Zeichensprache in Ungarn
In stetigem Wandel
„Noch an der Uni begegnete mir Zeichensprache als Spezialsprache. Ich habe mich sofort in sie verliebt.“ Beim Nationalen Verband der Tauben und Schwerhörigen (SINOSZ) lernte sie die Grundlagen, bis ganz zur Mittelstufe. „Allerdings ist Zeichensprache bisher nicht als Fremdsprache akkreditiert, deswegen gibt es noch keine offizielle Sprachprüfung, aber quasi ‚hausintern‘ sind die Prüfungen analog zu internationalen Beispielen aufgebaut.”
Europäische Zeichensprachen ähneln sich
Im Gegensatz zur Amerikanischen Zeichensprache (ASL), in der hauptsächlich buchstabiert wird, sind europäische Zeichensprachen wesentlich bildlicher. Die ungarische Zeichensprache basiert tatsächlich auf der österreichischen, „dies ist historisch bedingt“, erklärt Katya. Denn die erste Schule für Taubstumme wurde in Ungarn 1802 gegründet: „Ungarn war damals – und ist es leider bis heute – wie eine Insel und etwas hinterher. Lehrer aus Österreich kamen nach Budapest an die Schule und unterrichteten die ersten Kinder in Zeichensprache.“ Damit war Ungarn eines der letzten Länder, denn bereits 1770 wurde in Frankreich durch Charles-Michel de l’Épée die erste Schule für taube Kinder gegründet, Leipzig (1778), Berlin (1778) und Wien (1779) folgten kurz darauf. Erst mit de l’Épée setzte sich der Gedanke durch, dass Taube nicht etwa geisteskrank sind, sondern lediglich auf anderem Wege kommunizieren.
Wohl auch deswegen ähneln sich die nationalen Zeichensprachen in Europa und auch in Ungarn ist der österreichische Einfluss noch spürbar, „doch sobald die Grundlagen unterrichtet waren, entwickelte sich die ungarische Zeichensprache durch ihre Nutzer und nationale Eigenheiten weiter.“ Dies ist bis heute der Fall, denn wie auch in der gesprochenen Sprachen besteht in der Zeichensprache permanent Bedarf an neuen Begriffen. „Vor allem technische Innovationen bereichern die Zeichensprache.“
Zeichensprache geht mit der Zeit
Es kann aber auch vorkommen, dass ein Begriff sich über die Zeit verändert. Besonders markant ist dafür das Beispiel des Mobiltelefons: „Als Mobiltelefone auf den Markt kamen, war das Zeichen dafür das, was auch Hörende fürs Telefon benutzen, Daumen und kleiner Finger ausgestreckt und ans Ohr gehalten. Je mehr die Menschen jedoch auf Smartphones umstiegen, änderte sich auch die Geste fürs Mobiltelefon und statt des „Hörers“ wurde jetzt die Geste gezeigt, wie man sein Telefon entsperrt. Eine Zeit lang waren beide Gesten im Umlauf, doch heute hat sich die moderne Smartphone-Variante durchgesetzt.“
Abstrakte Begriffe werden jedoch mittels Konsens bestimmt und akzeptiert. „Es gab sogar mal den Versuch eines Sprachlabors im SINOSZ, bei dem Menschen ihre Bedürfnisse nach Zeichen für bestimmte Begriffe einsenden konnten und erfahrene Linguisten und Zeichensprecher dann Gesten für diese entwickelten. Leider gibt es dafür derzeit keine Finanzmittel, aber es war wirklich spannend zu sehen, wie sich die Sprache entwickelt.”
Doch nicht nur so verändern sich Gesten in der Zeichensprache. So ist diese besondere Form der Kommunikation eine Kommunikation des ganzen Körpers: „Es ist oft so, dass eine Geste mehrere Bedeutungen haben kann. ‚Gehen‘ beispielsweise kann entweder entspanntes Schlendern oder gehetztes Eilen bedeuten. Je nachdem, wie wir es zeigen und wie wir den Körper dazu bewegen sowie unsere Mimik spielen lassen.” Ebenso wie bei der verbalen Kommunikation spielt die Stimmlage eine große Rolle, wobei diese in der Zeichensprache durch Körpersprache ersetzt wird.
Doch Gesten können sich auch durch die sogenannte Inkorporation verändern: „Es gibt eine Urform des Wortes, beispielsweise Auto. Die Geste ist die Handhaltung, wie man das Lenkrad hält, dies nennt man die pro forma-Form. Doch wenn wir das Wort in einen aktiven Kontext bringen, also beispielsweise darüber reden wollen, dass wir mit dem Auto irgendwohin gefahren sind, dann wird das Auto mit der flachen Hand, mit der Handfläche nach unten, dargestellt, die wir so bewegen, wie Kinder ihre Spielzeugautos schieben. Dies hingegen heißt Inkorporation.”
