Rezension: Ungarn-Jahrbuch 35
Schlaglichter auf Geschichte und Gegenwart Ungarns
Brigitta Szanka (Szeged) untersucht „Das deutsche städtische Gesandtschafts- und Botenwesen unter der Herrschaft Sigismunds von Luxemburg (1414–1434)“. Als Grundlage dienen ihr in erster Linie die Reisen des Herrschers anhand von Briefwechseln und Gesandtenberichten sowie die Bemühungen von Gesandten, den König auf seiner Reiseroute anzutreffen. Teréz Oborni (Budapest) charakterisiert in dem Aufsatz „Frater Georg und die Besetzung von Ofen (Buda) durch die Osmanen 1541“ einen Paulinermönch, der als graue Eminenz eine steile politische Karriere am Königshof machte und wohl wesentlichen Einfluss auf politische Entscheidungen nahm.
Untersuchung zeitgenössischer Kommunikation
Der Aufsatz „Diplomaten und Drucke auf dem Reichstag zu Regensburg 1685“ von Nóra G. Etényi (Budapest) zeigt anhand von zeitgenössischen Informationsschriften, wie der Sieg über die Osmanen gegenüber der bayerischen und Regensburger Öffentlichkeit kommuniziert wurde, und wie sehr die ausgewertete Dokumentengattung auch Teil einer Propaganda waren. Sechs zeitgenössische Abbildungen verdeutlichen lebhaft die konkurrierenden Schrifterzeugnisse. Orsolya Lénárt (Budapest) zeigt im thematisch ähnlich ausgerichteten Aufsatz „Vermittlung von Geschichte, Kultur und Bildern. Zur Darstellung von Helena Zrínyi und Imre Thököly in den historiografischen Werken des Johann Graf Mailáth (1786–1855)“, wie ungarisches Kulturgut, insbesondere ungarische Geschichte, ins deutschsprachige Ausland vermittelt wurde.
Daniel Carlo Pangerl (Starnberg bei München) beleuchtet in seinem Beitrag „Von der Autarkie zur deutschen Handelspartnerschaft. Ausgewählte Aspekte der ungarischen Wirtschaftspolitik im Zeitraum von 1918 bis 1945“ eine wichtige wirtschaftspolitische Etappe in der deutsch-ungarischen Handelspolitik, die bisher im deutschsprachigen Raum viel zu wenig rezipiert wurde. Auch die Untersuchung von Ágnes Tóth (Budapest) über „Diplomatische Anstrengungen zur Freilassung internierter deutschstämmiger Kriegsgefangener (1951–1955)“ greift ein kaum bekanntes Thema auf, das nicht nur für die deutsch-ungarische Nachkriegsgeschichte, sondern auch für die ungarndeutsche Minderheit von hoher Bedeutung ist.
Von Trianon bis „Genderforschung in Ungarn“
In der Abteilung „Forschungsberichte“ geht Fabian Hutmacher (Regensburg) der Frage nach, „Was bedeutet es, ungarndeutsch zu sein? Identitätskonstruktion der deutschen Minderheit in Ungarn im Wandel der Zeit und in der zeitgenössischen Literatur“, während sich Peter Kersche (Klagenfurt) „Auf den publizistischen Spuren des ungarischen Malers Dezső Czigány (1883–1937)“ bewegt. Vilmos Erős (Debrecen) analysiert in dem Aufsatz „Geistesgeschichte versus Volksgeschichte im Ungarn der frühen 1940er Jahre. Gyula Szekfű und István Szabó über die Geschichte der ungarländischen Nationalitäten“ die unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden großen ungarischen Historiker. Andrea Pető (Budapest) weist mit „Genderforschung in Ungarn“ auf die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen hin und verdeutlicht die prekäre Lage des Arbeitsgebietes an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft.
In der Rubrik „Mitteilungen“ finden sich kürzere wissenschaftliche Schlaglichter auf spezielle Untersuchungsgegenstände, wie der Bericht von Mária Rózsa (Budapest) über „Ferdinand Gustav Kühne (1806–1888) über Ungarn“ oder jener von Gábor Gángó (Budapest/Erfurt) über „György Lukács in der Ungarischen Räterepublik“. Fabian Hutmacher diskutiert unter erinnerungskulturellem Aspekt „Ungarns Rolle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Opfer des Friedensvertrags von Trianon und Täter im Holocaust?“.
Herausgeber Zsolt K. Lengyel (Regensburg) dokumentiert unter dem Titel „Nationale – und sogar metaphysische – Rückversicherungen“ ein Interview mit Rainald Becker über verschiedene historische Ansätze in den europäischen Einigungsbemühungen. Sein Interviewpartner ist Mitglied einer Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und lehrt am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Besprechungen von 19 Büchern
Der Abschnitt „Buchbesprechungen“ umfasst 19 Rezensionen mit hungarologischen Bezügen aus den Fachbereichen Geschichte, Kirchengeschichte, Kulturgeschichte, Politik- und Rechtswissenschaft. In der Rubrik „Chronik“ würdigt Dietmar Meyer, Rektor der Budapester Andrássy Universität, seinen Freund und Kollegen, den Wirtschaftshistoriker János Buza zum achtzigsten Geburtstag, und Zsolt K. Lengyel berichtet unter dem Titel „Ungarische Genderforschung auf dem Prüfstand“ von einem denkwürdigen Regensburger Vortragsabend mit Andrea Pető, deren Referat in diesem Band mit abgedruckt ist.
Die Regensburger Redaktion und die internationale Herausgeberschaft des Ungarn-Jahrbuchs vertreten in erster Linie die Fachdisziplinen Geschichts-, Politik- und Literaturwissenschaft. Die Autorinnen und Autoren füllen dieses Fächerspektrum aus und erweitern es sogar. Interdisziplinarität, Sachlichkeit und thematische sowie Meinungspluralität stellen auch diese Publikation wieder in die beste Tradition der regionalwissenschaftlichen Hungarologie.
Das Kooperationsgeflecht Bayerns und Ungarns sollte dem Eigentümer und Herausgeber, dem Ungarischen Institut, weiterhin die notwendige Stabilität und Planungssicherheit für die Fortführung seines wissenschaftlichen Programms sichern, das vielseitige Offenheit und anhaltende Treue zur deutschen Arbeitssprache bekundet. Denn die Lücke, die es damit in der gegenwärtigen deutschen Forschung und Lehre über Ostmitteleuropa zu füllen pflegt, wird immer größer.
Ungarn-Jahrbuch 35 (2019)
Zeitschrift für interdisziplinäre Hungarologie herausgegeben von Zsolt K. Lengyel
376 Seiten, Hardcover
Auch als E-Book erhältlich.
48 Euro