Leslie Mandoki: „Wir Musiker denken oft mit dem Herzen.“ (Fotos: Red-Rock Production)

Essay: Gedanken über die Welt nach der Corona-Krise

Silberstreifen

Krisen wie diese entblößen nicht nur unsere Welt, sie reißen auch ein Loch in das Gewebe unserer Normalität. Das chinesische Schriftzeichen für Krise bedeutet zugleich auch Chance, im Griechischen stand „krísis“ ursprünglich für „entscheidende Wendung“. Ob zum Besseren oder zum Schlechteren ist völlig offen und liegt an uns.

Die gesellschaftliche Vollbremsung infolge der Bedrohung durch die Pandemie schafft Raum für neues Denken und eröffnet uns auch die Chance zu einer Kurs­korrektur unseres gesellschaftspolitischen Leitbildes, damit die Achtsamkeit über die Gier siegt, die Menschlichkeit über die Gleichgültigkeit.

Blick auf die Zeit nach der Pandemie richten!

Jeder ist auf seine Art persönlich betroffen. Mit einer Ehefrau, die als Allgemeinmedizinerin an vorderster Front arbeitet, werden mir die Tragweite und die Konsequenzen der Pandemie überdeutlich vor Augen geführt. In meiner Isolation erreichen mich auch Hilferufe von Künstlerkollegen, die jetzt am Rande ihrer Existenz stehen. Junge Künstler, die beim Aufbau ihrer Karriere sind, fühlen sich buchstäblich von aller Welt verlassen, und auch ich wäre jetzt mit meinen Soulmates eigentlich in den USA unterwegs gewesen. Aber hier und jetzt kommt es darauf an, das Hoffen zu lernen und unseren Blick auf künftige Lösungen und auch die Zeit nach der Pandemie zu richten.

(Foto: Red-Rock Production)

Wir Musiker denken oft mit dem Herzen und unser unerschütterlicher Glaube an die verbindende Kraft der Musik lässt unsere Songs entstehen. Zusammen mit meinem Freund Ian Anderson, Mastermind von Jethro Tull, und einigen meiner Soulmates wie Till Brönner, mit den Supertramp-Legenden John Helliwell und Jesse Siebenberg, Bobby Kimball, Simon Phillips von Toto, den Jazz-Ikonen Randy Brecker und Bill Evans aus New York, Cutting Crew Star Nick van Eede, Chris Thompson von Manfred Mann‘s Earth Band sowie Klaus Meine von den Scorpions haben wir uns in unserer individuellen Isolation digital versammelt und jeder hat sein ganz persönliches Statement zu dieser Corona-Pandemie und Krise per Videobotschaft beigesteuert.

Statements from Mandoki Soulmates

Die Corona-Krise bringt auch eine Neu-Interpretation des Terminus „Systemrelevanz“ mit sich, der in der mit der Lehman Brothers-Pleite beginnenden Finanzkrise 2008 aufkam und sich fälschlicherweise auf Investmentbanker bezog, die weder mit nachhaltigen Investments noch mit regulären Bankgeschäften zu tun hatten, sondern mit Spekulantentum einem hemmungslosen Casino-Kapitalismus frönten. Damals hatten wir nicht die Kraft, Lehren aus dieser Krise zu ziehen.

Gierige Spekulanten führen das Prinzip der Solidarität und des Gemeinwohls ad absurdum

Die Systemrelevanz zeigt sich heute eben nicht an den Börsen und den obszön hohen Profiten einiger Spekulanten, die wie Geier über unserer Industrie, die zum Stillstand gekommen ist, kreisen. Während wir alle gerade gemeinsam als Gesellschaft in einer nie dagewesenen finanziellen Anstrengung versuchen, die ärgsten wirtschaftlichen Folgen des Shutdown abzufedern, wird an den Börsen-Casinos die Kursachterbahn von gierigen Spekulanten, die das Prinzip der Solidarität und des Gemeinwohls ad absurdum führen, täglich aufs Neue befeuert. Nur ein Beispiel für die grenzenlose Gier: Bill Ackman hat, als das Coronavirus begann, über China hinaus seine Schockwellen zu senden, mit Wetten auf einen Corona Crash 2,6 Milliarden US-Dollar eingestrichen, und ich sage bewusst nicht „verdient“, sondern von der Gesellschaft und unserer Gemeinschaft genommen. Im gleichen Zeitraum trat genau das ein, worauf er gewettet hatte. Die Börsen brachen um fast 20 Prozent ein.

