Kinderbuch spaltet die ungarische Öffentlichkeit
Gehört Märchenland wirklich allen?
Ein vor Männlichkeit strotzender Prinz, eine zart besaitete Prinzessin, deren Haut bevorzugt weiß wie Schnee ist – so sehen die Protagonisten in vielen europäischen Volksmärchen aus. Auch Disney weicht, trotz deutlicher Versuche in den vergangenen Jahren, von diesem altbewährten Bild kaum ab. Dass das bei Weitem nicht mehr der Vielfalt unserer heutigen Gesellschaft Rechnung trägt, dürfte unabhängig vom jeweiligen Weltbild des Betrachters jedem klar sein.
Projektkoordinatorin Dorottya Rédai: „Wir wollten ein breites Spektrum abbilden“
„Meseország mindenkié“ will ein Märchenbuch sein, das diesen Umstand ändert. Die Helden dieses Buches, dessen Titel so viel wie „Märchenland gehört allen“ bedeutet, entspringen nicht unbedingt der Mehrheitsgesellschaft, sie entsprechen nicht der „Norm“, sind nicht unbedingt Teil des Mainstreams. „Wir wollten ein breites Spektrum abbilden“, erzählt Projektkoordinatorin Dorottya Rédai. „Die meisten Geschichten im Buch spielen im Heute, es gibt Roma, behinderte Menschen, sexuelle Minderheiten und alles mögliche, sodass Kinder auch andere Helden als die üblichen finden können.“ Daneben werden aber auch Alter, Armut, Adoption und sogar häusliche Gewalt in kindgerechter Weise thematisiert.
Insgesamt 17 verschiedene Autoren, manche Laien, andere professionelle und bekannte Kinderbuchautoren, wie etwa Judit B. Tóth, Zoltán Csehy, Petra Finy oder Dóra Gemesi, beteiligten sich mit ihren Geschichten an dem Projekt. Vielen der Texte liegen klassische europäische und ungarische Erzählungen wie Aschenputtel oder Pöttyös Panni (dt.: Pünktchen-Panni) zugrunde. Das im Stile traditioneller Märchenbücher illustrierte Cover sowie die meist ganzseitigen Illustrationen im Inneren des Buches stammen aus der Feder von Lilla Bölecz. Das Buch erschien im Eigenverlag von Labrisz, einem Verein, der sich mit Belangen der lesbischen Community in Ungarn beschäftigt.
Dóra Dúró: Angriff auf die ungarische Kultur
Die Crux: Einige Ungarn sehen ihre Werte durch lesbische Prinzessinnen und Transgender-Drachentöter, wie sie auch im Buch vorkommen, bedroht. Dóra Dúró von der rechtsextremen ungarischen Partei Mi Hazánk (dt.: Unsere Heimat) glaubt darin sogar „einen Angriff auf die ungarische Kultur“ zu erkennen. Auf einer Pressekonferenz kurz nach der Veröffentlichung von „Meseország mindenkié“ bezeichnete die Politikerin das Werk als „homosexuelle Propaganda“. Sie riss daraufhin Seiten aus dem Buch und ließ sie anschließend durch einen Papierschredder laufen.
Die demonstrative Zerstörung des Buches löste bei der Ungarischen Vereinigung der Buchverleger und -händler (MKKE) sowie bei vielen ungarischen Prominenten und Kulturschaffenden einen Aufschrei der Empörung aus. Einige paraphrasierten Zeilen des deutschen Dichters Heinrich Heine und prophezeiten: Wo es Aggression gegen Bücher gibt, folgen schließlich Aggressionen gegen Menschen.
In einer öffentlichen Erklärung verurteilte die MKKE Dúrós Verhalten und drückte ihren Schock aus, dass „eine Abgeordnete des ungarischen Parlaments ein Buch öffentlich zerstört – einfach weil sie mit dessen Inhalt nicht einverstanden ist.“ Laut der MKKE sei es zwar für einen Politiker durchaus legitim, Bücher zu kritisieren, auch vor breiter Öffentlichkeit, doch: „Die Zerstörung von Büchern für politische Zwecke ist eine der beschämendsten historischen Erinnerungen in Ungarn und Europa.“
Einen gewissen Rückhalt erhielt Dúró dagegen von Ministerpräsident Viktor Orbán. Dieser äußerte sich am vergangenen Sonntag im Morgenprogramm des Kossuth-Radios über das Kinderbuch. In Bezug auf die darin porträtierte Homosexualität äußerte er: „Die Ungarn sind gegenüber diesem Phänomen geduldig.“ Er betonte im selben Atemzug jedoch, dass es dabei eine „rote Linie“ gebe und fügte dem hinzu: „Lasst unsere Kinder in Ruhe!“
Durch Negativwerbung auf Platz 1
Derweil eilten zahlreiche Menschen in die Buchläden, um sich das „Skandalbuch“ zu kaufen – aus Neugier und um so ihre Solidarität zu zeigen. Die erste Auflage des Buches war bereits wenige Tage nach Dúrós Aktion restlos ausverkauft. Der Online-Buchhändler book24.hu listet „Meseország mindenkié“ auf Platz 1 der ungarischen Bestsellerliste. Ein Erfolg, der kurioserweise gerade der Negativwerbung rechter Akteure zuzuschreiben ist.
Dem konnte auch eine Online-Petition auf der rechtskonservativen Plattform Citizen GO keinen Abbruch tun. Diese richtete sich an die entsprechenden Verkaufsstellen mit der Bitte, das Buch aus dem Sortiment zu nehmen. Laut Citizen GO konnten bis zum Mittwochmorgen bereits rund 85.000 Unterschriften für das Anliegen gesammelt werden. Die Kinderbuchhandlung Pagony, einer der größten Anbieter des Buches, kommentierte den Aufruf aber wie folgt: „Wir glauben, dass alle Menschen gleich sind und jeder die gleiche Behandlung verdient. Dazu stehen wir zu allen Zeiten. (…) Bei der Entscheidung, welches Buch wir verkaufen und welches nicht, geht es nicht um weltanschauliche oder ideologische Überlegungen. Wir glauben, dass unsere Kunden in der Lage sind, verantwortungsvolle Entscheidungen darüber zu treffen, was sie für ihre Kinder als wichtig, wünschenswert und erschwinglich erachten, wenn sie aus den Angeboten unserer Filialen auswählen.“
„Meseország mindenkié“ richtet sich an diejenigen, die die Vielfalt der Welt akzeptieren und sie willkommen heißen. Für alle anderen besteht kein Kaufzwang. Dass so etwas im heutigen Ungarn trotzdem für derartigen Zwist sorgen kann, sagt weniger über die skandalöse Natur des Kinderbuches aus, als vielmehr über die immer größer werdenden Gräben zwischen zwei gesellschaftlichen Lagern: jenen, die am „Es war einmal“ einer, wie sie glauben, naturgegebenen Ordnung festhalten, und denen, die glauben, dass sich eine solche Homogenität weder erzwingen lässt noch wünschenswert ist.