zum Weltfriedenstag

Wider den Wahnsinn in der Ukraine!

Seit vielen Jahrzehnten wird am 1. September der Weltfriedenstag begangen. Hat sich seither etwas in Richtung Weltfrieden bewegt?

Derartiges ist für mich leider nicht zu erkennen. Ein Eckpunkt für die globale Friedenssehnsucht der Menschen hätte der 1898 erschienene Roman Die Waffen nieder! der späteren Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner gewesen sein können. Hätte! Doch seither hat es unzählige lokal begrenzte Kriege und zwei Weltkriege gegeben. Sollte nun gar ein dritter bevorstehen? Einer, dessen Menschenopfer neben der Vernichtung unseres eigentlich schönen Planeten lediglich als Kollateralschäden zu begreifen wären? Ich weiß es nicht und will auch nicht den Teufel an die Wand malen.

Gefallene Friedensengel

Friedensbewegte junge Leute, mit denen ich einst sympathisierte, haben sich an den Schalthebeln der Macht von Friedensengeln zu enthusiastischen Kriegsbefürwortern gewandelt, zu Befürwortern von Rüstungsexporten in Krisengebiete, zu Wendehälsen des alles beherrschenden Mainstreams. Wie hieß es doch einst? „Frieden schaffen ohne Waffen!“ Aber die Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie? Sie sind in den USA ebenso wichtig wie in Deutschland, in Westeuropa. Das Geschäft mit dem Tod spült Steuern in die chronisch leeren Staatskassen.

Auch in der ungarischen Staatskasse klaffen gähnende Löcher. Angeblich wegen tiefgreifender Korruption. Dies ist die Meinung von Ungarn nicht eben freundlich gesonnener tonangebender Politiker in der EU. Der im Westen ungeliebte Viktor Orbán dagegen glaubt, dass die sich ihm gegenüber feindlich gebärdende Politik vor allem mit seiner Haltung in Verbindung mit der unkontrollierten Migration zusammenhängt. Wie auch immer! Jedenfalls werden fällige Zahlungen der EU an Ungarn zurückgehalten, um den widerspenstigen Madjaren auf Kurs zu bringen.

Ich selbst bin auch ein Migrant, auch wenn ich mich lieber als Exilanten bezeichnen würde. Seit 1968 lebe ich mit einundzwanzig Jahren Unterbrechung in Ungarn. Ich habe als Ausländer hier gelebt und als Journalist und literarischer Übersetzer gearbeitet. Und tue dies noch immer. Ich habe mich sprachlich und kulturell integriert. Zwischen 1985 und 1988 allerdings durfte ich als Persona non grata nicht mehr einreisen. Dann aber wieder. Und seither lebe ich in Ungarn als deutscher Exilschriftsteller und Übersetzer. Inzwischen sogar mit doppelter (ungarischer und deutscher) Staatsbürgerschaft.

Als Migrant, als von Frankfurt am Main nach Budapest „Gewanderter“ werde ich trotz leidlicher Sprachkenntnisse wohl nie ein richtiger Ungar werden und trotz meiner deutschen Muttersprache kein wirklicher Deutscher mehr sein. Manchmal verheddere ich mich in meinen verschiedenen Identitäten: deutsch-ungarisch-polnisch-jüdisch-menschisch.

Sofern es nicht der eigenen Bequemlichkeit Abbruch tut, sind die Ungarn ein äußerst gastfreundliches Völkchen. Vor allem unter Intellektuellen erfreut sich die deutsche Willkommenskultur großer Beliebtheit. Dabei gerät die Symbolfigur der „Wir-schaffen-das-Bewegung“ allmählich in Verdacht, doch nicht das Beste für ihr Land getan zu haben. Man darf gespannt sein, wann Viktor Orbáns Einwände gegen eine ungehinderte Zuwanderung mit anderen Augen gesehen werden und er sogar rehabilitiert werden könnte.

Der Autor wurde am 1. September 1943 in Leipzig geboren. 1960 wegen Verunglimpfung des Staatsoberhaupts der DDR Verweisung von sämtlichen Oberschulen der DDR, 1960-63 Ausbildung als Schauspieler, 1963 fristlose Kündigung durch das Staatliche Dorftheater Prenzlau wegen Verletzung der Staatsbürgerpflichten, 1963-64 Verbüßung einer Gefängnisstrafe wegen Wehrdienstverweigerung, 1967 Abitur, 1967-1976 Studium der Klassischen Philologie, Germanistik und Psychologie in Halle/S., Budapest und Frankfurt/M., 1968 Emigration nach Ungarn, 1973 nach Frankfurt/M., 1981-85 persona non grata in der DDR, 1985-88 persona non grata in Ungarn, 1994 Rückkehr nach Budapest. Seit 1968 freiberuflich als literarischer Übersetzer, Herausgeber, Journalist und Schriftsteller tätig, zirka 80 Buchübersetzungen; Bundesverdienstkreuz, Offizierskreuz der Republik Ungarn, u.a. Übersetzungen aus dem Ungarischen von Péter Esterházy, György Konrád, Péter Nádas, György Petri u.v.a.m.

