Die Philosophen Mihály Vajda (oben) und Julian Nida-Rümelin diskutierten zusammen mit Moderatorin Katalin Teller über das Verhältnis von Demokratie und Pandemie. (Foto: Goethe-Institut Budapest)

#Wohnzimmerdebatte des Goethe-Institut Budapest

Staat und Bürger im Ausnahmezustand

Die Pandemie hat uns alle kalt erwischt. Die Maßnahmen, die teils überstürzt gegen die Ausbreitung des Corona-Virus getroffen wurden, haben das tägliche Leben aller Bürger verändert. Doch inwiefern ist es legitim, wenn Regierungen Freiheitsrechte zugunsten des Gemeinwohls einschränken? Sind Tracking-Apps und Impfpflichten in einer parlamentarischen Demokratie überhaupt haltbar? Um diese Fragen ging es in einer Online-Debatte des Goethe-Instituts am Donnerstag vergangener Woche.

Es war bereits die dritte Veranstaltung im Rahmen der Reihe #Wohnzimmerdebatten, die das Goethe-Institut Budapest seit Beginn der Pandemie live über seinen Facebook-Kanal ausstrahlte. Zu Gast waren die Philosophen Mihály Vajda und Julian Nida-Rümelin. Die Diskussion moderierte Katalin Teller, die sich gleich zu Beginn an den Münchener Professor und Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder, Nida-Rümelin, mit der Frage nach dem Stand der Demokratie in Zeiten von Corona wandte.

„Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass die Demokratie sich dadurch legitimiert, dass die Mehrheit entscheidet“, konstatierte dieser. „Sie ist eine Staatsordnung, die uns zwingt, Gesetze einzuhalten. Legitim wird sie dadurch, dass sie – prinzipiell jedenfalls – auf die Zustimmung aller Bürgerinnen und Bürger zählen kann. Das heißt nicht, dass wir in allem einer Meinung sind, aber dass wir die Verfahren akzeptieren, nach denen entschieden wird. Das setzt voraus, dass das staatliche Handeln eingeschränkt ist und dass es unsere individuellen Rechte nicht unnötig begrenzt.“

Schlechte Vorbereitung: Der Pandemieplan war da

Was im Falle einer Pandemie nötig und was eine unverhältnismäßige Einschränkung individueller Freiheiten ist, ist jedoch auch für den Philosophen, der sich schwerpunktmäßig mit ethischen und demokratietheoretischen Fragen beschäftigt, nur schwer zu beantworten. „Es ist eine schwierige Gratwanderung“, sagte er. Nida-Rümelin kritisierte, dass die Regierungen in Deutschland und anderen europäischen Ländern sich, sich im Vorfeld nicht besser vorbereiteten: „Wir hätten Zeit gehabt. Seit 2012/2013 gab es einen Pandemieplan des Robert-Koch-Instituts, wo alles drin stand. Es war klar, was zu tun ist. Aber das ist alles nicht erfolgt.“

Dies sei auch der Grund dafür, dass schlussendlich jene harten Maßnahmen notwendig wurden, die zur Schließung von öffentlichen Einrichtungen, dem Gastgewerbe und von Grenzen – ja zur allgemeinen Stilllegung des öffentlichen Lebens an sich – führten. Insbesondere im Hinblick auf eine mögliche zweite oder gar dritte Infektionswelle mahnte Nida-Rümelin: „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Corona-Krise eine schleichende Veränderung der demokratischen Ordnung mit sich bringt, die den Staat ermächtigt, zum Zwecke des Gesundheitsschutzes massiv und dauerhaft individuelle Rechte und Freiheiten zu beschränken.“

Zur Frage der Impfpflicht, falls in den nächsten Monaten ein Impfstoff gegen das Virus entwickelt werden sollte, mochte der Philosoph, der vor Kurzem in das Gremium des deutschen Ethikrats berufen wurde, kein Urteil fällen: „Anders als bei anderen verpflichtenden Impfungen ist die Datenlage im Falle von COVID-19 noch völlig unzuverlässig. Wir wissen nicht, wie verlässlich die Impfung sein wird und wie stark die Nebenwirkungen.“

Was das aktuell in Deutschland diskutierte Tracing und die Tracking-App angehen, sieht Nida-Rümelin, dessen Buch „Die gefährdete Rationalität der Demokratie“ vor Kurzem erschien, eine Unstimmigkeit: „Obwohl Südkorea – eine liberale Demokratie ohne autoritäre Tendenzen – mit diesen Maßnahmen extrem erfolgreich war, nutzen wir nach vier Monaten immer noch nicht die Tools, die uns die Digitalisierung zur Verfügung stellt, weil es Bedenken hinsichtlich der informationellen Selbstbestimmung gibt. Und das zu einer Zeit, in der fast alle anderen Grundrechte massiv eingeschränkt wurden.“ Er halte es für skandalös, dass ein Großteil der Bevölkerung zwar ohne Bedenken private Daten mit Großkonzernen wie Google, Facebook und Twitter teile, zum Schutz von Menschenleben aber nicht bereit sei, eine Tracking-App zu nutzen. Dass die Deutschen gerade hier eine rote Linie ziehen, hält er für einen Fehler.