„Nicht die Finanzmärkte dürfen länger das Geschehen bestimmen, sondern eine durch Mensch­lichkeit und Zusammenhalt erstarkte Gemeinschaft. Vielleicht können wir aus dieser Krise etwas lernen, Hoffnung schöpfen auf eine bessere Welt nach Corona.“

Durch die erdrückende Dominanz der Krisenbewältigung im Kampf gegen das Virus hören wir kaum noch, dass unsere Erde immer noch laut weint. Wir halten jetzt kurz den Atem an und lassen auch die Natur einen Augenblick Luft holen, doch unser Erbe wird die nächsten Generationen mit erbarmungsloser Wucht treffen. Nun scheint offenbar auch die Auffassung infektiös zu sein, dass die Corona-Krise mit unermesslich viel Geld unserer Enkelkinder unter vollständiger Verleugnung der Generationengerechtigkeit zu bewältigen wäre. Generationengerechtigkeit muss aber mehr denn je ein zentrales Leitmotiv werden. Kurzfristige Lösungen, getrieben von täglichen Umfragewerten, sowie wirtschaftliche Entscheidungen, die der Stimulation des Hochfrequenzhandels dienen, müssen substanziell in Frage gestellt werden, und die spekulativen Wettgeschäfte auffallende Kurse gehören endlich verboten.

Gemeinsamkeiten suchen und aufzeigen!

Die Pandemie hat uns mit aller Brutalität aus unserer Komfortzone herausgeschleudert, und hoffentlich platzen nun all die Filterblasen und uns gelingt die Flucht aus unseren individuellen Echokammern. Mit unserem Doppel-Album „Living In The Gap/Hungarian Pictures“ haben wir Ende letzten Jahres bereits laut mit Rock-Musik gegen die Spaltung unserer Gesellschaft angespielt.

Zusammen mit einigen seiner Soulmates in New York. (Foto: Red-Rock Production)

Gerade in diesen Zeiten sind wir als Künstler besonders gefordert, für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft einzutreten und Ideen für eine bessere Welt zu formulieren. Es ist ein uns Künstlern immanenter Wunsch, das Verbindende herauszuarbeiten und darauf den Fokus zu legen. Gerade, wenn wie heute zu viel Trennendes im Vordergrund steht, ist es unsere Aufgabe, die Gemeinsamkeiten zu suchen und aufzuzeigen.

Dabei geht es mir nicht nur darum, die Spaltungen innerhalb Deutschlands, sondern auch innerhalb Europas zu überwinden. Es ist mir ein besonderes Anliegen, zwischen meinem Geburtsland Ungarn und meiner deutschen Heimat zu vermitteln. Ich wünsche mir, dass Politiker das Einende hervorheben und den Willy-Brandt’schen Weg gehen, der sich immer gefragt hat: Wie verbinde ich zwei Seiten miteinander, wie baue ich eine Brücke? Und das haben sich sowohl Helmut Kohl als auch Gerhard Schröder gefragt. Ich schlüpfe, wenn ich mit meinen befreundeten Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder oder Armin Laschet rede, in die Rolle des Ungarns und bemühe mich, ihnen die ungarische Seele zu vermitteln. Dem ebenso mit mir befreundeten ungarischen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán wiederum vermittle ich meine Sicht der deutschen Seele. All das mache ich, um Brücken zu bauen.

Es ist unsere Pflicht als Künstler, Stellung zu beziehen, und schon für Béla Bartók stellte die Vielfältigkeit in der Kultur eine Bereicherung dar, denn gerade aus ihren Unterschieden schöpft die Kunst die Kraft für ihre weitere Entwicklung. Gerade jetzt müssen wir uns von dem kosmopolitischen Geist von Bartók inspirieren lassen und den interkulturellen Dialog fördern.

Europäisches Zusammenspiel der individuell starken Farben

In meiner Vorstellung ist Europa ein Bild, das bunt ist und dessen Kraft, Ausdrucksstärke und Schönheit gerade in dem Zusammenspiel der individuell starken Farben liegt. Europa hat nur dann eine Zukunft, wenn gleichberechtigte Nationen hohes kulturelles Verständnis entwickeln – gerade für das, was uns unterscheidet. Europa kann nicht institutionell von oben gebaut werden, Europa ist nur dann stark, wenn die tüchtigen und ehrgeizigen Nationen ihre unterschiedlichen und individuellen Akzente konstruktiv einbringen können. Der Respekt für die historische Leistung der Ungarn muss im täglichen Miteinander spürbar sein. Die Geschehnisse in Ungarn von 1956 sind Sinnbild für die Sehnsucht nach Freiheit. Eine Sehnsucht, die wie eine Fackel immer weitergegeben wurde, bis sich schließlich 1989 vollendete, was die ungarischen Studenten 1956 begonnen hatten.

„Gerade jetzt müssen wir uns von dem kosmopolitischen Geist von Bartók inspirieren lassen und den interkulturellen Dialog fördern.“ (Foto: Red-Rock Production)

Ohne 1956 hätte es 1989 nie gegeben und auch kein freies Europa, wie wir es heute kennen. Vor 30 Jahren, als die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang fielen, regnete Glück vom Himmel und wir hätten alle Möglichkeiten gehabt, unser gesellschaftspolitisches Leitbild in eine soziale Marktwirtschaft mit ökologischer Verantwortung weiterzuentwickeln, aber wir haben diese Chance vertan.