Fast wie Esperanto
Durch die starke bildliche Prägung der Zeichensprache ist es auch Menschen unterschiedlicher Herkunft möglich, sich in Zeichensprache zu unterhalten: „Ich war vor kurzem auf einer internationalen Konferenz und habe dort drei Menschen aus drei verschiedenen Ländern gesehen, die sich angeregt unterhalten haben. Alle in ihrer eigenen, nationalen Zeichensprache und doch konnten sie sich verständigen.“
Dies funktioniert natürlich nur bis zu einem gewissen Grad. Gespräche über abstrakte Themen sind so nicht mehr möglich, aber der inklusive Moment hat Katya trotzdem sehr gefallen. Wohl auch, weil sie aus Erfahrung weiß, wie schwer es Menschen mit beschränktem oder ohne Hörvermögen auch heute noch haben: „In Ungarn wird noch immer die ‚orale Ausbildung‘ verfolgt. Das bedeutet, dass Menschen ohne Hörvermögen das verbale Sprechen beigebracht wird und erst danach die Zeichensprache, wobei im Rest Europas taube Kinder von Anfang an in Zeichensprache, also in ihrer eigenen Sprache, unterrichtet werden.”
Laut der erfahrenen Dolmetscherin und Linguistin bringt die gesprochene Sprache jedoch nur dann etwas, wenn dieser ein fundiertes Wissen der Zeichensprache zugrunde liegt: „Bei Kindern kann es sogar zu schweren kognitiven Schäden führen, wenn sie sich zuerst zu stark auf das Sprechen konzentrieren.” Dies ist vor allem dann ein Problem, wenn hörende Eltern ein taubes Kind bekommen. „In diesem Fall ist es enorm wichtig, dass das Kind so früh wie möglich die Zeichensprache lernt, um die kognitive Entwicklung zu ermöglichen, ansonsten bleibt das Kind in seiner Entwicklung massiv zurück.“
Entwicklung von Sprach- und Denkvermögen
So weiß Katya von Beispielen, in denen das taube Kind hörender Eltern zwar mit 6 Jahren in die Schule kam. Da die Eltern jedoch keine Zeichensprache sprachen und somit die Kommunikationsfähigkeit – und damit auch das Denkvermögen – des Kindes massiv zurückgeblieben war, war das Kind auf dem geistigen Stand eines Zweijährigen. Das Kind war quasi in seinem eigenen Kopf gefangen. „Wir brauchen Sprache, um uns zu entwickeln. Und auch für Verhaltensauffälligkeiten ist oft die Unfähigkeit sich selbst verständlich zu machen der Grund.“
Katya erinnert sich an einen Siebenjährigen, der in der Schule auffällig war, sich oft prügelte und aggressiv war. Er wurde von der Schule in die Psychiatrie eingewiesen, wo Katya ihm als Dolmetscherin zur Seite gestellt wurde: „Und da wurde mir schlagartig klar, woher seine Aggression rührt. Es schien, als hätten seine Eltern einfach nicht wahrgenommen, dass er nicht hört. So stand sein Vater beispielsweise mit dem Rücken zu ihm, während er zu ihm sprach. Das Kind konnte sich nicht mit den eigenen Eltern verständigen, kein Wunder, dass es irgendwo Dampf ablassen musste.”
Noch schlimmer seien nur Eltern, die versuchen würden, ihr Kind zu „heilen“: „Es kommt immer wieder vor, dass Eltern einfach alles tun wollen, um ihr Kind hören zu lassen – auch wenn es vollkommen aussichtslos ist. Wir hören und treffen immer wieder Kinder, die eine extrem spezielle Hörnerv-OP über sich ergehen lassen mussten. Diese OP hilft nur in etwa zehn Prozent der Fälle, wird aber trotzdem weit häufiger angewandt, weil Eltern einfach verzweifelt sind.”
Mentoren-Programm für Eltern
Auch deswegen hat Katyas Stiftung „Zeichen“ (Jel Alapítvány) ein Mentoren-Programm für Eltern auf den Weg gebracht: „Einzige Voraussetzung, um ein Mentor-Elternteil zu werden ist, ein hörgeschädigtes Kind zu haben.” Nach einem Lehrgang sind es dann diese Mentoren-Eltern, die anderen Eltern dabei helfen können, mit den Schwierigkeiten und (auch emotionalen) Herausforderungen umzugehen, die ein hörgeschädigtes Kind mit sich bringt. „Es gibt einfach wahnsinnig viel Kraft, wenn du deine Informationen nicht aus Facebook-Gruppen beziehst, sondern jemanden aus Fleisch und Blut vor dir hat, der genau weiß, wie du dich gerade fühlst.“
Generell steht die Familie im Zentrum der Arbeit der Stiftung, sprich all jene Familien, die ein hörgeschädigtes Familienmitglied haben – natürlich neben der Zeichensprache an sich: „Wir möchten allen Altersgruppen etwas anbieten, was ihnen zeigt, dass es nichts gibt, weswegen Hörgeschädigte weniger wert wären.”
Weitere Informationen, allerdings nur auf Ungarisch: