Blaufärbermeisterin Ildikó Tóth (r.) mit Mutter und Familie. Ihr Urgroßvater, Péter Éhling, gründete 1906 die Blaufärberwerkstatt. Foto: Balázs Csapó

Besuch in der Győrer Blaufärberwerkstatt

Hier kann man sein blaues Wunder erleben

Schlendert man durch die engen, verwinkelten Gassen der liebevoll sanierten historischen Altstadt von Győr, stößt man unweigerlich auf einen kleinen Laden, an dem man einfach nicht vorbeigehen kann – auch ich konnte mich der Anziehungskraft dieses Ladens nicht erwehren.

Tritt man in das in traditionellem Blau gehaltene Ladengeschäft, fühlt man sich wie ein Zeitreisender. Die Einrichtung stammt aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts, erzählt mir Ildikó Tóth, die Eigentümerin und Blaufärbermeisterin.

Seit über einhundert Jahren

„Mein Urgroßvater, Péter Éhling, gründete im Jahre 1906 die Blaufärberwerkstatt und eröffnete hier einen seiner Läden.“ Seit über hundert Jahren also betreibt hier eine Familie das traditionelle Handwerk und gibt es von Generation zu Generation weiter.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass seit der Gründung der Blaufärberwerkstattt immer Frauen das Handwerk weiterführen, da in der Familie seit Generationen keine männlichen Nachfahren geboren werden. Ildikós Mutter hilft trotz ihres hohen Alters immer noch aktiv im Laden mit. Auch das derzeitige Eigentümerpaar hat zwei erwachsene Töchter, die zwar andere berufliche Wege beschreiten, aber dennoch das Handwerk erlernt haben, denn sie sind ja damit aufgewachsen.

Ich lasse meinen Blick über das blaue Angebot des Ladens schweifen: Auf Regalen fein säuberlich gestapelte Stoffballen mit wunderschönen Mustern. Auf der antiken Reisetruhe steht ein kleiner Tannenbaum, geschmückt mit Engelchen, Maria mit dem Jesuskind – wie sollte es anders sein – im traditionellen Blaufärberstil.

Durch Oxidation an der Luft entfaltet sich die blaue Farbe. Foto: Péter O. Jakócs

Eine 100 Jahre alte Tretnähmaschine ist ebenfalls dekoriert mit Geschenkartikeln, wie zum Beispiel Lavendelsäckchen, Topflappen, Brotkörben, Kühlschrankmagneten, und noch vielem mehr. Am Kleiderständer gleich an der Eingangstür hängen Einkaufstaschen, Schürzen, Röckchen, Hals- und Kopftücher. An den Wänden sehe ich Kalender, Haussegen – sogar auf Deutsch und Englisch – und immer wieder alte Dokumente und Fotos der Vorfahren.

Weihnachtliche Produkte

Überwältigt von der riesigen Auswahl an bezaubernden Kleinigkeiten kann ich mich natürlich nicht zurückhalten, und im Handumdrehen ist meine Einkaufstasche voll mit blauen Kreationen. Währenddessen erkundige ich mich bei Ildikó, welche Artikel die Bestseller sind. „In der Adventszeit werden natürlich die weihnachtlichen Produkte bevorzugt. Aber auch Tischdecken und Accessoires werden gerne gekauft. Unsere Kunden nehmen derzeit lieber die kleinen Teile, denn die Meterware und die großen Tischdecken sind doch recht hochpreisig. Dennoch haben wir auch für die Meterware regelmäßige Abnehmer.“

Natürlich möchte ich mehr wissen, über die Technik des Blaufärbens und die Arbeit der Blaufärberfamilie. Auf meine neugierigen Fragen gibt Ildikó erschöpfende Antworten, aber da immer wieder Kundschaft bedient werden möchte, müssen wir ebenso häufig eine Pause einlegen. Kurzerhand lädt sie mich zu einem Besuch in die Werkstatt ein, da kann ich natürlich nicht Nein sagen, und wir machen einen Termin aus.

Zu Besuch in der Färbergasse

So mache ich mich ein paar Tage später auf den Weg in die Festő utca (zu Deutsch: Färbergasse) im Stadtteil Sziget (Insel), wo die Blaufärberwerkstatt des Urgroßvaters auch schon beheimatet war. Das Handwerkerehepaar führt mich in das alte Haus und zuallererst erhalte ich einen kurzen historischen Überblick.

Laut schriftlicher Aufzeichnungen ließen sich Blaufärber erstmals um 1700 in Győr nieder. Da für dieses Handwerk sehr viel Wasser benötigt wird, waren die Werkstätten immer an Flußufern angesiedelt, wie hier, wo früher die Rábca floss. Als Anfang des 20. Jahrhunderts der jetzige Stadtteil mit Győr vereint und der Flusslauf umgeleitet wurde, saßen die Färber praktisch auf dem Trockenen. „Mein Urgroßvater war ein innovativer und auch wagemutiger Mann. Er ließ damals eine Wasserleitung in die Straße und die Werkstatt legen, so dass er seine Arbeit weiterführen konnte. In der damaligen Zeit war das fast revolutionär.”