„Die Waffen nieder!“

Auch wenn ich kein kritikloser Orbán-Anhänger bin, heiße ich dessen Weigerung, Waffen an die Ukraine zu liefern, gut. Orbáns Einstellung zum Ukraine-Krieg kann ich nachvollziehen. Seine Forderung nach Einstellung des Krieges und nach Waffenstillstands- beziehungsweise Friedensverhandlungen, die Kritik an der Sanktionspolitik der Westeuropäer und des amerikanischen großen Bruders kann ich gut verstehen. Die inzwischen ausufernden Schwierigkeiten der Wirtschaft, die Inflation, die Abwanderung von Schlüsselindustrien, die steigende Zahl von Konkursen bei mittelständischen Betrieben beobachte ich mit wachsender Sorge.

Die deutsche Energieversorgung ist infolge der ausbleibenden russischen Gaslieferungen und neokommunistischer Ideologievorstellungen gefährdet. Strom, so scheint manch einer zu meinen, komme aus der Steckdose oder könne ja gegebenenfalls aus dem Ausland besorgt werden. Nun ja, ziemlich teuer. Und sicher ist auch verteufelter Atomstrom darunter. Otto Normalverbraucher ächzt unter der galoppierenden Schwindsucht der Wirtschaft. Die regierende Elite übt sich in Beschwichtigung. Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland seien zwingend notwendig. Deutsche Panzer gegen den russischen Bären ebenso. Dabei haben sie die einst heilsame Niederlage im Zweiten Weltkrieg nicht verhindert, dafür aber die Schlachtfelder Europas mit zig Millionen Toten übersät.

Krieg, so heißt es bei Clausewitz, sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Der Eroberer sei immer friedliebend. Das könnte auch die russische Sicht der inzwischen ausufernden Militäraktion gegen die Ukraine sein. Ob der Glaube an diesen Euphemismus nach dem nunmehr anderthalb Jahre währenden Bruderkrieg nicht doch feine Risse bekommen haben mag, sei dahingestellt.

Schon Stalin hatte versucht, die Ukraine gefügig zu machen und ihr ihre Träume von Autonomie auszutreiben. Der von Stalin zu verantwortende ukrainische Holodomor Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts mit drei bis sieben Millionen Hungertoten dürfte sich in die Seelen der Nachgeborenen ähnlich tief eingegraben haben, wie der Holocaust in das Gedächtnis der Juden. Eine Erklärung dafür, warum die Ukrainer so verzweifelt um die Bewahrung ihrer Unabhängigkeit kämpfen? Schon möglich.

Für den Aggressor Sympathie oder Verständnis aufzubringen, ist für mich nach wie vor ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch gibt es Erklärungen für Putins Vorgehen. Für ihn könnte das Vorrücken der Nato bis an seine Grenzen, der drohende Nato-Beitritt der Ukraine das Schrillen aller Alarmglocken ausgelöst haben. Chruschtschow jedenfalls hatte 1962 in der Kuba-Krise klein beigegeben. Ein solches Einlenken in Verbindung mit Polen, dem Baltikum und der Ukraine hatte sich Russland wohl auch erhofft. Vergebens!

Ich bin weder Politologe noch Historiker. Weshalb ich mir auch nicht anmaße, ein abschließendes Urteil zu fällen. Nichts ist wirklich gleich oder gar dasselbe.

Wem nutzt der Krieg in der Ukraine?

Aber wem nutzt die Verwüstung der Ukraine? Wem nutzen die auf beiden Seiten der Kriegsparteien mehrere hunderttausend Gefallenen, Verstümmelten, Gedemütigten, Vertriebenen und Vergewaltigten? Den leidenden Familien ganz sicher nicht.

Die Rüstungsindustrie erlebt derzeit einen neuen Aufschwung. Ihre Aktionäre können frohlocken. Außerdem entstehen in den Friedensregionen neue Arbeitsplätze. Wie erfreulich! Weltweit operierende Spekulanten sollen bereits viele günstige Verträge für den Wiederaufbau der Ukraine abgeschlossen haben. Was alles sie bereits an Land, Bodenschätzen und Industrieunternehmen zur gewinnbringenden Nutzung aufgekauft haben, entzieht sich freilich meiner Kenntnis.

Sterben für eine Ideologie, für ein Land?

