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Dr. Gyula Thürmer bei einer Gedenkfeier für János Kádár, den langjährigen KP-Generalsekretär. (Foto: Privat/Gyula Thürmer)

Gespräch mit Dr. Gyula Thürmer, Vorsitzender der linken Ungarischen Arbeiterpartei

„In der Bevölkerung brodelt es“

Die Linke hat politisch durchaus auch eine positive Vergangenheit, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Frauenrechte, geregelte Arbeitszeiten, lohnende Gehälter, Krankenversicherung, Verbot von Kinderarbeit. Im letzten Jahrhundert wusste sie genau, was sie politisch durchsetzen wollte. Heute hat man hingegen den Eindruck, dass es ihr an einem richtigen Konzept fehlt und dass sie eher kopflos irgendwelchen Modekonzepten hinterherrennt. Mal ein bisschen grüne Energie, mal Naturschutz, mal die Rechte von Homosexuellen.

Was ist mit der Linken passiert?

Die Linke ist im 19. Jahrhundert eine romantische Bewegung gewesen, die aus dem Bürgertum hervorgegangen ist, das ab einem gewissen Punkt feststellte, wie unmenschlich der aufkommende Kapitalismus war. Die Arbeiterbewegungen haben sich dann erst später entwickelt. Insofern haben wir von Beginn an zwei linke Bewegungen, auf der einen Seite die bürgerlichen Sozialdemokraten, auf der anderen Seite die Gewerkschaften. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verzichtete die bürgerliche Linke dann darauf, den Kapitalismus überwinden zu wollen, und am Ende des 20. Jahrhunderts richtete sie ihr Interesse auf Dinge, die eben nichts mehr mit den alltäglichen Fragen der Arbeiter und Angestellten zu tun haben und die im Grunde für das alltägliche Leben nicht wirklich wichtig sind.

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„Sichere Arbeit, sicheres Einkommen, sichere Zukunft“. Straßenwahlkampf im Budapester Arbeiterbezirk Csepel. (Foto: Privat/Gyula Thürmer)

Sicherlich sind die Fragen der Umweltpolitik, des Klimawandels und der Genderproblematik wichtig, aber sie nehmen zu viel Platz ein und übertünchen die tatsächlichen alltäglichen Sorgen der Menschen. Das sollten sie eigentlich nicht. In Westeuropa haben in den letzten Jahrzehnten die Gewerkschaften, die Großindustriellen und die Banken einen Kompromiss geschlossen. Jeder konnte auf diese Weise einigermaßen durchkommen, und so glaubte man, große soziale Konflikte vermeiden zu können. Der Preis dafür ist, dass selbst die Gewerkschaften heute nichts mehr gegen das Lohndumping tun.

Dann kam 2008 die große Finanzkrise, die eigentlich bis heute andauert. Die Weltwirtschaft ist seither mit einem kranken Menschen zu vergleichen, der an Fieber leidet und dem man nur einige Pillen zum Schlucken gibt, damit es ihm ein wenig besser geht. Er ist aber immer noch krank und zeigt immer neue Symptome. Das Coronavirus ist nur ein Symptom unter vielen, das aufdeckt, wie krank unsere Wirtschaft eigentlich ist. Und darum reicht es eben nicht mehr, was die Sozialdemokraten anbieten. Die Menschen spüren das und suchen nach irgendwelchen anderen Lösungen, um aus ihrer misslichen Lage herauszukommen.

Sie empfehlen also den Sozialdemokraten, sich wieder mehr den Arbeitern und Angestellten, also der arbeitenden Bevölkerung zuzuwenden?

Die Sozialdemokratie hat sich vollkommen aus dem Kampf gegen den Kapitalismus zurückgezogen. Sie hat den Kapitalismus akzeptiert und beschränkt sich darauf, ihn hie und da ein wenig menschlicher zu machen. In den siebziger Jahren war das dem Westen auch gelungen. Denn es gab ja die sozialistischen Länder, die den Menschen Arbeit und kostenlose Krankenversicherungen anboten.