Der Verkaufsladen in der Győrer Altstadt. Foto: Rita Solymár

Ursprünglich lebte die Familie vom Färben von Wollgarn und Teppichen sowie anderen Textilien. Außer in Győr betrieben sie auch Geschäfte in Pápa und Celldömölk. Daneben besuchten sie regelmäßig Märkte in den ehemals ungarischen Gebieten der heutigen Slowakei, auf der Schüttinsel, aber auch in Kisbér und anderen Gemeinden der Umgebung.

Niedergang und Renaissance

Die Blütezeit des Blaufärberhandwerks dauerte bis zum Zweiten Weltkrieg. Damals legten die Frauen ihre Tracht nieder – heute würde man sagen, es war nicht mehr „in“. Außerdem waren viele Ungarndeutsche (Donauschwaben), die bis dahin noch Tracht trugen, nach dem Krieg gezwungen, ihre Heimat Ungarn zu verlassen.

In den 1950er Jahren ging auf Grund der schwierigen wirtschaftlichen Situa­tion und der schlechten Versorgungslage die Nachfrage nach handgefertigten Stoffen stark zurück. Die industrielle Produktion verdrängte die kleinen Handwerksbetriebe. In den 1970er Jahren erfreuten sich die Blaudruckstoffe dann wieder zunehmender Beliebtheit, und heutzutage erlebt der Blaudruck eine regelrechte Renaissance.

Ildikós Mann Zsolt, ein gelernter Feinmechaniker, eignete sich neben seiner Ehefrau die Technik des Blaufärbens an. Diese erklärt und veranschaulicht er mir ganz detailliert.

Streng geheime Reserveschicht

Der zu färbende Stoff ist immer Baumwolle oder Leinen, Kunstfaser lässt sich nicht färben, auch Fasergemische sind nicht geeignet zum Färben. Der weiße Stoff wird zunächst in heißem, mit Waschmittel versetztem Wasser gewaschen, um beim Weben entstandene Verschmutzungen zu entfernen. Nach dem Trocknen und Bügeln der Stoffe wird mit Hilfe der Druckstöcke eine sogenannte Reserve­schicht aufgetragen – diese wird Papp genannt. Beim Färben verhindert sie, dass der Farbstoff mit dem Stoff in Berührung kommt, dadurch werden die weißen Muster auf dem blauen Stoff fixiert.

Woraus besteht dieser Papp, möchte ich wissen. „Hauptsächlich aus Gummiarabikum, Tonerde und Harz, vermischt mit etwas Wasser und Öl, sowie Kupfervitriol für die bessere Haltbarkeit. Aber die genaue Zusammensetzung wird in jedem Betrieb streng geheim gehalten“, erklärt er schmunzelnd.

Ich bewundere die vielen Druckstöcke in der Werkstatt. Früher wurden diese geschnitzt, seit rund 150 Jahren sind vorwiegend mit Messingstiften beschlagene Modeln im Gebrauch, erfahre ich von dem Blaufärber. „Wir haben hier mehr als 500 Druckstöcke, mit denen wir verschiedene Bordürenmuster oder auch Muster für Meterware auftragen können. Die Restaurierung der alten Modeln sowie die Anfertigung von neuen ist mein Part, den ich sehr gerne übernehme.“

Jahrtausendealtes Verfahren

Wodurch entsteht diese tolle tiefblaue Farbe der Stoffe, frage ich den Färbermeister. „Der blaue Farbstoff kann aus zwei Pflanzen gewonnen werden, einerseits aus Färberwaid, das auch in Europa heimisch ist, andererseits aus Indigo, das nur unter wärmeren klimatischen Bedingungen gedeiht. Der Name Indigo steht für indisches Blau, was untermauert, dass das Blaufärben ursprünglich aus Indien stammt, auch wenn das jahrtausendealte Verfahren schon im alten Ägypten und China angewandt wurde.“

Wie sieht nun der Färbevorgang aus, wie geht die wundersame farbliche Verwandlung der Stoffe vor sich? „Das traditionelle Blaufärben ist ein komplexer und auch langwieriger Vorgang“, erklärt Zsolt und zeigt mir die einzelnen Stationen des Färbens. „Nach dem schon erwähnten Musterdruck muss der Stoff trocknen, danach wird er auf einen Kronreifen gehängt, der bis zu 30 m Stoff tragen kann. Schließlich wird der Stoff in einen mit Färbelösung gefüllten Bottich getaucht.“ Ich darf in den drei Meter tiefen brunnenartigen Behälter schauen und bekomme eine Gänsehaut.

„Der Stoff bleibt 15 Minuten in der Farb­lösung, danach wird er herausgezogen. Durch Oxidation an der Luft entfaltet sich dann die blaue Farbe. Dieser Vorgang wird 10 bis 12 Mal wiederholt, je nachdem, welche Farbintensität gewünscht wird. Nach dem Färben wird die Musterdruckmasse mit einer schwachen Säurelösung entfernt, dadurch kommen die weißen Ornamente zum Vorschein.“ Das ist dann wohl der Moment, wenn aus der gelb-grünen Farbe ein ausdruckstarkes Blau wird – und man sein blaues Wunder erlebt, denke ich.

