In Sachen Corona unbedenklich. (Foto: MTI / Zsolt Szigetváry)

Musikindustrie in Ungarn zeigt sich enttäuscht

Konzerte bleiben auf 500 Teilnehmer beschränkt

Weltweit sucht die Musikindustrie in der Coronakrise nach Wegen, um zu überleben. Wenn schon Weltstars überlegen müssen, wie sie die Krise überdauern, wie viel schwieriger ist es dann erst für lokale Größen? Deshalb lagen die Hoffnungen der heimischen Musikindustrie in der vergangenen Woche auf Gergely Gulyás. Er verkündete am Mittwoch, wie es nach dem 15. August in Sachen Massenveranstaltungen weitergehen soll.

Noch bevor die Regierung eine Entscheidung traf, sprachen sich viele ungarische Künstler dafür aus, die Beschränkungen zu lockern. Mit teils drastischen Worten baten sie darum, endlich wieder das tun zu dürfen, was sie am besten können: Menschen unterhalten.

Mit zweierlei Maß

Schon zu diesem Zeitpunkt hatten sowohl der bekannte ungarische Rapper Majka als auch die Musikgruppe Hooligans – und mit ihnen zahlreiche andere Künstler – der Regierung öffentlich die Frage gestellt, warum Konzerte und Kulturveranstaltungen auf maximal 500 Teilnehmern beschränkt sind, während Sportveranstaltungen mit bis zu 20.000 Teilnehmer erlaubt werden.

Gerade einmal drei Wochen lang waren Fußballstadien mit strengen Beschränkungen belegt. Seit dem 28. Mai gab es zwar nur Geisterspiele, doch bereits Mitte Juni wurden die Stadien erneut für die Zuschauer geöffnet.
Gottesdienste und Messen waren in ländlichen Gebieten bereits ab Mai wieder möglich, wenn auch unter strengen Auflagen. So durften beispielsweise nur Menschen unter 65 Jahren und mit Maske an den Gottesdiensten teilnehmen. Außerdem wurden auch Segnungen und andere Teile der Liturgie verändert.

In Sachen Corona bedenklich. (Foto: Facebook)
(Foto: Facebook / Strand Festival)

Am Mittwoch vergangener Woche ereilte die Musikindustrie dann die Schocknachricht, dass Konzerte mit mehr als 500 Teilnehmern aufgrund der Corona-Krise auch nach dem 15. August nicht gestattet sein werden.
Zwar sprach Kanzleramtsminister Gergely Gulyás davon, dass man die Situation Ende Juli erneut bewerten würde, er sagte aber ebenfalls: „Zahlreiche Argumente sprechen dafür, solche Veranstaltungen auch nach dem 15. August nicht zuzulassen.”

Konzert- und Festivalveranstalter hatten jedoch darauf spekuliert, dass die Infektionslage in Ungarn stabil ist und die Regierung deswegen zumindest die letzten Wochen des Sommers für Open-Air-Vergnügungen freigeben würde. Die nun in Aussicht gestellte Aufrechterhaltung der Beschränkungen lässt ihnen kaum Spielraum. Sollte sich Ende des Monats herausstellen, dass tatsächlich alle Beschränkungen in Kraft bleiben – große Konzerte also auch weiterhin nicht stattfinden können –, würde dies die eh schon angeschlagenen Veranstalter vor die schier unlösbare Aufgabe stellen, binnen Tagen oder Wochen entweder einen neuen Termin zu finden oder Tickets zurückzuerstatten und Vertragsstrafen zu zahlen.

Wenig hoffnungsvolle Aussichten für Konzertveranstalter. Doch wie steht es um die heimische Musikindustrie? Wie geht es ungarischen Musikern dieser Tage?