Diese Krise eröffnet uns jetzt abermals die Chance, die Weichen neu zu stellen. In Zeiten, in denen Solidarität, Gemeinschaft, Achtsamkeit und der Mensch im Mittelpunkt stehen, hat ein Modell, das ausschließlich auf Profit ausgerichtet ist, ausgedient. Ein hoffnungsvoller, solidarischer Gemeinsinn könnte aufkeimen, der die öffentliche Gesundheit als Gemeinschaftsaufgabe begreift und eine Binsenweisheit in den allgemeinen präfrontalen Cortex hebt: Wir sind verflochtene, voneinander abhängige Wesen, niemand ist eine Insel. Nur gemeinsam schaffen wir es!

Corona-Krise bringt viele Helden zum Vorschein

Auf der anderen Seite bringt die Corona-Krise die vielen Helden zum Vorschein, die jetzt trotz der Gefahren für ihre eigene Gesundheit das System aufrechterhalten und auch in diesen schweren Zeiten unsere Versorgung sichern. Auch unseren Journalisten sollten wir jetzt Danke sagen. Was würden wir ohne journalistische Ethik tun, die mit vernünftiger und differenzierter Berichterstattung unseren Hunger nach dem letzten Informationsstand stillt?

Heute wissen wir, dass diejenigen systemrelevant sind, die sich an vorderster Front ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit oder die ihrer Familien dafür einsetzen, damit auch eine sich langsamer drehende Welt in Bewegung bleibt und wir wieder Hoffnung schöpfen können. Deshalb haben wir vor vielen Wochen begonnen, uns bei all diesen Alltagshelden im Gesundheitswesen, in der öffentlichen Ordnung, in der täglichen Nahversorgung zu bedanken.

Ihnen allen wollen wir größten Respekt und unsere Wertschätzung entgegenbringen und mit unserem Song wirklich laut und vernehmlich „Danke“ sagen. Mitgewirkt haben Ian Anderson (Jethro Tull), John Helliwell (Supertramp), Chris Thompson (Manfred Mann), Bobby Kimball & Simon Phillips (Toto), Jazz-Icon und Grammy-Winner Randy Brecker sowie der Chair of Berklee‘s Bass Department Steve Bailey.

Ian Anderson & Leslie Mandoki with the Mandoki Soulmates #WeSayThankYou

Wir sind sehr glücklich, dass dieser Non-Profit-Song in den USA von zahlreichen Radiostationen und Medien allgemein als Hymne für die von der Krise betroffenen Menschen aufgegriffen wurde und wir damit einen Charity-Beitrag leisten können.

Ian Anderson & Leslie Mandoki with the Mandoki Soulmates #TogetherAtHome (unplugged version)

Mein Dank gilt auch meinen Soul­mates, von denen viele zu einem Wohnzimmerkonzert dazugestoßen sind, bei dem wir ausnahmsweise einmal nicht im selben Raum, sondern per Zuschaltung aus London und New York – zwei Hotspots dieser schrecklichen Pandemie – gemeinsam gespielt haben.

Leslie Mandoki zusammen mit Ian Anderson (Jethro Tull): „I am not young enough to know everything.“ (Foto: Red-Rock Production)

Die Virologen empfehlen uns, Kontakte zu minimieren – der Wunsch, gemeinsam zu musizieren, lässt sich aber nicht in Quarantäne stecken, und die digitale Technik erlaubt es uns ‚Old Rebels‘ auf diesem Wege, musikalisch miteinander, auch mit den ‚Young Rebels‘ in aller Welt zu kommunizieren. Die Digitalisierung wird unser aller Zukunft noch immens steuern. Wir sollten hier aber die Weichen in eine achtsame und humane Richtung stellen, wo wieder die Familie und Arbeit im MIttelpunkt stehen.

Wie wir eines Tages auf diese Zeit zurückblicken werden, ist völlig ungewiss. Wir hören jetzt wieder häufig das Adjektiv ‚alternativlos‘, das in krisenhaften Herausforderungen seit über einem Jahrzehnt immer wieder als Totschlagargument verwendet wird. Was jedoch in Demokratien vor allem alternativlos ist: Die Debatte, der Diskurs in der Mitte der Gesellschaft über die Alternativen.

Ich habe die Hoffnung, dass wir nach Überwindung dieser Pandemie unsere Liebe zum Leben und unsere nicht zu bändigende Daseinslust wieder gemeinsam mit unserem Publikum ausleben können, aber wie ich vor Jahren in einem meiner Songs unseres Albums Aquarelle geschrieben habe: „I am not young enough to know everything.“

LESLIE MANDOKI ist gebürtiger Budapester. 1975 flüchtete er in die Bundesrepublik. Heute lebt und arbeitet er als Musiker und Produzent in Tutzing am Starnberger See. Er war unter anderem für Weltstars wie Phil Collins und Lionel Richie tätig. Seit knapp drei Jahrzehnten verfolgt er das Projekt Mandoki Soulmates, in dessen Rahmen er zahlreiche große Namen der Rockgeschichte zusammengebracht und mit ihnen bis jetzt 14 CDs produziert hat. Außerdem ist er für die Wirtschaft tätig, bisher unter anderem für Audi, BMW, Daimler, Disney, den FC Bayern München, Sixt und Volkswagen. Zuletzt gestaltete er die Klänge für die E-Fahrzeuge des Volkswagen-Konzerns. Mehrfach produzierte er für die CDU Wahlkampfsongs.

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