Zeitaufwändiger Prozess

Zum Schluss werden die Stoffe mehrmals gespült, an der Luft getrocknet und gebügelt. Fertig. Hört sich ganz einfach an, aber ich muss konstatieren, dass das nicht nur langwierig klingt, sondern tatsächlich ein zeitaufwändiger Prozess mit dem Einsatz von vielen-vielen Arbeitsstunden ist.

Ich bin tief beeindruckt von diesem alten, langsamen Verfahren in unserer schnelllebigen Zeit. Kein Wunder, dass das Endprodukt einen hohen Wert darstellt. Das Blaufärben ist harte Arbeit. Der Begriff Blaumachen, der landläufig dem Nichtstun gleichgesetzt wird, rührt daher, dass die Färbergesellen in der Sonne lagen, während sie darauf warteten, dass sich der Stoff an der Luft blau färbt.

Fotos: Rita Solymár

Die Blaufärberleute erzählen stolz, dass sie schon die ganze Welt bereist und ihre Handwerkskunst von Washington bis Shanghai vorgestellt haben. Sie waren schon fast überall in Europa eingeladen, unter anderem in London auf dem Themse-Festival, auf der Mailänder Expo, in Russland, Frankreich, Polen, in der Slowakei und in Serbien. In Österreich und Deutschland waren sie sogar mehrmals auf Ausstellungen und Veranstaltungen präsent, um ihre Arbeiten zu zeigen.

Immaterielles Kulturerbe

2018 wurde das Blaufärberhandwerk in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Anlässlich dieses Ereignisses fand im November 2019 eine gemeinsame Ausstellung aller Blaufärberwerkstätten Europas statt. „Das war eine großartige Sache, denn nur noch wenige Familien betreiben dieses Handwerk. Wir fühlten uns dabei in unserem Bestreben bestätigt, die Tradition zu bewahren und an die kommenden Generationen weiterzugeben“, beschreibt Ildikó sichtlich bewegt ihre damaligen Eindrücke.

Nach den schwierigen Pandemiejahren ist das Blaufärberehepaar wieder viel unterwegs. So waren sie zum Beispiel im Dezember zu einer Ausstellung des polnischen Kulturinstitutes in Krakau eingeladen. Des Weiteren nahmen sie am Adventmarkt des Collegium Hungaricum teil, wo sie auch einen Workshop für Kinder abhielten.

Auch wenn das rührige Handwerkerpaar großen Wert auf die Pflege von Tradition und Brauchtum legt, sind sie offen für Neuerungen: Einerseits arbeiten sie daran, bestimmte Arbeitsschritte maschinell zu vereinfachen, um somit ihre Effektivität und Flexibilität zu erhöhen. Andererseits scheuen sie sich nicht, einen Abstecher in die Modewelt zu machen: Dieses Jahr entstand eine spannende Kooperation mit dem Modelabel Sugarbird, das eine äußerst erfolgreiche Kollektion auf den Markt brachte, alles in dem markanten Blau mit den traditionellen Ornamenten der Győrer Blaufärberwerkstatt.

Schwierigere Rahmenbedingungen

Was mich noch bewegt, ist die Frage, ob auch das Blaufärberhandwerk unter den Auswirkungen des Ukraine-Krieges zu leiden hat. „Ja, natürlich geht das auch an uns nicht spurlos vorbei. Textilien müssen wir jetzt anstatt aus Russland aus Tschechien und anderen Ländern beziehen. Indigo ist auch relativ schwierig zu bekommen, all das erfordert Vorausplanung und Flexibilität. Die hohen Energie- und Transportkosten sind selbstverständlich ebenfalls belastend.“

Nach ihren Zukunftsplänen gefragt, zeigen mir Ildikó und Zsolt das Nachbargebäude, das sie vor kurzem erworben haben und wo sie einen großen Traum verwirklichen möchten. „Im Lauf der vergangenen Jahre hat sich gezeigt, dass sehr viele Menschen daran interessiert sind, ein altes Handwerk näher kennenzulernen. Wir möchten in diesem Haus eine internationale Begegnungsstätte schaffen, wo Interessenten gemeinsam lernen und wirken können.“

Außer einer Lehrwerkstatt sind dort auch Gästezimmer geplant, damit Teilnehmer im Bedarfsfall übernachten können. In den Sommermonaten organisierten die Blaufärber auch bisher schon Workshops für kleinere Gruppen. In Zukunft könnten sie dann auch größere beziehungsweise mehrere Gruppen betreuen, denn sie betrachten es als ihre Mission, das traditionelle Blaufärberhandwerk in weiteren Kreisen bekanntzumachen und die Weitergabe von althergebrachten Mustern und Ornamenten sicherzustellen.

Weitere Informationen: gyorikekfesto.hu

Weitere Fotos in unserer Galerie.

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