Ich habe fast dreißig Jahre im Kommunismus gelebt, überlebt. Schön war es keineswegs. Aber wir haben Freundschaften geschlossen, viel gelesen, geliebt und trotz allem Freude am Leben gehabt, manchmal auch mit unverhohlenem Neid nach dem Westen geschielt. Was ich damit sagen will? Ich wollte weder damals noch heute für eine Ideologie mein Leben hingeben. Wenn schon sterben, dann nicht auf dem Schlachtfeld! Lieber schon an Altersschwäche im Kreis meiner Familie!

Nach den beiden Weltkriegen ist Europa neu aufgeteilt worden. Gebiete sind verloren gegangen. Schrecklich! Na und? Ich stelle mir die Frage, ob die Menschen in der Ukraine trotz eventueller Gebietsverluste ein menschenwürdiges Leben leben könnten. Ich glaube schon. Sicher würde es einen Bevölkerungsaustausch geben, wie unter so traurigen Verhältnissen wohl schwerlich zu vermeiden wäre. Oder Selenski könnte sich durch eine liberale Minderheitenpolitik hervortun. Selbstverständlich müsste in einigen Gebieten Russisch neben Ukrainisch zu einer Amtssprache erklärt werden. Ebenso Ungarisch und andere Minderheitensprachen.

Allerdings macht mir die durchaus aggressive ukrainische Assimilationspolitik und das Sprachengesetz Sorgen. In Schulen und Universitäten schreitet die Benachteiligung beziehungsweise Verdrängung nicht-ukrainischer Sprachen hurtig voran. Trotz des Krieges. Oder gerade deshalb?

Geopolitik vs. Menschenleben

Doch erst einmal sollte der schreckliche Krieg zu einem weniger schrecklichen Ende gebracht werden. Jeden Tag hoffe ich darauf. Die Verluste an Menschen sind derart hoch, dass Russland, das ja über schier endlose Ressourcen an Menschen verfügt, schlimmstenfalls dank brüderlicher Solidarität Chinas (wie schon einmal Nordkorea im Krieg gegen Südkorea) am Ende entvölkerte ukrainische Landstriche vorfinden könnte, die neu bevölkert werden müssten, wie einst das durch Pestepidemien leergefegte Siebenbürgen.

Will man das? Wollen die Amerikaner das? Rechtfertigt das Erreichen geopolitischer Ziele solche Blutopfer? Das sind Fragen, auf die ich keine Antwort zu geben weiß. Ich kann mich nur immer wieder Bertha von Suttners selbst nach hundertfünfundzwanzig Jahren noch immer aktueller Forderung anschließen: „Die Waffen nieder!“

6 Antworten auf “Wider den Wahnsinn in der Ukraine!

  1. Ein sehr menschlicher, gut vorgetragener und begründeter Artikel!

    Folgendes sollte man allerdings noch bedenken. Eine wirtschaftlich prosperierende und demokratische Ukraine in der EU wird für das gegenwärtig verfasste Russland immer ein existentiell bedrohliches Problem darstellen (Systemvergleich). Ähnlich wie es sich früher mit der DDR und der BRD oder in Berlin verhielt oder heute in Korea verhält. Wie man allerdings dieses Problem im Einvernehmen beider Staaten lösen will, weiß ich nicht.

    1
    0
  2. Hier mal eine konträre Ansicht zu der Meinung von Herrn Paetzke von Arnold Vaatz, einem erklärten Ungarnfreund auf Achgut:

    https://www.achgut.com/artikel/ueberlegungen_zu_kostuemfragen

    Arnold Vaatz

    Arnold Vaatz, geb. 1955, ist ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und seit 2002 Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Von 1990 bis 1992 war er Staatsminister in der Sächsischen Staatskanzlei und von 1992 bis 1998 Sächsischer Staatsminister für Umwelt und Landesentwicklung.

    2
    2
  3. Immer wieder wird die Frage gestellt, schaden die Sanktionen Russland überhaupt und wenn ja, wen konkret?

    Hierzu ein Beitrag vom Business Insider:

    “Das Funktionieren des russischen Aktienmarktes ist eine Illusion, so zwei Forscher aus Yale gegenüber Business Insider.”

    “Der Grund ist vor allem der kostspielige Krieg und die Sanktionen.”

    “Investitionen in das Land werden wahrscheinlich ins Leere laufen, da Moskaus Wirtschaft auf Talfahrt ist.”

    https://www.businessinsider.de/wirtschaft/international-business/russlands-aktienmarktgewinne-sind-kein-wohlstandsindiz-sagen-yale-forscher/

    Es ist wie immer, alles das wird am Ende die “normale” Bevölkerung sehr viel stärker als die Eliten treffen, die genügend Wege ins Ausland finden werden (z.B. wie bereits bekannt in die Golfregion), um ihren Reichtum zu schützen. Gerechtigkeit existiert immer nur auf dem Papier und Papier ist bekanntlich geduldig!

    0
    1

Schreibe einen Kommentar

Weitere Artikel