Kino in Pandemiezeiten
Erste ungarische Online-Filmpremiere
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Statt über die Leinwand eines Multiplex flackerten die Anfangsszenen von „Békeidő“, dem neunten Werk des ungarischen Regisseurs Szabolcs Hajdu, am 23. April über die Bildschirme von Rechnern, Laptops und Smart-TVs in Ungarn und Rumänien. Als erster ungarischer Spielfilm überhaupt feierte das Werk seine Premiere auf der Videoplattform Vimeo. Damit reagieren Hajdu und sein Team auf die anhaltende Schließung von Kinos im ganzen Land, die zur Verschiebung zahlreicher Spielfilmveröffentlichungen geführt hat.
„Natürlich ist das Filmschauen auch für uns etwas, das wir lieber in Gemeinschaft tun, aber wir hatten das Gefühl, dass wir mit der Veröffentlichung des Films zum jetzigen Zeitpunkt den Menschen helfen können, diese schwierige Zeit sinnvoll und anregend zu füllen“, heißt es in einer Pressemitteilung der Filmproduktion.
In „Békeidő“ führt der 1972 in Debrecen geborene Filmemacher gleich mehrere mehr oder minder lose verbundene Einzelhandlungen zusammen. Die vier unterschiedlichen Erzählstränge behandeln Themen wie Dominanz, Gewalt und Verletzlichkeit in verschiedenen zwischenmenschlichen Kontexten. Die Handlung entfaltet sich über Nacht und beleuchtet den Konflikt eines Pfarrers mit seiner Familie, die Erziehungsprobleme eines politischen Aktivisten, die Ehekrise eines Schauspielers und seiner Frau sowie die Beziehung einer bekannten Theaterregisseurin zu ihrem jungen Protegé. Typisch für Hajdus filmisches Schaffen überschreitet „Békeidő“ dabei immer wieder die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie. Viele Filme des Ungarn lassen sich in das Genre des Magischen Realismus einordnen. Dabei verarbeitet er immer wieder die Härten des Alltagslebens in Osteuropa. Statt mit der großen Politik beschäftigt sich Hajdu dabei stets mit Einzelschicksalen, seine Geschichten folgen meist den Herzensangelegenheiten seiner Protagonisten.
„Békeidő“ entstand im Rahmen eines Workshops für angehende Filmemacher in Ungarn und Rumänien. Dabei konnten die Studierenden unter Anleitung und mithilfe einer erfahrenen Crew praktische Erfahrungen in der Produktion eines Spielfilmes sammeln. Besetzt wurde das Filmprojekt zumal mit professionellen Darstellern, darunter Szablocs Hajdus Ehefrau Orsolya Török-Illyés, die in so gut wie allen seinen Werken den Part der weiblichen Hauptrolle übernimmt. Daneben sind auch Lilla Sárosdi und Árpád Schilling zu sehen, die dem ungarischen Publikum vor allem aus dem renommierten Krétakör-Theaterensemble bekannt sein dürften. Auch Hajdu selbst ist, wie in schon vielen seiner früheren Filme, vor der Kamera zu sehen.
Realisiert wurde das Projekt in Kooperation mit der Produktionsfirma Látókép sowie dem ungarisch-rumänischen Filmverband Filmtett in Kolozsvár. Als Produzenten konnte man zusätzlich auch die Filmgröße Jim Stark (Coffee and Cigarettes, Down by Law, Night on Earth) gewinnen.
Wie bereits bei seinem letzten Film, „Ernelláék Farkaséknál“ (dt.: „Ernellas bei den Farkas’), der 2016 mit dem Hauptpreis des Internationalen Filmfestivals von Karlovy Vary ausgezeichnet wurde, arbeitete „Békeidő“ mit einem relativ kleinen Budget. Die nötigen Mittel bezog der Film aus privaten Quellen und unabhängigen Filmfonds.
Wer sich das Werk anschauen möchte, kann dies gegen eine erschwingliche Leihgebühr auf Vimeo tun. Dazu muss man sich zunächst kostenlos auf der Online-Plattfom registrieren. Der Film steht in ungarischer Originalsprache mit optionalen rumänischen oder englischen Untertiteln zur Verfügung.
Interview mit Regisseur Szabolcs Hajdú
„Ich liebe es, zu experimentieren“
Der ungarische Titel des Films lautet „Békeidő“, zu Deutsch „Friedenszeit“. Warum haben Sie sich für diesen Titel entschieden?
Das Konzept der „Friedenszeit“ hat mich schon länger beschäftigt. 2012 habe ich unter demselben Titel bereits ein Theaterstück im rumänischen Temesvár auf die Bühne gebracht. Obwohl dieses nichts mit dem Film, der jetzt Premiere feiert, zu tun hat, gibt es dennoch Querverbindungen. Beide Werke sind Teil eines Gedankenprozesses: Was bedeutet es, in Zeiten des Friedens zu leben.