Damals musste sich der Westen ein wenig am Osten messen und das Wirtschaftswachstum hat ihnen erlaubt, dies im großzügigen Stil auch zu tun. Heute gibt es keine sozialistischen Länder mehr, an denen sich der Kapitalismus zu messen hat. Insofern fallen sämtliche sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte den Kürzungen zum Opfer. Die Sozialisten fordern von den Reichen nichts mehr ein und kümmern sich stattdessen um Migranten und Transsexuelle. Wenn das so weiter geht, dann wird es bald zu einer sozialen Explosion kommen. Denn in der Bevölkerung brodelt es.

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Mit Mitstreitern auf dem Friedhof an der Fiúmei út beim Pantheon der Arbeiterbewegung. (Foto: Privat/Gyula Thürmer)

Gilt das auch für die Sozialisten in Ungarn?

In Ungarn hatten wir eine Linke, die nicht aus der Bourgeoisie stammte. Die Bourgeoisie gab es lange Jahrzehnte nicht mehr, und die sozialistische Elite hatte zahlreiche soziale Errungenschaften durchsetzen können. Nach der Wende kamen dann alte politische Strömungen wieder auf, die sich grob gesagt in zwei Lager teilten. Einerseits in das populistische und andererseits in das urbane Lager, das der intellektuellen Liberalen. Ersteres wurde vom MDF, das andere vom SZDSZ dominiert. Beiden war vor allem daran gelegen, den Sozialismus abzuschaffen.

DR. GYULA THÜRMER wurde 1953 in Budapest geboren. 1971-76 absolvierte er die Moskauer Universität für internationale Beziehungen (IMO). 1976-80 arbeitete er im Außenministerium, 1980-82 an der ungarischen Botschaft in Moskau. 1982-88 war er für die außenpolitische Abteilung der damaligen Regierungspartei MSZMP tätig. 1985-88 war er direkt für MSZMP-Generalsekretär János Kádár und danach bis 1989 für dessen Nachfolger Károly Grósz tätig. Beide begleitete er bei zahlreichen internationalen Treffen. 1989 nahm er an der Gründung der Munkáspárt (dt.: Arbeiterpartei) teil, auf deren 1. Parteitag er am 17. Dezember 1989 zu ihrem Präsidenten gewählt wurde. Bis heute hat er diese Position inne. Er beherrscht sieben Fremdsprachen, darunter Deutsch. Thürmer bekennt sich zum Marxismus und Kommunismus, allerdings nicht mit Blick auf dessen blutige Geschichte (Stalinismus etc.), sondern in Hinsicht auf die Zukunft als Gegenentwurf zum Kapitalismus, den er ablehnt.

Gleichzeitig wurde mit der MSZP eine neue Form der Sozialdemokratie geschaffen. Diese Partei war aber nicht von Arbeitern ins Leben gerufen worden, sondern von der sozialistischen Elite des Kádár-Regimes. Darum dachten auch viele, dass man mit Leuten wie Gyula Horn oder Péter Medgyessy gewisse Prinzipien aus der Zeit von Kádár in die Nachwendezeit hinüberretten könnte.

Doch dem war nicht so. Gyula Horn ging als erster mit den liberalen Intellektuellen des SZDSZ eine Koalition ein und ließ zu, dass bestimmte liberale Prinzipien in die Politik der MSZP einflossen. Von daher ist der Nachwende-Sozialismus in Ungarn immer nur ein relativer Sozialismus. Das liberale Prinzip der Regulierung durch den Markt wird nun selbst in dieser sogenannten sozialistischen Partei einfach rundherum akzeptiert. Das kann aber nicht sozialistisch sein.

Zudem kämpft diese Linke für die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“. Damit wird der Ruf nach einem Minimallohn und nach besserer Bezahlung einfach auf ein europäisches Niveau verschoben. Meiner Meinung nach täte die Linke gut daran, sich in erster Linie in unserem Land wieder den täglichen Bedürfnissen der Menschen zuzuwenden. Die Leute haben keine Arbeit oder sie haben schlecht bezahlte Arbeit, sie sind krank und bekommen keine richtigen Medikamente, sie können im Winter nicht heizen. Das sind die wichtigen Fragen unserer Zeit und nicht, was gerade an der Universität für Schauspielkunst geschieht.