Vom Stargitarristen zum Pizzaboten

Gut steht es um sie nicht, so viel ist sicher. Anna Pásztor, Frontfrau der bekannten ungarischen Band „Anna and the Barbies” äußerte sich in der vergangenen Woche gegenüber dem Radiosender Spirit FM pessimistisch: Die Hälfte ihrer Band müsse mittlerweile bereits als Pizzabote oder Klimaanlagenmonteur arbeiten. Manche leben von Ersparnissen. Dabei zählt die Band durchaus zu den wenigen ungarischen Größen, die sonst ganze Stadien füllen. Die Gruppe hat sogar eigene alternative Festivals organisiert, wie etwa das „Woodstock az Ugaron”. Pásztor blickt in eine ausgesprochen düstere Zukunft. Sie geht davon aus, dass ein halbes Jahr Zwangspause viele Bands ins Aus katapultieren wird, sodass diese in Zukunft nur noch als Hobbymusiker aktiv sein können.

Dabei fehlt Pásztor das Verständnis für bestimmte Regeln. Wie sie sagt, hätte sie von Anfang an versucht, alle Bestimmungen einzuhalten, aber es gebe Gesetze, die sie, wie sie sagt, „schlicht nicht begreifen kann”.
So ist es ihrer Ansicht nach ungerecht, dass an eben jenen Orten, an denen Fußballspiele vor Fans abgehalten werden können, keine Konzerte gestattet sind.

Auch der Rapper Fluor zeigt Unverständnis für die Entscheidung. Dem Boulevardblatt Blikk sagte er: „Ich bin enttäuscht und voller Wut, mit der ich nichts anzufangen weiß. Ich kann akzeptieren, dass Notstand herrscht, und auch ich möchte nicht, dass jemand nach einem Wellhello-Konzert erkrankt oder gar stirbt. Aber ich halte es für ungerecht, dass währenddessen Fußballspiele abgehalten werden dürfen. Ich empfinde die gegebene Erklärung, die alles auf den Alkoholkonsum schiebt, ausgesprochen dämlich. Wir haben eine bessere Lüge verdient.”

Rettungspaket für Musiker in Planung

Das Nachrichtenportal index.hu sprach mit Festivalveranstaltern und zitiert diese anonym. Sie alle, so das Portal, seien sich darüber einig, dass es sogar besser gewesen wäre, wenn die Regierung einfach direkt gesagt hätte, dass bis Ende August keine Großveranstaltungen abgehalten werden dürfen. Denn über Monate hinweg ging man in der Branche fest davon aus, dass die Beschränkungen Mitte August gelockert werden, schon deshalb, weil man glaubte, die Regierung würde das Feuerwerk am 20. August nicht ausfallen lassen.

Ein anonymer Veranstalter beklagt sich, dass bisher nicht bekannt sei, ob die Beschränkung auf 500 Personen für Veranstaltungen generell gelte oder ob im Falle von mehreren Bühnen, beispielsweise bei Festivals, pro Bühne 500 Personen eingelassen werden dürfen. Er sagt: „Die Branche sucht nicht nach Hintertürchen, sondern erwartet klare Regelungen, doch dafür braucht es eine allgemeine Offenheit zum Dialog. Doch momentan spüre ich nicht, dass die Entscheidungsträger die Probleme der Musikindustrie verstehen würden.”

Szilárd Demeter, der Direktor des ungarischen Petőfi-Literaturmuseums, sprach am vergangenen Montag in den Abendnachrichten des Privatsenders RTL davon, dass er bis Ende des Monats einen detaillierten Vorschlag für ein Rettungspaket für Musiker vor die Regierung bringen will. Demeters Ziel ist es dabei nicht, Einzelfälle zu behandeln, sondern eine umfassende Lösung zu präsentieren und vor allem unbekannteren Musikern unter die Arme zu greifen. Dazu soll es beispielsweise staatliche Unterstützung für den Dreh von Musikvideos und die Aufnahme neuer Platten geben.

