Theaterkritik: Woyzeck, eine Produktion der Deutschen Bühne Ungarn
Nicht schön, aber revolutionär
Eine wirklich gelungene Regie und eine beachtliche Schauspielleistung überzeugten am 23. März im Budapester Nationaltheater.
„Obszön ist das, ja regelrecht geschmacklos“, ist ein Herr mit längerem weißen Haar – sein schicker roter Schal vervollständigt den Bildungsbürger – nach einer knappen halben Stunde durchaus laut im Saal zu vernehmen. Ja: Der Woyzeck schockiert. Und das soll er auch. Ihn zu inszenieren braucht Mut, schockieren zu wollen.
Herabwürdigung durch die Gesellschaft
Der serbische Regisseur Nemanja Petronje hat diesen Mut. Er stellt die Herabwürdigung Woyzecks durch die Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Inszenierung. Woyzeck, dargestellt von Otto Beckmann, ist krank, hört Stimmen, hat Wahnvorstellungen. Er leidet an schwerer Schizophrenie. Dem Hauptmann, dem er zu dienen hat, von Dávid Földszin nicht nur pseudo-intellektuell herablassend, sondern auch durchaus verletzlich gezeigt, stellt Petronje einen Doktor (Niklas Schüler) gegenüber, der die beim Hauptmann ein wenig zu kurz gekommene Schikane womöglich gar etwas überkompensiert.

An einer Hundeleine gehalten wird Andres (Dezső Horgász), Woyzecks Freund und Zimmergenosse, von ihm zusammengeschlagen, sodass er Blut spuckt, während er sich darüber auslässt, dass er an eine Hauswand uriniert habe. Das Hauptproblem sieht er hierbei weniger im unsittlichen öffentlichen „Pissen“, sondern vielmehr in dem Fakt, dass er den Urin der „Wissenschaft“ zur Verfügung zu stellen gehabt hätte. Dass Nemanja Petronje die Intensität der – schwer zu verbildlichenden – psychischen Gewalt auf einer physischen Ebene analog darstellt, ist insofern das Erfolgsrezept dieser Arbeit.
Bewusste Ungereimtheiten
Mancher Kenner des Werkes mag sich gewundert haben, dass nicht Woyzeck, sondern – anders als in Büchners Original – Andres sich an der Hundeleine wiederfand. Und warum flüstert Maries Nachbarin Margret ständig in einer schmerzverzerrten, phobisch verstörenden Manier die so charakteristischen Lieder („Hasenlied“, „Lustige Jägerei“ etc.) nachsprechend in ein Mikrophon?

Es sind kleine Ungereimtheiten, die sich in immer größeren Wahnsinn steigern. So geht beispielsweise nun augenscheinlich Marie auch noch mit Andres fremd. Dieses Abdriften von der Realität – Büchners Realität – ist die treibende Kraft von Petronjes Interpreation. Sie unterstreicht die krankhafte Entwicklung von Woyzeck, und die Schuld der Gesellschaft daran, die sonst womöglich verborgen bliebe. So stellt Übertreibung den Kern des Werkes heraus.
Ständiger Widerspruch zwischen zwei Welten
Es entsteht jedenfalls ein ständiger Widerspruch zwischen zwei Welten: Der echten, schrecklichen Welt, die Woyzeck erniedrigt, und seinem schizophrenen Wahn. Dem serbischen Regisseur gelingt durch surreale Gegensätze der Personenregie (der sonst so perfide seriöse Arzt sieht auf einmal aus wie ein alkoholisierter, sozialhilfeempfangender Klischee-Nazi) dieses Changieren zwischen Wahn und Realität als Entwicklung hin zum Mord. Darüber hinaus wird dieser Gegensatz noch durch zwei, in den Zuschauerraum gerichtete Scheinwerfer in der Bühnenmitte unterstrichen – Licht an: Realität, Licht aus: Wahn. Etwas sehr bemüht und plakativ, aber es erfüllt seinen Zweck.
Die schauspielerische Leistung ist insgesamt sehr ansehnlich. Obschon Eszter Sipos als Marie doch eher blass bleibt, überzeugt der Tambourmajor, eindrücklich dargestellt von Dominik Spies, auf ganzer Linie. Ein Tambourmajor ist kein Militär, sondern der Anführer einer Blaskapelle und damit – für Büchner – ein Hampelmann. Als eine Art Clown überzeichnet, stellt Spies einen grotesken Tambourmajor da – aber nicht etwa lustig, sondern vielmehr als Horrorclown in Militäruniform.

Hinter dem netten Gesicht lauert das böse. Büchner war ein Revolutionär – ein „Revolutionär von reinstem Wasser“, wie ihn Alfred Döblin einmal bezeichnete. Der Woyzeck ist bis ins letzte Jota von Revolution durchtrieben. Kurt Tucholsky bemerkte treffend, Büchners Theater sei gemacht für „die lieben Leute, denen man es doch ein bisschen deutlich machen muss, wie es im Leben zugeht.“ Insofern hat die Reaktion des wohlhabenden Herrn mit dem roten Schal womöglich die Klasse dieses Werks, aber auch der Aufführung unterstrichen.
Der Autor ist Mitarbeiter des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am MCC.