Ungarische Demokratie besonders anfällig?

Im Gegensatz zu Nida-Rümelin, der sein Vertrauen in die derzeitige deutsche Regierung trotz berechtigter Kritik an der Handhabung der Corona-Krise nicht verloren zu haben scheint, blickt Mihály Vajda mit Sorge auf aktuelle Entwicklungen in Ungarn. Vajda, der viele Jahre am Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Debrecen gelehrt sowie am Philosophischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet hat, fürchtet, dass die Fidesz-Regierung die Krise dazu nutzen könnte, ihre Machtbefugnisse weiter auszubauen.

Obwohl das Parlament Orbáns Sondervollmachten mittlerweile aufgehoben hat, kritisiert er, dass vorab keine zeitliche Frist für die Gültigkeit des Ermächtigungsgesetzes gesteckt wurde. „Es ist unheimlich gefährlich, wenn eine Regierung ohne Zustimmung des Parlamentes und ohne öffentliche Diskussion einfach per Dekret durchregieren kann.“ Die ungarische Demokratie Orbán’scher Prägung sei auch aufgrund der Besonderheit der über Jahre aufrecht erhaltenen Zweidrittelmehrheit des Fidesz anfällig. Die eigentlich zum Schutz von Minderheiten geforderte qualifizierte Mehrheit bei Verfassungsänderungen sei so ausgehebelt. „Niemand hat damit gerechnet, dass die zwei Drittel mal in die Hand nur einer Partei fallen würden, ebenso wenig, dass wir mal in eine Situation kämen, in der Notstandsgesetze verhängt werden müssen“, betont Vajda die Unzulänglichkeit der ungarischen Institutionen.

Er sieht geschichtliche Gründe dafür, dass nun neben den Corona-Fallzahlen auch die Entwicklung der ungarischen Demokratie im Auge behalten werden sollte: „Die Demokratie hat hier keine tiefen Wurzeln. Schon zur Wende habe ich gesagt, solange das Land nicht lernt, was demokratisches Verhalten ist, sind diese ganzen Konstruktionen ja sehr schön, aber wirkungslos.“ Zudem habe die Regierung Orbán laut Vajda bereits im Vorfeld der aktuellen Krise autoritäre Züge gezeigt, die sich nun verstärken könnten.

Auswirkungen auf die Demokratie

Wie sich die Pandemie im Allgemeinen auf die Demokratieentwicklung in Ungarn und den anderen Ländern Europas auswirken wird, ist nach Meinung von Julian Nida-Rümelin im Detail noch nicht abzusehen. „Bislang sieht das ziemlich ambivalent aus. Wir haben Beispiele – da zählen Deutschland und Italien dazu –, in denen die demokratischen Institutionen erstmal gestärkt wurden. So ist die extreme Rechte in den Umfragen zurückgegangen, während die klassischen Volksparteien profitiert haben.“ Der deutsche Philosoph beobachtet hier eine neue Seriosität, die für Polemik keine Zeit habe, sich allerdings nicht überall zeige. Hier wies er insbesondere auf Großbritannien und die USA hin.

„Die weitere Entwicklung hängt davon ab, wie wir die ökonomischen und sozialen Nebenwirkungen der Krise bewältigen werden“, so Nida-Rümelin. Sollte es zum Crash kommen, könne dies einen ungewissen Ausgang für das europäische Währungs- und Wirtschaftssystem haben, der auch sozial und politisch – ähnlich etwa wie nach 1929 – in die „totale Katastrophe“ führen könnte. Er betont jedoch: „Ich hoffe nicht, dass es dazu kommt. Ich bin optimistisch, dass alles gut geht und wir aus dieser Krise lernen.“

Einen Videomitschnitt der gesamten Online-Debatte finden Sie auf der Facebook-Seite sowie auf dem YouTube-Kanal des Goethe-Instituts in Ungarn.

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