Auch klassische Musik betroffen

Doch nicht nur Musiker aus den musikalisch seichteren Gewässern trifft die Krise hart. Auch klassische Musiker straucheln. Alpaslan Ertüngealp arbeitet als Dirigent in Ungarn und sieht in der derzeitigen Situation eine „existentielle Krise für die meisten Musiker”. Für größere Orchester sind weder gemeinsame Proben noch Konzerte gestattet. Auch die Option online zu gehen, besteht für sie nicht: „Im Netz zu unterrichten, ist nur beschränkt möglich. Der Fluch des Onlineunterrichts ist die Einseitigkeit. Es ist einfach nicht so interaktiv, wie wenn man im selben Raum ist. Die digitale Welt ist noch nicht entwickelt genug, um Ton und Bild in vollkommenem Einklang wiederzugeben. Oft ist es nicht synchron und die Qualität schlecht. Online-Vorstellungen wären nur möglich, wenn dafür ein größeres Orchester samt Dirigenten in einem Raum zusammenkommen dürfte.” Doch dies ist aufgrund der derzeitigen Beschränkungen ebenfalls nicht möglich.

Dirigent Alpaslan Ertüngealp: „Den Künstlern bleiben momentan kaum Möglichkeiten, in ihrem Beruf tätig zu sein.” (Foto: Privat)

Auf die Frage, wie er die Entscheidung, die Beschränkungen aufrechtzuerhalten, beurteilt und wie sein Plan B aussieht, antwortet der Dirigent offen: „Vorerst habe ich keine Alternative und das ist sehr traurig. Natürlich müssen wir die Pandemie und eine eventuelle zweite Welle immer im Blick behalten. Niemand will krank werden oder seine Mitmenschen anstecken, aber die Entscheidungsträger stimmen sich nicht mit Vertretern im Kulturbereich ab. Hier genießen Gesundheit und Wirtschaft Priorität. So bleiben den Künstlern momentan kaum Möglichkeiten, in ihrem Beruf tätig zu sein.”

Gefahr für den Kulturtourismus

Auch für die Entscheidung, Sportereignisse und Gottesdienste zuzulassen, hat der Dirigent wenig Verständnis: „Ich weiß nicht, was der Hintergrund der Entscheidung ist. Der Großteil der Sportereignisse findet im Freien statt. Diese kann man nicht mit Veranstaltungen in geschlossenen Räumen vergleichen. Aber Kirchen sind geschlossene Räume. In modernen Konzertsälen gibt es entsprechende Belüftungssysteme. Die Luft wird ausgetauscht – nicht wie in Flugzeugen, wo die Luft nur zirkuliert und man über Stunden hinweg dieselbe Luft einatmet. Ähnlich wie in Kirchen könnten auch in Konzertsälen Konzerte mit begrenzter Teilnehmerzahl abgehalten werden. In China und anderen Ländern wurde dies bereits eingeführt.”

Doch Alpaslan Ertüngealp spannt den Bogen noch weiter: „Da Konzerte und Festivals nicht stattfinden, versiegt der Kulturtourismus. Dies wird die Gastronomie unmittelbar betreffen. Die Einnahmeausfälle der Hotels und Restaurants können durch die „begrenzte” Zahl einheimischer Touristen langfristig nicht ausgeglichen werden. Daneben kämpfen auch Reisebüros sowie Flug- und Busgesellschaften mit finanziellen Problemen. Hier geht es also nicht nur um Künstler, Musiker und Darsteller. Doch für sie ist es derzeit am schlimmsten, das ist Fakt. Die meisten von ihnen haben gerade kein Einkommen. Sie alle werden sich langfristig in anderen Bereichen nach Arbeit umsehen, und das in einer Welt, in der die Arbeitslosigkeit schon jetzt gefährliche Ausmaße angenommen hat.”

Der Dirigent sieht die Gefahr eines Dominoeffekts. Er weiß, dass Kunst und Kultur nicht unabhängig von der Wirtschaft betrachtet werden können: „Es hängt alles zusammen. Der Tag wird kommen, an dem das Radio keinen neuen Song mehr spielen, das Fernsehen keinen neuen Film mehr zeigen kann.”

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