Ich bin in Friedenszeiten aufgewachsen, genau wie meine Eltern. Einzig meine Großeltern haben einen Krieg durchlebt. Ich wollte beleuchten, was das für unser alltägliches Leben bedeutet, während auf jedem Level der Gesellschaft, selbst in den kleinsten Kreisen trotzdem Konflikte ausgetragen werden. Die Schärfe dieser Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ist, so empfinde ich es, in den letzten Jahren auf ein unerträgliches Maß angestiegen. Das beeinflusst alles. Im Film geht es nicht nur um die Politik, sondern auch um Konflikte in Beziehungen und in anderen Bereichen des Alltags.
Diese Atmosphäre der Anspannung haben wir versucht, auch im Film zu reproduzieren.
Eine Periode des Friedens lässt sich immer nur in der Retrospektive und etwa in Abgrenzung zu Kriegszeiten definieren. Viele Politiker sprechen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Krise von Krieg. Gibt das Ihrem Film eine ganz neue Bedeutung?
Das ist wirklich eine sehr merkwürdige Fügung des Schicksals. Als wir uns den Titel ausgedacht haben, war noch keine Rede von diesem Virus, aber natürlich lassen die aktuellen Vorkommnisse den Film in einem neuen Licht erscheinen. Eigentlich spielt die Handlung in der Gegenwart, die aus jetziger Sicht aber natürlich bereits der Vergangenheit angehört und die wir vom heutigen Standpunkt aus gesehen tatsächlich als eine Periode des Friedens bezeichnen können. Man muss heute bereits mit regelrechter Nostalgie auf diese Zeit zurückblicken. Damals, als wir noch in den Laden gehen konnten, ohne Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, als wir noch ein normales Leben führen und Freunde treffen konnten. In diesem Sinne macht die Pandemie den Film noch interessanter.
Haben Sie sich deshalb auch dafür entschieden, „Békeidő“ trotz der widrigen Umstände bereits jetzt zu veröffentlichen? Wann sollte der Film ursprünglich Premiere feiern?
Für gewöhnlich versuchen Filmschaffende ihre Werke im eigenen Land erst auf den Markt zu bringen, nachdem sie bereits auf einem der großen internationalen Filmfestivals Premiere gefeiert haben. Genauso hatten wir es auch geplant. Aber in diesem Jahr fallen viele Festivals wie etwa Cannes oder auch die Filmfestspiele in Karlovy Vary aufgrund der Pandemie aus.
Natürlich hätten wir auch noch bis nächstes Jahr warten können, aber dann wird es sicherlich eine Vielzahl an Produktionen geben, die sich bewerben, schließlich werden all die Filme, die jetzt in Zeiten von Corona nicht ins Kino kommen konnten, spätestens dann Premiere feiern.
Wir hatten Angst, dass unser kleiner, unabhängiger Film in der Menge untergehen würde. Daher dachten wir, es wäre das Beste, bereits jetzt mit der Premiere an den Start zu gehen.
Außerdem liebe ich es, zu experimentieren. Ich probiere gerne Dinge aus, die noch keiner vor mir versucht hat. In Ungarn hat, denke ich, noch nie ein Kinofilm seine Premiere im Internet gefeiert. Wir versuchen, aus der Situation, in die uns dieses Virus gebracht hat, das Beste zu machen.
Bereits mit meinem letzten Film „Ernelláék Farkaséknál“ haben wir viel experimentiert. So haben wir die Filmvorstellungen damals beispielsweise zu den Leuten nach Hause gebracht. Mit der Online-Premiere sind wir nun noch einen Schritt weitergegangen.
Wird es bei den Online-Vorstellungen ein Q & A geben oder wird das Publikum irgendeine andere Möglichkeit haben, mit den Filmemachern in Interaktion zu treten?
Wir denken darüber nach. Im Moment geschieht alles aber so schnell, dass wir nur darum bemüht sind, überhaupt noch mitzuhalten. Wir haben kein großes Team, es gibt nur wenige Mitarbeiter und wir versuchen, alles im einfachen Rahmen zu halten.
Wie kann man den Film anschauen? Muss man sich ein Kinoticket besorgen?
Es ist relativ simpel: Nachdem man sich auf Vimeo registriert hat, kann man sich den Film für einen Zeitraum von 24 Stunden auf der Plattform ausleihen. Die Gebühr, die man dafür zahlt, ist sogar niedriger, als der Preis eines Kinotickets. Verfügbar ist der Film online mit seiner Premiere ab dem 23. April.
Die Geschichten, um die es in Ihrem Werk geht, haben Sie ursprünglich für einen Workshop geschrieben. Wieso haben Sie sich dafür entschieden, gerade daraus einen Film zu machen?