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„Bei den nächsten Parlamentswahlen 2022 wollen wir als echte sozialistische Alternative antreten.“ (Fotos: Privat/Gyula Thürmer)

Der Westen sieht ja in den Migranten eine Möglichkeit, die wirtschaftliche Situation Europas zu verbessern. Auch die linken Parteien rufen nach Solidarität und meinen ebenfalls, dass Europa von der Arbeitskraft dieser Menschen nur profitieren könne. Wie sehen Sie das?

Als die ersten Migranten am Budapester Ostbahnhof zu sehen waren, hat das natürlich auch innerhalb unserer Partei viele Diskussionen ausgelöst. Einige Genossen sind dann zu dem Bahnhof gefahren und haben die Menschen dort mit Essen und Kleidung versorgt. Ich glaube, das war in ganz Europa so, in Griechenland, in der Türkei und auch in Österreich.

Dann haben wir aber sehr schnell Stopp gerufen, denn es war von Anfang an klar, dass diese Menschen bereit wären, für noch weniger Geld als die Einheimischen zu arbeiten und von daher deren Löhne wieder zu sinken drohten. Das ist ja, was gerade in Westeuropa passiert. Zudem verändert so eine massive Einwanderung notgedrungen den Charakter eines Landes, und das bringt zusätzlich große kulturelle Probleme. Wir denken von daher, dass diese Menschen keine Verbesserung für die bereits prekären Arbeitsverhältnisse der hiesigen Bevölkerung bringen und es besser ist, den Migranten lieber dort zu helfen, wo sie herkommen.

Ist das nicht genau das Argument der aktuellen Regierungspartei Fidesz?

Ja, dieses Thema steht auf den Fahnen der Regierungspartei und kann von daher von keiner anderen Partei übernommen werden. Es wird zurzeit aber von beiden Seiten thematisiert, von der Rechten wie von der Linken. Beide haben dafür andere Gründe. Uns geht es in erster Linie darum, dem internationalen Kapital Grenzen zu setzen.

Die MAGYAR MUNKÁSPÁRT (dt.: Ungarische Arbeiterpartei) entstand neben der MSZP als Nachfolgepartei der im Oktober 1989 aufgelösten ehemaligen Regierungspartei. Bisher nahm sie an allen Parlaments- und Kommunalwahlen teil. Allerdings konnte sie bisher nur auf kommunaler Ebene einige kleine Erfolge verbuchen. Ihr bestes Wahlergebnis bei Parlamentswahlen erzielte sie 1998 mit 3,95 Prozent (183.064 Stimmen), 2018 kam sie nur noch auf 0,27 Prozent (15.640 Stimmen). Auf internationaler Ebene pflegt die Munkáspárt unter anderem Beziehungen zu kommunistischen und Arbeiterparteien in Russland, Griechenland, Portugal, Tschechien und der Türkei. Mit der deutschen Linken unterhält sie derzeit keine Beziehungen.

Wie ist Ihr Kontakt zur linken MSZP?

Wir haben mehrfach versucht, uns der MSZP wieder zu nähern, bisher leider ohne großen Erfolg. Daher wollen wir uns in Ungarn als die wahre Linke etablieren. Uns geht es um die Interessen der ungarischen Arbeiter und Angestellten. Wir finden auch, eine zu enge Bindung an die EU führt dazu, dass sich das europäische Kapital und der europäische Kapitalismus hier zu fest etablieren. Die Menschen in Ungarn sind aufgewacht und merken, dass vieles, was ihnen als erstrebenswert präsentiert wurde, zwei Seiten hat. An diese Menschen wollen wir uns wenden, für sie wollen wir bei den nächsten Parlamentswahlen 2022 eine echte sozialistische Alternative sein.

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