Ich plane meine Filmprojekte niemals all zu sehr im Voraus. Meistens sieht es so aus, dass in meinem Leben und in der Welt viele Dinge geschehen, die sich nach und nach verdichten. Manchmal treffe ich dann auch noch Leute, von denen ich denke, wenn man die in eine solche Konstellation hineinwirft, dann wäre das ein toller Film. Dasselbe ist auch bei „Békeidő“ passiert.
Die Schauspieler habe ich bei einem Workshop getroffen, wir haben eine Zeit lang gemeinsam geprobt. Währenddessen hat sich in der ungarischen Politik viel getan und auch in meinem Privatleben gab es einige Entwicklungen, und da habe ich angefangen, all das zu einer Geschichte zu vermengen. So ist dann daraus ein Film geworden.
Für mich sind die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, sehr wichtig. Es ist für mich unerlässlich, an sie zu glauben – als Schauspieler und auch als Menschen. So war das auch hier. Ich habe diese Leute getroffen, begonnen, an sie zu glauben und Geschichten für sie geschrieben. Deshalb brauchten wir auch kein Casting, weil die Rollen jedem der Darsteller quasi auf den Leib geschnitten sind.
Sie haben erwähnt, wie wichtig auch politische Ereignisse für Ihren Schaffensprozess sind. Welche Rolle spielt die Politik in diesem Film?
In den Geschichten geht es hauptsächlich um intime, zwischenmenschliche Beziehungen. Aber natürlich spielt hier auch die Politik eine Rolle – genau so wie in unser aller Leben.
Dies ist bereits Ihr zweiter Film, den Sie ohne jegliche staatliche Subventionen produzieren. Warum haben Sie sich auch diesmal nicht um irgendwelche Fördermittel beworben?
Ich hatte das Gefühl, es ist nicht die richtige Zeit dafür. Ich dachte mir, dass sie diesen Film sowieso nicht unterstützen würden. Deshalb wollte ich gar nicht erst die Zeit und Energie investieren, die es kostet, durch die ganze Prozedur einer solchen Bewerbung zu gehen. Außerdem wollte ich nicht in eine solche Situation wie György Pálfy geraten, in der wir darauf hoffen, dass das Nationale Filminstitut uns unterstützen wird, vielleicht sogar Geld für die Vorproduktion gibt, nur um das Ganze dann abzusagen. Kurz: Ich habe mich nicht beworben, um mir diesen Ärger zu ersparen. In der Zeit, die so etwas kostet, kann man den Film auch einfach fertigstellen.
Das soll jedoch nicht heißen, dass ich mir nicht vorstellen könnte, mich in der Zukunft für eine Förderung durch das Nationale Filminstitut zu bewerben, solange sie mir die nötigen Freiheiten lassen.
Doch für dieses Projekt haben wir unser Budget stattdessen aus einer Vielzahl unabhängiger Fördertöpfe zusammengestellt.
Es ist bereits der zweite Film, für den Sie mit Jim Stark zusammenarbeiten, der viele Filme von Jim Jarmusch produziert hat. Wie lief die Zusammenarbeit mit ihm?
Jim Stark ist ein alter Freund. Wir kennen uns bereits seit mehr als zehn Jahren und haben eine gute Beziehung zueinander. Er ist ein sehr entspannter Typ mit einer erstaunlichen Gabe, ganz unterschiedliche Menschen zu koordinieren – er ist, was man im Filmgeschäft einen Kuppler nennen kann. Zudem hat er ein gutes Händchen dabei, sich die Filme herauszupicken, in die er investieren möchte.
Er ist wirklich eine große Unterstützung. Als Regisseur hat er mir absolute Freiheit gegeben, aber wo nötig, hat er auch seine kreativen Ideen einfließen lassen. Er ist oft ans Set gekommen und war da, um uns zu unterstützen.
Der Film wird vorerst nur von Ungarn und Rumänien aus im Internet erreichbar sein. Welche Pläne haben Sie für die Premiere in anderen Ländern? Wollen Sie hier noch auf ein Debüt vor einem größeren Publikum, etwa bei einem der internationalen Festivals warten?
Wir denken noch darüber nach. Derzeit zeigen wir den Film nur in Ungarn und Rumänien, weil wir uns für viele der großen Filmfestspiele disqualifizieren würden, wenn der Film bereits international angelaufen wäre. Die Festivals rühmen sich gerne damit, Weltpremieren oder zumindest internationale Premieren im Programm zu haben. Natürlich werden wir erstmal sehen müssen, wie sich die ganze Situation entwickelt. Wenn der Lockdown noch lange anhält, werden wir wahrscheinlich einfach damit beginnen, den Film auch weltweit zu zeigen.